30 Jahre seit dem Fall der Berliner Mauer

ADZ-Gespräch mit dem Konsul der Bundesrepublik Deutschland in Temeswar, Ralf Krautkrämer (Teil I)

Konsul Ralf Krautkrämer: „Der Moment des Mauerfalls ist ein Moment des Nachdenkens“. Fotos: Zoltán Pázmány

Konsul Ralf Krautkrämer

Der 9. November 1989 ist ein historischer Tag. In der Nacht vom 9. auf den 10. November wurden erstmals die Grenz-übergänge an der Berliner Mauer geöffnet, anschließend auch die anderen Grenzübergänge zwischen der DDR und der Bundesrepublik Deutschland. Das Ende der deutschen Teilung wurde somit eingeläutet. In dem folgenden Gespräch erzählt der deutsche Konsul in Temeswar/Timișoara, Ralf Krautkrämer, wie er persönlich den Mauerfall erlebt hat und welche Bedeutung dieser entscheidende Wendepunkt in Europa heute hat. Das Interview führte ADZ-Redakteurin Raluca Nelepcu.

In wenigen Tagen werden 30 Jahre seit dem Fall der Berliner Mauer begangen. Was bedeutet dieser Moment des Mauerfalls für Sie persönlich?

Es ist ein Moment des Nachdenkens. Bis zum Mauerfall habe ich Geschichte eher als Beobachter und Leser von Geschichtsbüchern erlebt. Aber um die Zeit des Mauerfalls war deutlich zu spüren, wie es ist, mitten in den Geschehnissen zu stehen, die später ein wichtiger Teil der deutschen, ja sogar der europäischen Geschichte sein würden. Es war wirklich ein ganz anderes Wahrnehmen von Geschichte. Wenn Sie sich vorstellen, dass Sie das Gefühl haben, es geschieht etwas ganz Großes und sie erleben es mit, und nicht aus Büchern und Sekundärquellen! Ich selbst bin ja in dem Jahr geboren, in dem die Mauer errichtet wurde. Und unser Sohn ist in dem Jahr geboren, in dem die Mauer abgerissen wurde. Sie stutzen jetzt, weil ich das Wort „abgerissen“ sage. Ich habe es aber diesmal ganz bewusst so gesagt, denn die Mauer ist ja nicht gefallen, weil zum Beispiel das Material marode war oder weil sie in sich zusammengefallen ist, sondern sie wurde in einer friedlichen Revolution, teilweise mit Hammer und Meißel, eingerissen – die Bilder davon sind um die Welt gegangen. Aber dass es so friedlich blieb, das war sicher der Verdienst der damaligen Führungspersönlichkeiten, unter anderem war das Verhältnis von Kohl zu Gorbatschow sicher entscheidend, und wie mir zuletzt hier, in Temeswar, ein Journalist in diesem Zusammenhang sagte: „Persönliche Chemie ist stärker als ideologische Fesseln“. 

Sie haben erwähnt, dass Ihr Sohn in dem Jahr geboren wurde, als die Berliner Mauer abgerissen wurde. Wo waren Sie denn, als die Mauer fiel und wie haben Sie davon erfahren?

Wie das in unserem Diplomatenleben nun mal so ist, sind wir die meiste Zeit ja im Ausland und in jener Zeit, also 1989, war ich für Fragen der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit an der Deutschen Botschaft in Stockholm tätig. Auch dort konnten wir das Leid des Eisernen Vorhangs hautnah spüren. Ich erinnere mich, zum Beispiel, an eine Familie, die nachts über die Ostsee mit einem Segelboot nach Schweden geflüchtet ist. Für uns war sie natürlich eine deutsche Familie, und wir haben als Botschaft Ausweispapiere ausgestellt und Geld zur weiteren Reise nach Deutschland gegeben. Wir haben die Entwicklungen natürlich sehr genau verfolgt, aber das haben auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der DDR-Botschaft genauso getan. In dieser Stockholmer Zeit gab es auch gewisse Veränderungen, die man gespürt hat, wenn man davon ausgeht, dass zuvor kaum Kontakt zu DDR-Diplomaten stattfand. Sie müssen sich auch vorstellen, dass wir als Diplomaten nicht ohne Genehmigung überhaupt in ein Land des Ostblocks reisen und direkte Kontakte über den dienstlichen Punkt hinaus aufnehmen konnten – da war man schon sehr vorsichtig. Mein Counterpart der DDR-Botschaft zur damaligen Zeit in Stockholm rief mich um die Zeit des Mauerfalls an, und sagte, es wäre doch nett, wenn wir uns mal treffen könnten, seine Frau und er wollten uns gerne zu einem Abendessen einladen. Das war sehr spannend, ich habe mich rückversichert, ob das denn zulässig ist, und es war in Ordnung. Es war praktisch das erste Mal, dass man Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der DDR-Botschaft ein bisschen näher kennengelernt hat.

