Große Orchester auf der Bühne des George-Enescu-Festivals

Ein Interview mit Clara Marrero, Direktorin des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin

Das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin während eines Konzertes im Zuge des George-Enescu-Festivals 2021
Foto: Alex Damian

Die 25. Ausgabe des internationalen George-Enescu-Festivals begann am Samstag, den 28. August, trotz der durch die Pandemie verursachten Unsicherheiten und Komplikationen. Mit der Tradition, die größten Namen der klassischen Musik nach Bukarest zu bringen und Rumänien in den internationalen Kulturkreisen zu verankern, verspricht das Festival ein unvergessliches Erlebnis für Zuschauer und die etwa 3500 Künstler. Mit vier Wochen dauert das Festival länger als je zuvor, die letzte Aufführung findet am 26. September 2021 statt . Das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin beehrt das Publikum auch in diesem Jahr mit seiner Anwesenheit. Kompositionen von Anatol Vieru, Igor Strawinsky, Dmitri Schostakowitsch, Paul Hindemith erklangen unter dem Taktstock von Vladimir Jurowski im Sala Palatului in Bukarest am 31. August und dem 1. September. Für die Saison 2021/2022 hat das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin bereits ein vielfältiges internationales Programm angekündigt, das Musikliebhabern ein abwechslungsreiches Erlebnis bieten wird. Mehr zu kommenden Aufführungen des RSB, aber auch über dessen enge Mitarbeit mit dem George-Enescu-Festival und rumänischen Musikschaffenden erfahren wir in dem folgenden Gespräch zwischen der Direktorin Clara Marrero und ADZ-Redakteurin Irina Radu.

Viele Werke von George Enescu sind in Ihrem Repertoire präsent. Welche Werke spielt das Rundfunk-Sinfonieorchester am häufigsten?

Für das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin (RSB) gehört der große rumänische Komponist George Enescu zu den herausragenden Persönlichkeiten des Musiklebens des 20. Jahrhunderts. Er steht für uns auf Augenhöhe mit Zeitgenossen wie Strawinsky, Ravel, Schönberg, Bartók oder Martinu. Nicht zuletzt wegen der Zusammenarbeit des RSB mit Dirigenten wie Sergiu Celibidache (Chefdirigent 1945/1946), Emil Simon oder Horia Andreescu hat das Orchester stets Werke von George Enescu im Repertoire gehabt, allen voran natürlich die beiden Rumänischen Rhapsodien. In späteren Jahren trugen Peter Ruzicka (Sinfonie Nr. 4, 2018), Gabriel Bebețelea („Strigoi“, 2019) und Vladimir Jurowski (Sinfonie Nr. 3, 2019) zur Enescu-Pflege des RSB bei. Die Sinfonie Nr. 5 unter der Leitung von Vladimir Jurowski war für 2021 geplant, konnte jedoch wegen der Corona-Einschränkungen nicht aufgeführt werden, das wird zu einem späteren Zeitpunkt nachgeholt.

Wann fand die erste Aufführung des RSB beim George-Enescu-Festival statt?

Zum ersten Mal beim Festival zu Gast war das RSB im Jahre 2013. Damals dirigierte Marek Janowski eine konzertante Gesamtaufführung von Wagners Opernzyklus „Der Ring des Nibelungen“ an vier Abenden, wohl die erste, die bis dahin jemals in Rumänien stattgefunden hat. 2019 folgte das Gastspiel mit der Oper „Die Frau ohne Schatten“ von Richard Strauss unter der Leitung von Vladimir Jurowski sowie die Aufführung der Sinfonie Nr. 3 von George Enescu.

Am 31. August spielte RSB „Memorial“ von Anatol Vieru im Rahmen des George-Enescu-Festivals. Welche rumänischen Musikkompositionen hatte das RSB im Laufe der Jahre im Gesamtprogramm?

Zu nennen wäre hier die zum Beispiel die Sinfonie Nr. 4 von Wilhelm Georg Berger (1929-1993). Das epische Werk des siebenbürgischen Komponisten hat das RSB 2010 unter der Leitung von Horia Andreescu für CD aufgenommen. Die Entdeckung des sinfonischen Œuvres etwa von Anatol Vieru steht noch aus, soll aber nach der Begegnung mit „Memorial“ unbedingt stattfinden. Das ist der ausdrückliche Wunsch des RSB-Chefdirigenten Vladimir Jurowski.

