Abschied von Stadtpfarrer i. R. Wolfgang Rehner

Persönliche Erinnerungen an einen lebenslangen Weggefährten

Die Evangelische Kirche A.B. in Rumänien, die Hermannstädter Kirchengemeinde und viele Glaubensgenossen, Amtsbrüder und -schwestern, Verehrer und Freunde blicken nach dem unerwarteten Heimgang von Stadtpfarrer i.R. Wolfgang Rehner in großer Trauer auf sein segensreiches Leben im Dienst der Kirche zurück. Mit den folgenden Zeilen soll hier ein persönlicher Rückblick auf den gemeinsamen Lebensweg mit einem langjährigen „Weggefährten“ im wahrsten Sinne des Wortes folgen. Denn hinter uns liegen mehr als 65 Jahre Freundschaft auf Wegen, die, wie kaum in einem andern Fall, parallel verlaufen sind oder sich immer wieder begegnet und gekreuzt haben.

Es war das Jahr 1954, als wir – zwei Anwärter auf das Theologiestudium und beide aus Hermannstadt – gemeinsam mit dem Linienbus nach Klausenburg fuhren, wo wir nach der Ankunft die paar Schritte von der Busstation zum nahe gelegenen großen Gebäude der altehrwürdigen reformierten Fakultät gingen. Diese funktionierte schon seit über fünf Jahren als „Vereinigtes Protestantisches Theologisches Institut mit Universitätsgrad“ und hatte seither, neben den ungarischen reformierten, unitarischen und lutherischen, auch die deutschsprachigen Theologiestudenten in einer eigenen Abteilung aufgenommen.

Die Gründung 1948/49 einer solchen gemeinsamen Stätte zur Ausbildung von Pfarrern für die vier in Siebenbürgen angesiedelten protestantischen Kirchen war im neuen kommunistischen Staat eine Notwendigkeit geworden, nachdem seit Jahren die Grenzen zu den deutsch- und ungarischsprachigen Ländern, die theologische Fakultäten beherbergten, geschlossen waren und man nicht – wie bis dahin – im Ausland studieren konnte. Davon war unsere Kirche wegen des herrschenden Pfarrermangels in besonderem Maße betroffen, so dass sie für eine eigene inländische Ausbildung von Pfarrern Sorge tragen musste.

Für die Gründung eines gemeinsamen „Hochschulinstituts“ machte sich damals Bischof Friedrich Müller besonders verdient, denn er erreichte die Genehmigung des Staates und die Einwilligung der anderen protestantischen Kirchen zu diesem Vorhaben. Bischof Müller plädierte dabei mit ungewöhnlichem Weitblick für eine akademische Ausbildung der zukünftigen Pfarrer und lehnte das Angebot der Regierungsstellen zum Aufbau eines „Theologischen Seminars“, das es in unserer Kirche früher gegeben hatte, ab. Er berief sich auf die diesbezügliche Tradition einer akademischen Pfarrerausbildung in Siebenbürgen und auf die Wichtigkeit eines hohen theologischen Niveaus in unserer Kirche, wie sie ehedem möglich gewesen war, und setzte sich mit diesem Ansinnen durch.

So betraten wir das im Zentrum dieser berühmten siebenbürgischen Universitätsstadt gelegene Theologische Institut in der Erwartung, dass uns hier, in einer Stadt mit einem ausgeprägten Studentenleben, nicht nur der Kontakt mit Studierenden anderer Fakultäten, sondern auch das vielfältige Kulturangebot das Leben bereichern und das Studium entscheidend prägen werde. Wir wohnten – zusammen mit anderen zehn Studenten – im selben Zimmer des in der „Theologie“ untergebrachten Internats und teilten den Alltag eines Theologiestudenten wie alle übrigen Kommilitonen. Er führte uns durch die Pflege der Gemeinschaft und mit den täglichen Morgen- und Abendandachten, den Gottesdiensten und den andern geistlichen Veranstaltungen, besonders aber mit dem reichen Angebot an Vorlesungen und Lehrveranstaltungen in eine neue geistige Welt. Sie war anders als das, was wir in den letzten Jahren in den kommunistischen Staatsschulen gewohnt waren. Dazu waren wir der bis dahin größte Studiengang – mit mehr als zwanzig Studenten –, lernten die anderen in Klausenburg seit Jahrhunderten existierenden Kirchen kennen und die Gepflogenheiten der geistlichen Erziehung von zukünftigen Pfarrern schätzen und bekamen meist auch die Grundlagen der ungarischen Sprache mit.