Es gibt in dem Zusammenhang noch ein paar andere Geschichten. Die Stadt Stockholm hat, zum Beispiel, ein Jahr vor dem Mauerfall ein Fußballturnier veranstaltet und mit guter Absicht beschlossen, die Fußballmannschaften der ost- und westdeutschen Botschaft in dieselbe Umkleidekabine zu stecken. Das hätten sie lieber mal nicht getan, denn es herrschte eisige Kälte, es gab keinen Kontakt und auch keinen persönlichen Austausch, das war schon ein bisschen traurig. Aber das war ein Jahr zuvor und danach hat sich einiges geändert.

Wie oft waren Sie vor der Wende in der DDR? Wie haben Sie die DDR empfunden? 

Es gehörte immer dazu, auch als die Hauptstadt noch in Bonn war, dass man regelmäßig auch nach Berlin reiste. Das war die Zeit des Eisernen Vorhangs, der Mauer, des Stacheldrahts. Und ich kann mich noch gut erinnern, dass wir damals in der Bernauer Straße standen, im westlichen Teil, und dort gab es eine Art Aussichtsgerüst, worauf man hochklettern und in den östlichen Teil hinüberblicken konnte. Die Straße, in die ich damals fast mit Tränen in den Augen hinüberblicken konnte, war die Schwedter Straße, die genau in die Bernauer Straße mündet, auch am Mauerpark. Lustigerweise haben wir viel später, 20 Jahre später, genau in dieser Schwedter Straße in unserer Zeit in Berlin gewohnt. Auch in dieser Zeit in Berlin haben wir doch gesehen, wie Deutschland zusammengewachsen ist. Gerade wenn Sie diesen Teil des Mauerparks sehen, wo vorher Niemandsland war und heute so viele Häuser stehen… 

Vielleicht können Sie mir einiges über eine solche Reise in die DDR erzählen...

Es war möglich, mit Genehmigung als Diplomaten in die DDR zu reisen. Das haben wir getan. Wir wussten, dass wir unter einer gewissen Beobachtung standen. Es gab den Zwangsumtausch, man musste DM damals in Ostmark umtauschen und dann sind die einen meistens in die Musikläden gegangen und haben sich günstig Schallplatten, Klassik, gekauft. Vor mir fuhr da auf einmal ein Taxi, und ich habe gedacht, na ja, Taxifahrer, die kennen sich immer am besten in der Stadt aus. Ich habe dem Mann gesagt, hier, ich habe so und soviel Geld, fahren Sie mich mal durch Ostberlin herum, solange es reicht, und dann bringen Sie mich wieder zurück. Das war für mich das erste Mal, dass ich die Stadt so gesehen habe, wie ein Taxifahrer und nicht ein Touristenführer sie einem zeigen würde, und das war hochspannend. 

Gab es etwas, was Ihnen besonders in Erinnerung geblieben ist?

Ja, vielleicht zwei Sachen. Zum einen hatten wir sicher auch ein stereotypes Bild, dass alles nur grau, eintönig und langweilig ist, aber wenn Sie nach Ostberlin gefahren sind, dann sind Sie relativ schnell am Alexanderplatz vorbeigekommen. Der Fernsehturm am Alexanderplatz ist ein Wahrzeichen für ganz Berlin und ich fand das beeindruckend. Aber es war kein natürliches Verhältnis. Man wusste, man ist beobachtet, man kann sich nicht so mit der Bevölkerung unterhalten, wie man das viel später tat.
Dann war es der damalige Grenzübergang für die Alliierten, der Checkpoint Charlie an der Friedrichstraße, eine Grenze, die mitten durch die Straße geht. Die Nachbildung kann man jetzt dort noch sehen. Später, während meiner Zeit in Budapest, wurde dort dieser Grenzübergang für den Film „Spy Game“ mit Brad Pitt nachgestellt. Die Filmcrew hatte uns sogar um Beratung gebeten, aber das ist eine andere Geschichte.

Hatte man Angst, wenn man nach Ostberlin fuhr? Mit welchen Gefühlen ging man vom Westen in den Osten?