Mit welchen rumänischen Dirigentinnen oder Dirigenten haben Sie bis dahin zusammengearbeitet?

Das waren Sergiu Celibidache, Emil Simon, Horia Andreescu, Gabriel Bebeselea sowie Sergiu Commissiona. Neben ihnen waren über die Jahrzehnte aber auch ausgezeichnete rumänische Solis-tinnen und Solisten zu Gast beim RSB, unter ihnen Radu Lupu, Mihaela Ursuleasa und Ruxandra Donose.

Berühmte Tonschöpfungen von Igor Strawinsky spielte das RSB am 1. September im Sala Palatului in Bukarest. Wie ist es Vladimir Jurowski gelungen, die gesamte Multimedia-Show für die Arbeiten von Igor Strawinsky zu gestalten?

Igor Strawinsky lebt im Bewusstsein der meisten Musikfreunde heute als Komponist der drei farbenprächtigen Ballette „L’Oiseau de feu“, „Petruschka“ und „Le Sacre du printemps“. Doch die Farbenpracht Strawinskys erschöpft sich nicht in diesen drei Werken – weder die klangliche noch die visuelle. Vladimir Jurowski ist es ein Herzensanliegen, auch andere Werke Strawinskys in das ihnen gebührende Licht zu rücken. Aus diesem Grunde hat er zahlreiche Ideen entwickelt, dem Publikum möglichst attraktive Brücken zu bauen zum Verstehen und Genießen der oft nicht sofort zugänglichen Musik von Igor Strawinsky. In Berlin waren es szenische Elemente, eine raffinierte Lichtregie und Moderationen durch Jurowski selbst, in Bukarest die eindrucksvollen Bilder von Carmen Lidia Vidu.

Hat RSB an weiteren Multimedia-Shows neben der mit Werken des russischen Komponisten Strawinsky teilgenommen?

Das Gebiet der visuellen Vermittlung von Konzertinhalten befindet sich noch ganz am Anfang. Möglicherweise wird es in Zukunft stark an Bedeutung gewinnen. Das RSB plant 2021/2022 zum ersten Mal eine multikulturelle und interdisziplinäre Reihe von Konzerten namens „Mensch, Musik!“, welche Orchestermusik für bisher wenig klassikaffines Publikum aufbereiten soll. Alle vier Konzertprogramme werden getragen durch ein außermusikalisches Motto, mit dem auf zentrale Themen unseres Zusammenlebens auf diesem Planeten hingewiesen werden soll. 

Aber auch ein Projekt zum Beispiel mit Musik von Alfred Schnittke ist geeignet, demnächst Grenzen des herkömmlichen Konzertformates zu überschreiten.

Adressieren Sie in Ihren Konzerten auch aktuelle Belange, wie z. B. das Thema der Klimakrise, die im Zusammenspiel mit Werken von Strawinsky aufgegriffen wurde?

Die eben genannten Konzerte „Mensch, Musik!“ kreisen um Themen wie Grenzen/Brücken, Zukunftswelten, Klimawandel, Wanderungen/Migration. Damit sind zentrale Themen angesprochen, die uns alle angehen und die in musikalischen Lebensäußerungen seit Anbeginn eine Rolle spielen, die oft genug jedoch nicht als solche wahrgenommen werden. Die Fähigkeit der Musik, ohne den Umweg über Worte oder Bilder direkt zum Herzen zu gelangen, nutzen verantwortungsvolle Musiker von jeher, um ihrer besonderen Rolle als Seismographen der sozialen Metamorphosen der Menschheit gerecht zu werden. Strawinsky ist da keine Ausnahme – ebensowenig wie Enescu.

Im Kammerkonzert „Auf und Nieder im 20. Jahrhundert“ werden am 12. Mai 2022 „Oktett für vier Violinen, zwei Violen und zwei Violoncelli C-Dur op.  7“ von George Enescu und „Quartett für das Ende der Zeit“ von Olivier Messiaen aufgeführt ...