Dass wir jedoch bereits nach einem Studienaufenthalt von einem Jahr in Klausenburg, das heißt schon im Herbst 1955, als „deutschsprachiger Zweig“ in unsere Geburtsstadt zurückkehrten, war für uns Hermannstädter in gewissem Sinne zunächst eine Enttäuschung. Das Bischofshaus war rückerstattet und geräumt worden und bot neben der Bischofswohnung und den Büroräumen des Landeskonsistoriums auch Platz für die Unterbringung des Internats, der erforderlichen Vorlesungssäle, der Bibliothek und der Räume für Dekanat, Sekretariat und Professorenzimmer. Doch dieser Schritt unserer Kirchenleitung sollte sich segensreich auswirken. Für das folgende erste Studienjahr meldeten sich siebenundzwanzig Studenten und auch später zahlreiche Anwärter für das Theologiestudium, so dass die Gesamtzahl der Studierenden aller Jahrgänge auf über neunzig stieg und der spürbare Pfarrermangel bald überwunden werden konnte. So setzten wir, Wolfgang Rehner und ich, unseren gemeinsamen Weg auch hier fort.

Hier wurde uns bewusst, dass unsere Väter alte Freunde aus ihrer Bistritzer Schulzeit waren und dass unsere beiden Familien enge freundschaftliche Beziehungen pflegten. Auch meinem verehrten Professor für Kirchengeschichte, Dr. Hermann Rehner, kam ich in einer Weise nahe, wie das in Klausenburg so nicht möglich gewesen wäre. Nachdem unsere beruflichen Wege zunächst auseinandergingen, zuerst ins Vikariat (Wolfgang nach Großpold, ich nach Zeiden) und darauf in die uns zugeteilten Gemeinden in den Pfarrdienst (er nach Gergeschdorf, ich nach Katzendorf), führten uns unsere Wege erneut zusammen. Denn beide besuchten wir den dreijährigen „Magisterkurs“ und trafen uns dadurch regelmäßig in Hermannstadt, zu den vorgeschriebenen Vorlesungen und bei der Arbeit in der Bibliothek, und bereiteten uns mit Eifer auf die Erwerbung des „Magistergrades“ vor.

So sollten wir auch im späteren Berufsleben „Weggenossen“ bleiben. 1964 kam ich als Stadtprediger und Wolfgang Rehner als Dozent für Altes Testament an das Institut erneut nach Hermannstadt. Die Verbindung zwischen Kirchengemeinde und Institut war sehr eng, besonders bei der Gestaltung von geistlichen Veranstaltungen, wie die Gebetswoche für die Einheit der Christen, der Weltgebetstag der Frauen und die Bibelstunden in der Johanniskirche. Man traf sich in den Gottesdiensten in der kleinen Kirche neben dem ehemaligen Waisenhaus – unserem heutigen „Teutsch-Haus“ –, wo auch die Gottesdienste des Theologischen Instituts stattfanden. Wie ehedem als Studenten saßen wir bei den Proben des Kirchenchores von Professor Franz Xaver Dressler, der auch unser Musikprofessor am Institut war, wieder nebeneinander. Und wenn der Chor auf der Empore der Stadtpfarrkirche sang, standen wir als Bassisten meist nebeneinander. Ich erinnere mich noch an die Proben für die Weihnachtsmottete in der „Stadtpfarrloge“, wo wir, unter den vielen alten Weihnachtsliedern, auch „In dulci jubilo“ sangen. Und ich erinnere mich ebenso daran, wie wir uns zulächelten, wenn der Vers „trahe me post te“ folgte und wir beide an dasselbe dachten.