Wenn Sie Gefühle ansprechen, ist sicher erstmal Neugierde da. Wie sieht das denn dort aus? Sind das genauso Deutsche im Osten wie im Westen? Wie sind sie angezogen? usw. Aber es war auch große Traurigkeit, muss man sagen. Die Hoffnung war immer da. Wird sich was ändern? Diese Hoffnung keimte auf. 
Ich denke, man soll nicht nur zurückblicken, sondern der jungen Generation auch vermitteln, dass Friede und Freiheit keine Selbstverständlichkeiten sind, dass man gegebenenfalls auch dafür kämpfen muss. Auch heutzutage muss man wissen, sie sind keine Selbstläufer, sondern im politischen Geschäft, im Tagesgeschäft sollte jeder sehen, dass das Werte sind, für die wir stehen und die es gegebenenfalls auch zu verteidigen gilt. Das können Sie sehen, wenn Sie die Zeitungen aufschlagen, da gibt es genug Beispiele, die eben deutlich machen, das ist eine Lektion, die wir hoffentlich gelernt haben.

Konnte man sich nach 28 Jahren vorstellen, dass die Mauer irgendwann mal fallen würde oder hatte man die Hoffnung schon verloren?

Es gibt dieses bekannte Bild und diesen Ausspruch von Ronald Reagan: „Mister Gorbatschow, tear down this wall!“. Ich glaube, damit ging so ein bisschen ein Ruck durch die Zuhörer und das Verständnis war da. Auch als Gorbatschow in Ostberlin war und es empfingen ihn „Gorbi, Gorbi“-Rufe, was dem Honecker ziemlich unangenehm war, auch da war zu spüren, es passiert etwas, es verändert sich etwas. Dann kamen ja auch die Bilder des paneuropäischen Frühstücks in Ungarn – auch ein Zeichen, dass sich etwas tut. Dann die vielen DDR-Flüchtlinge in den Botschaften. Denken Sie an Prag, wo zu Hunderten Flüchtlinge auf dem Botschaftsgrundstück ausharrten, bis dann der deutsche Außenminister Genscher auf den Balkon trat und sagte, sie können ausreisen. Das sind Bilder, die immer noch unter die Haut gehen, immer noch Gänsehaut verursachen.

Obwohl die Mauer schon seit 30 Jahren gefallen ist, spricht man auch heute noch von „Ossis“ und „Wessis“. Gibt es heute noch diesen Unterschied zwischen Ost- und Westdeutschland? 

Ich habe durchaus Verständnis für die auch von der jungen Generation geäußerte Kritik, die das Glas eher als halbleer sieht. Das ist nicht ganz von der Hand zu weisen, auch nach 30 Jahren haben sich die Lebensverhältnisse noch nicht vollständig angeglichen. Ich selbst würde, wenn man bei diesem Bild bleibt, das Glas aber eher halbvoll, sogar dreiviertel voll sehen. 

Schauen Sie, diese Woche tritt das Philharmonische Orchester Altenburg-Gera mit zwei Konzerten in Temeswar auf. Schirmherren sind der deutsche und der rumänische Botschafter. Davon hätte man vor 33 Jahren nur träumen können. Ich erlebe Berlin mit Blick von innen, als auch außen, dass es doch für ein modernes Deutschland der Vielfalt steht. Wir haben im Rahmen unseres Nationalfeiertags in der Temeswarer Oper die Mauer ja wieder zum Sprechen gebracht und damit auch in Erinnerung gebracht, welches Unheil mit der Mauer, mit der Trennung einhergegangen ist. Und das ist heute anders. 
Ich mache jetzt ein bisschen Werbung für Berlin. Gehen Sie in den Mauerpark an einem Sonntag, da sehen Sie viele junge Menschen unterschiedlicher Kulturen, die sich zum Beispiel um den irischen Karaoke-Künstler sammeln, da ist eine Stimmung, das ist ein bisschen wie Woodstock, ich kann das kaum beschreiben! Und da kommt mein nächstes Anliegen: Ein Direktflug aus der deutschen Hauptstadt in die künftige Europäische Kulturhauptstadt ist ein absolutes Muss! Eine Stadt wie Berlin, mit zwei Bundesliga-Vereinen, eine Stadt wie Temeswar mit dem vielfältigen Kulturleben, mit der jungen Jazz- und Musikszene, dass die es nicht schaffen, mit einem Direktflug in Verbindung zu treten, das beschäftigt mich und da werde ich nie müde, immer wieder hinzuweisen, wie wichtig das ist.


Fortsetzung in unserer morgigen Ausgabe