Mircea Geoană: „Dieses ‚Erdbeben’ hat uns viele Chancen eröffnet“

AHK-Debatte über Rumäniens Rolle für Europa vor geopolitischen Veränderungen und einer industriellen Revolution

Mircea Geoană Foto: Nina May

AHK-Debatte über Rumäniens Rolle für Europa vor geopolitischen Veränderungen und einer industriellen Revolution / Von Nina MayRumänien hat große Entwicklungsschancen - dank seiner geografischen Lage und im geopolitischen Kontext, aber auch, weil es über einen ausgewogenen Energiemix verfügt, der energiekonsumierende Großindustrie aus anderen Ländern anzuziehen vermag. Dies war die Hauptaussage der Teilnehmer an der von der deutsch-rumänischen Handelskammer (AHK) zum Anlass des monatlichen Mitgliedertreffens initiierten Debatte „Geopolitische Veränderungen in Südosteuropa und ihre Bedeutung für die Geschäftswelt“. Als Keynote-Speaker war der stellvertretende Generalsekretär der NATO, Mircea Geoană, eingeladen. Als Panel-Teilnehmer diskutierten, moderiert von AHK-Generaldirektor Sebsatian Metz, neben Geoană noch der AHK-Präsident und Generaldirektor von BASF Rumänien, Andreas Lier, der Gesandte der deutschen Botschaft in Bukarest, Christian Plate, sowie die Generaldirektoren des Energiekonzerns E.ON Romania, Volker Raffel, und von Siemens Romania, Daniel Barciuc.

Große Chancen für Investoren in Südosteuropa ergeben sich aufgrund der geopolitischen Veränderungen, ausgelöst durch den Ukraine-Krieg – aber auch eine wichtige Rolle für Rumänien bei der Minimierung der negativen Auswirkungen derselben, erklärt einleitend AHK-Präsident Lier. Über diese neue Rolle Rumäniens wolle man nach der Rede von Geoană diskutieren, regte Metz die Teilnehmer an.

In seinem Buch „Bătălia pentru viitorul României. Gândurile unui român la vârful NATO“ (Kampf für die Zukunft Rumäniens, Gedanken eines Rumänen an der Spitze der NATO) habe er bereits eine „offensichtliche Wahrheit“ verkündet, erklärt Geoană: Das bisherige Wirtschaftsmodell für Rumänien, basierend auf billiger Arbeitskraft, habe sein Limit erreicht bzw.  überschritten. Die „Zeitenwende“- neues Modewort der deutschen Presse - habe auch Rumänien erfasst. „Der Schwerpunkt der Europäischen Union verlagert sich ostwärts“, zitiert er den deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz, der erst letztes Wochenende in Bukarest auch mit Mitgliedern der AKH zusammengetroffen war. „Das ist eine Realität“, so Geoană, „bei der sich nur die Frage stellt, ob sich diese Transformation auch als Wirtschaftswachstum niederschlägt.

Industrielle Revolution fordert Partnerschaften

Wir stehen vor einer neuen industriellen Revolution - Level 5.0 nach 4.0, vergleicht der NATO-Spitzenmann die Lage mit einem Computersystem. Und: Es sei der Moment gekommen, an dem auch wir in Rumänien „eine Art deutschen Mittelstand“ (KMUs) erreichen können, indem wir „mit unserem wichtigsten Partner“ eine „Bruderschaft in neuem Stil“ eingehen - ganz im Sinne der AHK mit ihrem Slogan „Ihr Partner für geschäftlichen Erfolg“. 

Die Gemeinschaft der deutsch-rumänischen Unternehmer bezeichnete er als „unentbehrlich“ für dieses Land; „Rumänien braucht ausländisches Kapital, Investitionen und Technologietransfer“. An die deutsche Industrie richtete er den Apell, sich in Rumänien Partner, nicht nur Märkte zu suchen, nicht an Konkurrenz zu denken, sondern an Synergie. Dem rumänischen Staat empfahl er fiskale Begünstigungen für solche Partnerschaften in Forschung, Entwicklung, Innovation und IT – und vor allem, „nicht mehr die Spielregeln während des Spiels zu ändern“. Nichts schade der Geschäftswelt mehr als Ungewissheit und Unvorhersehbarkeit. 

Besonders die rumänische Verteidigungsindustrie müsse mit vereinten Kräften wieder aufgebaut werden, auch mit der Privatwirtschaft. Tschechien habe dies nach der Wende erfolgreich gemeistert, sei inzwischen Lieferant Nummer Eins für Munition in Europa. „Ich will schneller sehen, wie Rheinmetall Schießpulver in Fogarasch herstellt“, sagt Geoană und erklärt, Patriotismus in der Wirtschaft sei zwar normal, aber Nationalismus definitiv schädlich. Beispiel: „Rumänien spricht seit 20 Jahren von Energieunabhängigkeit, hat es aber bis heute nicht umsetzen können. Wir gewinnen bis heute kein Gas aus dem Schwarzen Meer.“
Noch nie habe es eine derart tiefgehende globale Transformation wie jetzt gegeben, warnt Geoană. Keine Regierung dieser Welt, auch nicht die Privatindustrie, könne diese Transformation alleine stemmen – die richtigen Vertragspartner seien daher essenziell. Alleingänge bergen nur das Risiko der Schwäche.

