Allein auf der Welt? Das war einmal!

Künstlerin Annamaria Kowalsky gefällt Klausenburg genauso gut wie Zagreb

Annamaria Kowalsky ist Synästhetikerin und „ein Mensch mit bestimmten Wurzeln, aber eigentlich keiner Nation wirklich zugehörig“ Foto: privat

Künstlerporträt von Gottfried Rabl. Auch Tubist Andreas Martin Hofmeir und das Max-Reinhardt-Seminar sprechen aus dem Portfolio der Fotografin. Foto: www.annamariakowalsky.com

Gibt es in Europa eine Hauptstadt der Musik? Joseph Haydn, Wolfgang Amadeus Mozart, Ludwig van Beethoven, Franz Schubert, Johannes Brahms, Gustav Mahler, Arnold Schönberg und Alban Berg sind wichtigste Haltepunkte auf dem Geschichtsfahrplan der Ringstraße. Wer nicht das Glück hatte, in Wien geboren worden zu sein und erwachsen zu werden, musste spätestens als gemachter Mann hierher ziehen, wollte er sich das glänzendste Rüstzeug aneignen, das die Welt verfügbar hatte. 

Doch nicht alle Großmeister haben es zeitlebens in Wien ausgehalten. Einige von ihnen konnten den wienerisch konservativen Publikumsgeschmack gar auf den Tod nicht ausstehen und nahmen öfters Reißaus. Nach Heiligenstadt beispielsweise. Oder noch viel weiter an Mondsee, Attersee und bis auf das Schloss der Grafenfamilie Esterházy. Manch einer weitete seinen Wochenendausflug zum Dauerabschied aus. Geschadet hat Wien dennoch keinem Musikschaffenden. Aber die Stadt hat es in sich - „In Wien musst´ erst sterben, damit´s dich hochleben lassen. Aber dann lebst´ lang!“, soll Schauspieler Helmut Qualtinger gesagt haben. Kabarettist Georg Kreisler ging noch dreister ans Werk: „Wie schön wäre Wien ohne Wiener!“

Annamaria Kowalsky (Jahrgang 1991), in Deutschland geborene Kroatin, wegen der Musik früh nach Wien gekommen und auch hier geblieben, studierte sieben Jahre lang an der Universität für Musik und Darstellende Kunst (mdw) und gleich anschließend Philosophie an der Akademie der Bildenden Künste (akbild). Sie hat zuhause einen Kontrabass stehen, spielt selber Bratsche, entwirft Kataloge, Buchdeckel und Plakate nicht nur für Musikzwecke, fotografiert mit gestalterischer Weltklasse und verbringt mindestens genauso viel Zeit als Malerin und Zeichnerin. Von schwarzweiß bis bunt quer durch die Möglichkeiten vom Aquarell bis zum Linolschnitt. Ihre bildnerischen und musikalischen Eigenkompositionen mischt sie zu Art-Videos kurzer Spieldauer. Es gibt kaum geistig-künstlerische Disziplinen, worin Menschen derart vielfacher Begabung sich nicht zurechtfinden.

Freitagabend, am 7. Februar, gestalteten Chor und Orchester der Staatsphilharmonie „Transilvania“ Klausenburg/Cluj-Napoca auf halber Strecke der Spielzeit im großen Festsaal der Babeș-Bolyai-Universität (UBB) die Welturaufführung des Auftragswerkes „Calamitas“ von Annamaria Kowalsky. Im Rumänien des ernstzunehmenden Hypozentrums unter dem Relief des Verwaltungskreises Vrancea denkt man bei dem Schlagwort reflexartig an Erdbeben und Naturgewalten. Dabei bedeutet die lateinische Vokabel nichts weiter als Schaden, Verlust und Unheil. Auch wenn einem nicht das Dach auf den Kopf fällt oder der Fußboden wegschwimmt, kann der Haussegen schief hängen. Jeder Mensch weint anderen unwiderruflich verloren geglaubten Dingen und Ideen nach. Philosophin Annamaria Kowalsky stellt Klänge von Hoffnung, Schmerz und Verzweiflung auf und lässt die Chorstimmen wortlos singen. Ihr Denkanstoß „Calamitas“ für Streichorchester, tiefe Blechbläser und gemischtes Vokalensemble dauert zehn Minuten und stellt es Aufführenden wie Zuhörenden frei, unbemerkt an Buchstaben und Bildern persönlicher Vorstellungen und Erlebnisse von Verlust zu feilen. Alle hören dasselbe Stück, und doch soll jeder Mensch sich seinen eigenen Reim darauf machen können.