In der Tat haben sich die Musikerinnen und Musiker des RSB für die Kammerkonzerte – welche sie inhaltlich selbst gestalten dürfen – auf die zentralen Themen der Saison 2021/2022 konzentriert. Neben mehreren Werken von Jelena Firssowa, Composer-in-residence des RSB 2021/2022, steht auch das gewaltige Oktett von George Enescu auf dem Programm der Kammermusikreihe. Seine orchestrale Dimension fungiert als ein – mehr als würdiger – Ersatz für die Sinfonie Nr. 5, die pandemiebedingt derzeit nicht aufgeführt werden kann. 

Demgegenüber verkörpert das Quartett von Messiaen ein trauriges Kapitel europäischer Geschichte – verbunden mit der eindringlichen Bitte, es in Zukunft besser zu machen. Musik hat immer dann ihre uneingeschränkte Existenzberechtigung, wenn sie gesellschaftlich relevant ist.

Beim RSB wurde 2002 auf Initiative der Freunde und Förderer des Orchesters die Orchesterakademie für Streicher gegründet. Was hat es damit auf sich?

Seit 2002 ermöglicht die Akademie Studierenden oder Absolventen der Fächer Violine, Viola, Violoncello und Kontrabass, die nicht älter sind als 26 Jahre, zwei Jahre lang Erfahrungen im Orchesterspiel zu sammeln. Dabei werden sie nicht nur vom Kollegenkreis unterstützt, sondern auch individuell von Mentoren betreut, um sie behutsam in den Alltag eines Orchestermusikers hineinwachsen zu lassen. 
Die Bewerbungen für die 13 Akademiestellen gehen aus vielen Ländern der Welt beim RSB ein. Die besten Bewerber qualifizieren sich in einem Probespiel als Stipendiaten der Akademie und bereichern das RSB bald darauf mit ihren Persönlichkeiten und ihrem Können. Sie absolvieren Proben, Aufnahmen und Konzerte wie ihre festangestellten Kollegen und erarbeiten sich so eine hervorragende Basis für ihr späteres Wirken als Berufsmusiker. Viele ehemalige Stipendiaten finden später im RSB oder in anderen namhaften Orchestern ihren festen Arbeitsplatz. Die Akademiezeit stellt für sie dabei einen wichtigen Schritt in Richtung Zukunft dar.

Welche sind die Highlights Ihres Programms in der kommenden Saison 2021/2022?

Das Hauptaugenmerk des RSB-Jahresprogrammes 2021/2022 liegt wie immer auf dem Kerngeschäft – den großen Sinfoniekonzerten in den beiden wichtigen Konzertsälen der deutschen Metropole Berlin: In der Philharmonie und im Konzerthaus. 

Gleichwohl ist die konkrete Programmplanung nicht ganz einfach, hält uns doch die Corona-Pandemie noch immer in Atem. Kleine Besetzungen auf der Bühne, große Abstände beim Spielen, verkürzte Konzerte sind nur einige der Unwägbarkeiten, die uns weiterhin beschäftigen. Deshalb haben wir für jedes „normal“ besetzte Sinfoniekonzert noch eine Variante vorbereitet, die inhaltlich dem ursprünglichen Programm so nahe wie möglich kommt.

Darüber hinaus gibt es zahlreiche Konzerte in anderen, oft ungewöhnlichen Formaten und Konstellationen sowie mit inspirierenden Partnern. Dazu gehören Mitte September 2021 die Teilnahme am Festival zum 90. Geburtstag des Hauses des Rundfunks in Berlin – des ältesten Rundfunkhauses und seinerzeit modernsten Konzert-saales der Welt, ein Sonderkonzert mit Kammermusik von Kurt Weill und Zeitgenossen Anfang Oktober zum 1700-jährigen Jubiläum jüdischen Lebens in Deutschland sowie im Sommer 2022 ein Open-Air-Konzert mit der isländischen Sängerin Björk in der 10.000 Zuhörer fassenden Waldbühne in Berlin. 

Was können Sie uns über die diesjährige, hybride Organisation der Jubiläumsausgabe des George Enescu-Festivals verraten?

Das Festival hat es wunderba-rerweise geschafft, trotz der Einschränkungen der Pandemie im Jahre 2021 stattzufinden. Und das mit einem Weltklasse-Programm in opulenterer und attraktiverer Weise denn je! 

Wir gratulieren den Verantwortlichen für das rundum gelungene Festival 2021 und sagen: Danke, dass wir dabei sein durften!