Die Schlüsselbereiche der Transformation

Auf die Frage, welche Wirtschaftszweige bei der Transformation die größte Rolle spielen, verwies Geoană zu allererst auf IT: „Ich sehe bei der NATO täglich, welche Bedeutung dieser Sektor einnimmt.“ Weiter nehme der Wettbewerb im Weltall deutlich an Fahrt auf. Doch auch der Klimawandel sei nicht zu vernachlässigen. Nicht zuletzt betrifft der geo-politische Wandel, ausgelöst durch den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine, auch die 
Energieversorgung. Bei der „Industriellen Revolution 5.0“, bei der sich mit dem globalen Auftreten aggressiver Staatenlenker nicht nur in Osteuropa Industrie und Regierungen, Gesellschaft und Demokratie „in nie gesehenem Ausmaß verändern werden“ – eine ähnliche Zeitenwende wie Deutschland erlebe derzeit übrigens auch Japan – spielen die Energieressourcen im Schwarzmeerraum eine wichtige Rolle. 

Geoană erwähnte aber auch die Notwendigkeit einer Verlagerung von Versorgungsketten für kritische Technologien als Charakteristikum für die Transformation. Nur dürfe man die Abhängigkeit von Russland nicht mit einer Abhängigkeit von China ersetzen. Schon von der Pandemie habe man gelernt, wie wichtig stabile Versorgungsketten, wirtschaftliche Sicherheit und Cybersicherheit seien. 

Christian Plate bekräftigt aus Sicht der deutschen Botschaft: „Wir müssen bei der Zeitenwende stärker an Südosteuropa und die Schwarzmeerregion anknüpfen und starke politische, kulturelle und wirtschaftliche Bindungen eingehen.“ „Wir sprechen über einen totalen globalen Policy-Shift“ in einer Zeit zunehmender Kriegsverbrechen und Verstöße gegen internationale Gesetze. Man müsse sich daher stärker an Partnerschaften innerhalb der EU orientieren, auch mit Rumänien. „Obwohl die Beziehungen zwischen Deutschland und Rumänien kaum besser werden können“, fügte er an. Potenzial zum Ausbau gebe es dennoch, etwa in den Bereichen grüne Energien, erneuerbare Energien, Solarenergie und Gas. Aber auch die Verteidigungsindustrie berge ein riesiges Potenzial. 

Rumäniens Chancen als Energie-Hub der EU

AHK-Präsident Lier stellt die Frage in den Raum, ob Rumänien eine Rolle als Energie-Hub für die EU spielen könne. „Ich habe noch nie so eine herausfordernde Zeit erlebt wie jetzt“, sagt er. „Aber ich sehe für Rumänien mehr Chancen als Herausforderungen.“ Deutsche Firmen orientierten sich massenhaft ostwärts. „Deutschland hat viermal so hohe Energiepreise wie die USA“, erläutert er - und Rumänien könne Energieunternehmen aufnehmen. „Wir müssen dann aber auch Investitionen fördern.“ 

Essenziell sei dabei die Interkonnektivität zwischen Rumänien und der EU. Nicht nur technisch, auch Gesetze müssten angepasst und ein Rechtsrahmen geschaffen werden. Etwa so, dass man grüne  Energie-Zertifikate in Rumänien produzieren und in Deutschland einlösen könne, nannte er als Beispiel. Aber auch in Bezug auf Resilienz von Versorgungsketten könne „Rumänien in der EU ein Champion werden“. Rumänien kann eine bedeutende Rolle spielen bei der Wettbewerbsfähigkeit der EU, betont Lier - und die AKH habe sehr viel getan, um den Ruf Rumäniens zu verbessern.

Auch E.ON CEO Raffel betont, Rumänien habe einen geopolitisch günstigen Standort und alle nötigen Ressourcen zur Herstellung von elektrischer Energie. Das Land könne, wenn es wolle, in der Region ein Energie-Hub werden. Aber dafür müsse auch die Infrastruktur geschaffen werden, der Markt müsse liberalisiert werden und sich für den europäischen Energiemarkt öffnen. Dringend müsse in Verteilernetze investiert werden, was ohnehin auch zur Umverteilung von erneuerbaren Energien nötig sei. Das System müsse auf mehreren Verteilerpunkten basieren, damit nicht im Zentrum ein einziges, vom Feind leicht angreifbares Kraftwerk stehe. 

