Aktuelle Sicht auf die Geschichte Südosteuropas 

Die Historiker Ulf Brunnbauer und Klaus Buchenau würdigen in ihrer gelungenen Darstellung politische Entwicklungen, Sozialgeschichte, Mentalitäten und religiöse Hintergründe gleichermaßen

Ulf Brunnbauer/Klaus Buchenau: Geschichte Südosteuropas. Mit 7 Karten, Reclam Verlag: Stuttgart 2018, geb. mit Schutzumschlag, 512 S., ISBN 978-3-15-011154-3, 34,00 Euro

Jede Historikergeneration hat ihre eigene Sicht auf die Geschichte von Epochen und Regionen. Wenn auch zur Geschichte Südosteuropas schon vieles gesagt und veröffentlicht wurde, bieten doch neue Darstellungen jeweils eine aktuelle Sicht und spiegeln Forschungsstand und Narrative der jeweiligen Zeit. So ist es auch bei der neuen Publikation von Ulf Brunnbauer und Klaus Buchenau. Die beiden Wissenschaftler von der Universität Regensburg zählen derzeit zu den renommiertesten Südosteuropaforschern im deutschsprachigen Raum und haben jüngst eine aktuelle Gesamtdarstellung zur „Geschichte Südosteuropas“ vorgelegt.

Südosteuropa hat bekanntlich nicht nur eine lange und spannende Geschichte, sondern auch ein besonderes Image. So wird der Balkan „seit dem 19. Jahrhundert immer wieder mit Gewalt, Chaos und Unkultiviertheit assoziiert“ (S. 19). Die Einreise in das Osmanische Reich, das bis Südosteuropa reichte, wurde meist als „Verlassen Europas empfunden“, der Balkan galt aber auch als „bunt und ursprünglich, gastfreundlich, aber ungeordnet“, gleichzeitig gezeichnet von Schmutz und Armut. Das negative Image setzte sich fest als „Bild einer unzivilisierten und wilden Region“ (S. 23). 

Es gelingt Brunnbauer und Buchenau nun sehr präzise, solchen Klischees objektive Erkenntnisse entgegenzusetzen. Sie arbeiten regionale kulturelle Eigenarten, Mentalitäten und auch Gemeinsamkeiten bis hin zu gegrilltem Hackfleisch und selbst gebranntem Schnaps heraus und machen gleichzeitig deutlich, wie virulent der vermeintliche „Nachweis einer uralten eigenen Existenz, Größe und Würde“ und „einer glanzvoll imaginierten Vergangenheit“ zum Nachweis für „das Recht auf eine ebenso glanzvolle nationale Gegenwart“ wurde. 

Das Werk führt vom antiken Erbe und den Entwicklungen der Völkerschaften der Region – und auch der Großreiche von Byzanz – über das Osmanische Reich und die Habsburger bis hin zum kommunistischen Ostblock. Dargestellt wird neben der politischen Geschichte stets auch die Sozialgeschichte. Ohne dass es sich um ein schwerpunktmäßiges kirchen- oder religionsgeschichtliches Werk handelt, wird zudem sehr präzise die ganz spezifische Entfaltung der religiösen Landschaft Südost-europas erklärt. 

Dabei wird deutlich, welche große Bedeutung die Religion in der Region spielt und wie langlebig schon mittelalterliche Kirchenstrukturen waren im Vergleich zu der relativ spät einsetzenden modernen Nations- und Staatenbildung im 19. Jahrhundert. Auch werden akkurat die sich in der Geschichte manifestierenden konfessionellen Trennlinien zwischen Byzanz und Rom nachgezeichnet. 

Der Band beschreibt detailliert das Vordringen der Osmanen in der Region und die Eingliederung der christlichen Völker als Untertanen in das Osmanische Reich. Christliche Eliten wurden meist ersetzt und konnten sich nur im rumänischen und griechischen Raum halten. Besonders die Donaufürstentümer Moldau und Walachei entwickelten sich anders als der Balkan, die Moldau avancierte zum „wichtigen Zentrum des orthodoxen Mönchtums“.

Angesichts mancher Verharmlosung des Islam in der heutigen auch wissenschaftlichen Publizistik wird die juristische und faktische Unterordnung der Christen gegenüber den Muslimen bis hin zur Knabenlese dokumentiert: „Nur Muslime waren von der Kopfsteuer befreit und konnten unbegrenzt Moscheen und sonstige Gebäude religiösen Charakters errichten, wogegen Kirchenbau und -renovierung eingeschränkt wurden. (…) Kirchtürme durften nicht höher sein als die Minarette von Moscheen.“ (S. 81) Insgesamt gilt: „Die osmanische Herrschaft förderte insgesamt die Gruppenbildung auf religiöser Grundlage.“ (S. 82) Völlig zu Recht charakterisieren Brunnbauer und Buchenau das Verhältnis von Christen und Muslimen in Südosteuropa als komplex, stellen aber auch fest: „Byzanz und das Osmanische Reich ähnelten einander im theokratischen Selbstverständnis der Monarchen.“ (S. 89) 