Denn Wolfgang wusste von meinem Wunsch, einst am Theologischen Institut unterrichten zu können, und mich „zu sich zu ziehen“. Das geschah in der Tat 1968, als er sich entschied, den Ruf der Gemeinde Großpold anzunehmen und Pfarrer zu werden. Er war auch bereit, von dort aus wöchentlich nach Hermannstadt zu kommen, um seine alttestamentlichen Vorlesungen weiter zu halten. Ich wurde bald darauf zum Lektor für klassische und moderne Sprachen ans Institut berufen, und wieder kreuzten sich unsere Wege: Ich zog mit meiner Familie in Wolfgang Rehners Wohnung im Blockviertel „Gheorghe Gheorghiu-Dej“ ein, die frei geworden war. Und es sollte nun auch so kommen, dass, nach abermals vier Jahren, ich gebeten wurde, Stadtpfarrer in Hermannstadt zu werden und wir im Jahre 1972 mit der Familie in die geräumige Wohnung auf dem Huetplatz einzogen. Ich hatte mir ausbedungen, dass der Lehrstuhl für Systematische Theo-logie, den ich seit zwei Jahren, nach dem plötzlichen Tod von Professor Hans Scheerer, als Lektor vertrat, für meine Rückkehr zum Theologischen Institut freigehalten werde, nachdem ich mich verpflichtet hatte, auch als Stadtpfarrer die Hauptvorlesungen weiter zu halten. Als ich im Jahre 1976 vor die Wahl gestellt wurde, mich für eine einzige Aufgabe zu entscheiden, entschied ich mich für die Theologie; die Stadtpfarrstelle wurde frei, und Wolfgang Rehner, der als mein Nachfolger gewählt worden war, zog in unsere ehemalige Wohnung am Huetplatz ein.

Mit Stadtpfarrer Rehner gab es auch weiterhin eine gute Zusammenarbeit, besonders nachdem er Mitglied des Landeskonsistoriums und ich Dekan des deutschsprachigen Zweiges unseres Instituts in Hermannstadt geworden war. Als ich im Jahre 1990 in die Bischofswohnung in der Sporergasse übersiedelte, gehörte Stadtpfarrer und Konsistorialrat Rehner zu den engsten Mitarbeitern des Landeskonsistoriums und war ein treuer Begleiter des Weges unserer Kirche in eine neue Zukunft. Wir haben alle Probleme, wenn sich solche in der Kirchenleitung ergaben, gemeinsam besprochen, und er war mir in allen diesen Jahren ein wertvoller und hilfsbereiter Berater und Freund.

Und damit komme ich, nach diesen persönlichen Erinnerungen aus unseren „jungen Jahren“, zum Wesentlichen. Wenn ich den kirchlichen Dienst unseres Heimgegangenen mit einer Kurzformel beschreiben sollte, würde ich einen Gedanken von Gertrud von Le Fort dafür in Anspruch nehmen. Sie hat die großen Leistungen von Männern und Frauen – freilich besonders von Frauen – so beschrieben: „Sie sind in die Bresche gesprungen.“ Gemeint ist dieses: Dort einzuspringen, wo die Not am größten ist und eine Lücke dringende Hilfe notwendig macht. Das hatte Wolfgang Rehner bereits getan, als die Stelle des Alttestamentlers an unserem Theologischen Institut durch den Tod unseres geliebten Professors Dr. Adalbert Domby vakant geworden war und dringend besetzt werden musste. Er hat den Ruf angenommen und ist nach Hermannstadt gekommen, obgleich er mit Leib und Seele Gemeindepfarrer war und es bleiben wollte. Und als er nach vier Jahren in diese große Gemeinde Großpold berufen wurde, deren Betreuung eine besondere Herausforderung war, die kaum ein anderer hätte wahrnehmen können, verließ er die inzwischen spürbaren Annehmlichkeiten der Stadt und ging zurück auf das Dorf, in dem gewaltige Aufgaben auf ihn warteten, und nahm die Vertretung des Alttestamentlichen Lehrstuhls auch von dort aus wahr.