Europa werde auch in Zukunft viel Energie konsumieren und daher auf alle Ressourcen zurückgreifen müssen, einschließlich auf Gas und Nuklearenergie, um unabhängig zu sein, insistierte Raffel. Rumänien mit seinen Gasvorkommen könne dies leisten. Deutschland sei vergleichsweise in der deutlich schwierigeren Lage wegen der Abhängigkeit von russischem Gas. „Meine Meinung: Wenn die Dinge richtig in Angriff genommen werden, wird Rumänien ein Energy-Hub in der Region. Rumänien kann eine große Entwicklung erleben – und die Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen erhöhen, indem es ihnen dieses Potenzial anbietet.“

Die Zukunft hängt von der Ukraine ab

Für die am 11. /12. Juni in Berlin stattfindende Konferenz zum Wiederaufbau der Ukraine legte Geoană der deutschen Botschaft nahe, so viele rumänische Unternehmen wie möglich einzuladen. Denn „die Zukunft in Europa hängt vom Erfolg der Ukraine ab!“ 

Auf die Frage, wie sicher Investitionen in der Ukraine seien, erklärte dieser, es gelte jetzt, Pessimismus zu vermeiden. „Wir alle müssen die Ukraine unterstützen und unseren Teil dazu beitragen. Wenn die Ukraine standhält, dann hat auch die Moldau eine Zukunft - und uns in Europa bleibt ein Krieg wahrscheinlich erspart“. Wenn nicht, dann werde die Moldau der nächste „leidtragende Staat“ sein... „und dann wir“. 

„Wir müssen dafür sorgen, dass die Ukraine eine stabile Wirtschaft hat – das ist auch der Grund, wa-rum wir ihren Luftraum schützen“, bekräftigt Geoană

. „Ein Teil des Getreidekorridors aus dem Hafen Odessa wird von uns geschützt.“

Auch seitens der Ukraine werden bereits Anpassungen an europäische Infrastruktur vorgenommen. Ein Beispiel: In der Region Czernowitz wird derzeit das sowjetische Schienensystem durch eines mit europäischer Breite ersetzt. 

„Wenn wir aber von NATO-Gebiet reden“, stellte er in Bezug auf die initiale Frage klar, „da ist Business auf jeden Fall sicher“! Doch Artikel 5 gilt eben nur für Mitglieder: „Deswegen haben sich Schweden und Finnland auch so beeilt, niemand hat sie in die NATO gerufen.“ 

Über die Wirkung der Sanktionen der EU gegen Russland befragt, meinte Geoană: Die Sanktionen hätten zwar nicht den erwarteten Effekt, aber das Land zahle auf lange Zeit dennoch einen sehr hohen Preis. Die westlichen Firmen hätten Russland verlassen - und mit ihnen viele qualifizierte Arbeitskräfte. Rund 350.000 eigene Leute sind als Soldaten gefallen.

Moldau – eine zweite historische Chance

Die Moldau habe nun zum zweiten Mal die historische Chance, sich Europa anzunähern - und wir haben „ein gesundes Interesse“ da-ran, betonte Geoană. „Maia Sandu setzt sich den Beitritt zur EU für 2030 zum Ziel – was auch unser Ziel sein sollte, genauso wie für den Beitritt der Ukraine.“ Dies habe auch der deutsche Kanzler auf seinem kürzlichen Besuch in Bukarest bekräftigt: Genau das habe er mit seinem Satz „EU moves east“ gemeint.

Die Moldau habe zwar eine schwache Wirtschaft, trotzdem „sollten wir mit Rumänien auch die Moldau als Hub für den Wiederaufbau der Ukraine fördern“, erklärt Geoană. Dies sei naheliegend wegen der geografischen Nähe, wegen der sprachlichen Kompatibilität und der riesigen Diaspora an Moldauern in Rumänien. „Die Moldau kann durch Rumänien vernetzter werden.“ Ziel sei sowohl die elektrische Ver-netzung, die der Verkehrs- und Transportinfrastruktur, aber auch die zwischen den Universitäten. 

In Bezug auf Digitalisierung merkte er an, die Moldau und die Ukraine hätten riesige Fortschritte gemacht und seien Rumänien weit voraus. Die Ukraine habe es geschafft, sogar während des Krieges, alle öffentlichen Dienstleistungen zu digitalisieren! 

„Innovatives Rumänien“ als Brand andenken

Siemens-Manager Barciuc pflichtete ihm bei: ein Schwerpunkt in Rumänien müsse die digitale Transformation sein, mit Fokus auf Innovation und Cybersicherheit. Statt auf unqualifizierte Niedriglohnarbeiter müsse man auf Training der hiesigen Partner und Kunden setzen, weswegen Siemens nicht nur ein umfassendes Trainingsprogramm mit über 200 Kooperationspartnern in Hermannstadt betreibe, sondern auch massiv in rumänische Universitäten investiert. 
„Je stärker die Bindungen der Länder, desto mehr geht die Kooperation in Richtung Hochtechnologie“, bemerkte auch Plate, „und das ist genau das, was hier gerade passiert.“

Geoană geht gedanklich noch weiter: „Wenn wir über das nationale Brand dieses Landes reden, dann müsste eines davon ‚Innovatives Rumänien‘ lauten. Ich bin sehr optimistisch für Rumänien: dieses ‚Erdbeben‘ hat uns viele Chancen eröffnet.“