Unter dem Titel „Das ‚lange‘ 19. Jahrhundert: Staatsbildungen und neue Konfliktkonstellationen“ werden die Entwicklungen jener Epoche erörtert. Hier besticht die Darstellung auch dadurch, dass ideengeschichtliche Grundlagen politischer Entwicklungen in die Darstellung einbezogen werden, wie etwa die 1797 in Wien veröffentlichte Schrift „Eine neue politische Verfassung für die Bewohner von Rumelien, Kleinasien, die Inseln und die Donaufürstentümer“ des griechischen politischen Visionärs Rigas Velestinlis. 

Die „Genese moderner Staatlichkeit“ war eines der Hauptthemen jener Zeit in Südosteuropa. Die Autoren schildern minutiös die entsprechenden Entwicklungen. Dabei gab es durchaus große Unterschiede: „Begannen die Serben Anfang des 19. Jahrhunderts den Institutionenaufbau praktisch bei null, so mussten die Rumänen ‚bloß‘ zwei bereits seit langer Zeit bestehende Staatswesen zusammenführen (1859).“ (S. 115) Und sie weisen darauf hin: „Ausgangspunkt für jede Staatsbildung waren Erhebungen gegen die osmanische Herrschaft.“ (S. 121) 

Aktuell, aber diskussionswürdig ist in diesem Zusammenhang die These, wonach Nationen und nationale Identitäten nur konstruiert seien (S. 126 ff). Beide beziehen sich auf das einflussreiche Phasen-Modell zur Nationsbildung des Prager Historikers Miroslav Hroch von 1968 und plädieren für eine Ergänzung um die weitere Phase der aktiven Implementierung der nationalen Identität durch den neuen Na-tionalstaat. Die Autoren führen anschaulich vor, wie mit den Staatengründungen zwar das Anliegen der Nationalbewegungen erreicht war, gleichzeitig aber neue Konflikte um die innere Ausgestaltung der Staaten grundgelegt waren. 

Das beginnende 20. Jahrhundert markieren die Autoren zunächst als gezeichnet von tiefgreifenden Umwälzungen durch den Ersten Weltkrieg und den Untergang der drei Großreiche. Einerseits erlebten die neuen Hauptstädte wie Bukarest oder Belgrad „goldene Zwanziger“ wie Berlin, doch Klientelnetzwerke bildeten sich heraus und es gab stets demokratische Defizite, staatsferne bis zerrissene Gesellschaften und eine stark autoritäre, personenbezogene politische Kultur. 

Die Phase des Zweiten Weltkriegs, der Nachkriegszeit und des Kalten Kriegs stellen die Autoren unter den Plural „Brüchige Modernen“. Dieser Krieg gilt für sie als „der blutige Geburtsmoment jener politischen, aber auch gesellschaftlichen Strukturen, die die Region nach 1945 geprägt haben“ (S. 271), die Nachkriegsmoderne gilt ihnen als Zivilisationsbruch. Die Formen und Folgen der kommunistischen Machtergreifung und Herrschaftspraxis werden hernach sowohl länderspezifisch beschrieben wie auch in den internationalen Kontext der Ost-West-Konfrontation eingeordnet. Dabei werden kommunistische Bemühungen um Identitätsstiftung genauso referiert wie die Widersprüche zwischen Ideologie und Realität und der Sonderweg in Jugoslawien bis hin zum Legitimitäts- und Machtverlust in den 1980er Jahren, der zum Ende der kommunistischen Herrschaft führte, die die Autoren als „multiples Organversagen“ bezeichnen. Parallel dazu wird die Entwicklung in Griechenland und der Türkei markiert. 

Die komplexen Transformationsprozesse nach 1989 werden im Kapitel „Prekäre Re-Europäisierung“ erfasst. Dabei verweisen Brunnbauer und Buchenau auf Probleme wie die neuen postkommunistischen Oligarchen und Korruption, monieren aber auch die westliche Mitverantwortung für manche Fehlentwicklung und das Vergessen von Erfolgen der Transformation. Neben der Lage in Ländern wie Rumänien und Bulgarien wird auch der Zerfall Jugoslawiens ausführlich behandelt und auch das nationalistisch-ideologische Konfliktpotenzial der neuen Staaten angesprochen. Auch das kriegerische Eingreifen der NATO in den Kosovo-Konflikt wird kritisch dargestellt. 

Ulf Brunnbauer und Klaus Buchenau ist ein großer Wurf gelungen. Der gut lesbare Band setzt Standards. Wer die Geschichte und Gegenwart Südosteuropas und all seiner Länder und Völker verstehen will, ist gut beraten, zu diesem Buch zu greifen. Das Kartenmaterial und die detaillierten Zeittafeln am Ende der Kapitel sind zudem sehr hilfreich.