1976 folgte erneut das „in die Bresche springen“, als nach meiner Rückkehr an das Institut die Stadtpfarrstelle vakant wurde, war er bereit, diese anzunehmen und nach Hermannstadt zurückzukehren. Er hat hier die Jugendarbeit aufgebaut, die eigentlich staatlicherseits verboten war, und sie trotzdem wahrgenommen, wofür ihm heute viele seiner ehemaligen Jugendlichen dankbar sind. Dabei hat er, zusätzlich zum anspruchsvollen geistlichen Dienst, die immense Verwaltungsarbeit gewissenhaft auf sich genommen. Nach der „Wende“, als die vielen Hilfsgütertransporte ankamen, hat er Übermenschliches an Belastungen getragen und häufig selbst Hand angelegt, um diese neue, schwere Aufgabe zu bewältigen.

In dieser Zeit des nicht einzudämmenden Ausreisefiebers unserer Glaubensgenossen war er ein entschiedener Befürworter und Gestalter der Zukunft unserer Kirche und zeigte sich in seinem Amt bereit, der schrumpfenden Kirchengemeinde mit Entschlossenheit und Tatkraft weiter vorzustehen. Das wichtigste Zeichen seiner ungebrochenen Bereitschaft, „in die Bresche zu springen“, setzte er im Jahre 1993, als er den Mut aufbrachte, die noch immer größte Pfarrgemeinde unserer Kirche aufzugeben, um in die vakant gewordene Stadtpfarrstelle der kleineren Gemeinde Sächsisch-Regen und ihres Umfeldes hinüberzuwechseln. Hier war im geistlichen Dienst des Nösnerlandes und der Bukowina Hilfe besonders dringend nötig, denn im Norden Siebenbürgens waren immer wieder Vakanzen zu beklagen. Er hat diesen, auch durch die vielen Autofahrten physisch schweren Dienst bis zu seiner Emeritierung (2001) vorbildlich wahrgenommen und hierauf, als Hilfsgeistlicher seines Nachfolgers, bis zu seiner Übersiedlung nach Hermannstadt in sein Familienhaus (im Jahre 2004) hingebungsvoll weitergeführt.

Was sein bewegtes Leben und sein immer neuer Einsatz seiner Familie, und besonders seiner Ehegattin Gertrud Rehner, geborene Knall, abverlangt haben, beeindruckt tief und ist berührend. Ihr gebührt ein besonderer Dank dafür, dass sie ihren Mann in diesen schweren Jahren mit Rat und Tat aufopferungsvoll begleitet hat. Und das auch damals, als Wolfgang Rehner noch einmal – nun als „Pensionär“ – „in die Bresche gesprungen“ ist. Denn als die Stelle des Bibliothekars in der Archivabteilung unseres „Begegnungs- und Kulturzentrums Friedrich Teutsch“ vakant wurde, war er bereit, diese Aufgabe zu übernehmen. Er hat sie bis zu seinem plötzlichen Tod ausgeübt, hat sich mit ihr restlos identifiziert und sie sachkundig und kompetent wahrgenommen. Wir haben mit ihm im April 2016 seinen 80. Geburtstag gefeiert, im Kreise seiner Kollegen und Kolleginnen im „Teutsch-Haus“, die ihm ans Herz gewachsen sind und die ihn als unentbehrlichen und wertvollen Mitarbeiter geschätzt haben und ihn in bleibender, treuer Erinnerung behalten werden.

Unsere Kirche, mit ihren Amtsbrüdern und -schwestern, deren Gemeinden, den vielen Jugendlichen aus der Zeit seiner Jugendarbeit, sowie unzählige Freunde und Mitstreiter in den zurückliegenden fünfzig Jahren bewahren Wolfgang Rehner ein dankbares Gedenken, dessen Leben sie beendet, aber in Gott auch vollendet sehen dürfen.