Wie vorgestern eben, aber neu gestrichen

Vorausgesetzt, dass alle das Neue durch ihre persönlichen Filter aufnehmen wollen und sich von keiner Masse vorschreiben lassen, mit welchem Gemisch aus Argwohn und Offenheit man Ungewohntem zu begegnen hat. Selbst Beethoven war seinerzeit nicht bei allen Zeitgenossen restlos beliebt. Und von Schubert ist bekannt, dass er sein Kunstlied für Männerstimme und Klavier auf Goethe´s Ballade „Der Erlkönig“ dem Dichter per Post nach Deutschland zuschickte, aber schmerzhaft erfahren haben soll, dass der Weimarer Intellektuelle alles, was nicht auf das klassische Strophenlied-Muster passte, schlicht für falsch hielt. Wer oder was bestimmt also, was geht und was nicht geht, was gut ist und was nicht? Die Frage begleitet uns seit Jahrhunderten. In Städten wie Wien scheint man so zu leben, als ob sie ein für allemal vom Tisch wäre. Annamaria Kowalsky jedoch ist gerne dort zuhause. „Hier muss man konstant gegen Widerstände arbeiten. Aber es ist ein gutes Muskeltraining!“

Darum darf, wer sich kaltem Gegenwind ausgesetzt sieht, einem Nörgler-Publikum erst recht die eigene Sonnenseite vorhalten. „Musik ist kein Privileg einer bestimmten Klasse, sondern Hymne für alle“, so eines von vielen Zitaten, die Beethoven zugeschrieben werden. Merkwürdigerweise scheint das kleinere Klausenburg dem großen Wien in Sachen Neuer Musik hin und wieder überlegen. Denn in der österreichischen Hauptstadt hätte die Uraufführung von „Calamitas“ schwerlichst den Weg auf ein Plakat gefunden. Im Konzert in Klausenburg dagegen war das Stück an bester Programmstelle vertreten. Es folgte auf die „Rapsodie espagnole“ und die „Pavane pour une infante dé-funte“ von Maurice Ravel (1875-1937) sowie auf die 1897 vorgestellte Vertonung „L´Apprenti sorcier“ (Der Zauberlehrling) von Paul Dukas (1865-1935). Was Schubert aus Gründen von Höflichkeit, aber auch in berechtigter Hoffnung auf Anerkennung unternommen hatte, brauchte den 32 Jahre alten Paul Dukas, der sich frei über die Ballade von Goethe hermachte, nicht mehr interessieren.

Die Musik von Dukas meint es nicht weniger ernst als Goethes Zeilen. Sie spielt dem unkenden Zeigefinger sogar ehrerbietig in die Karten. An Beispielen dieser Art lässt sich leicht ablesen, dass alte Kostbarkeiten heute kaum noch beachtet werden, wenn ihnen eine Zeitbrücke fehlt. Wäre „Der Zauberlehrling“ ohne Paul Dukas genauso bekannt? Wüsste man ohne Richard Strauss´ gleichnamiger Tondichtung für Violoncello, Viola und großes Orchester aktuell auch außerhalb Spaniens noch ebenso viel von Don Quijote und Sancho Panza Bescheid?

Keine Extrahilfe für ohnehin Großes

In der großen Welt gibt es Nationen, klar. Nationale Monopole aber sollten längst keinen Bestand mehr haben können. Kulturelle Isolation ist der falsche Weg. Alles muss allen gehören dürfen, und niemand sollte sich selbst für zu gut für mittelmäßige Aufträge halten. Die gibt es nämlich nicht. Was es stattdessen gibt, ist der herbe Unterschied zwischen noch irgendwie verkraftbarer Fusionierung oder Kürzung und tunlichst zu vermeidender Auflösung öffentlicher Kulturinstitutionen. Gottfried Rabl, ausgebildeter Hornist, Korrepetitor und Dirigent, weiß nur zu genau, dass Streichungen der klassischen Musikwelt nicht gut bekommen. Am 7. Februar stand er am Pult der Staatsphilharmonie „Transilvania“ Klausenburg und brachte die 1906 in Paris erstmals gefeierte Vertonung des Psalms 47 für Sopransolo, Chor, Orgel und Orchester von Florent Schmitt (1870-1958) zur Aufführung. Den Gesangspart zu geballter Begleitung erfüllte Aida Pavăl-Olaru. Interpret Gottfried Rabl selbst tischt gerne Literatur auf, deren feine Qualität am deftigen Buffet der Tradition überhört wird. Bereits 1994 wurde der von ihm geleitete Wiener Rundfunkchor aufgelöst. „Ein Ensemble, das sich auf Moderne spezialisiert hatte. Wer heute Neues für Chor und Orchester aufführen möchte, muss dafür woandershin. Brahms-Requiem und Bach-Weihnachtsoratorium gehen gut in Wien, der Rest aber findet wenig Unterstützung.“

Was der Wiener Rundfunkchor geleistet hatte, führt so kein österreichisches Berufsensemble weiter – „bei der Fragestellung ob Ja oder Nein ging es nicht etwa um musikalische Belange, sondern ausschließlich um schwarze Zahlen, die sich rot gefärbt hatten. Da haben die Verantwortlichen keinen Augenblick gezögert!“, erinnert sich Gottfried Rabl. Gäbe es keine Meister seines Profils, würde selten gespielte Musik überhaupt nicht mehr aufgeführt. Bleiben Gastgeber wie beispielsweise Rumänien an ihm dran, besteht durchaus die Chance, im Konzertsaal auch Stücke zu hören, die weder berühmt sind noch aus Wien stammen, aber trotzdem ihren Platz auf der Weltbühne verdienen.

Auch Österreich hat zwei Seiten

Ravel und Dukas waren im letztmöglichen Augenblick eine Woche vor dem Konzert angesetzt worden - als Ersatz für die dreiviertelstündige „Trilogie Cosmique“ von Guillaume Connesson (Jahrgang 1970), an der die Staatsphilharmonie „Transilvania“ Klausenburg haarscharf vorbeischrammte. Dennoch lief das Programm wie am Schnürchen statt wie Stückwerk. Verlustgedanken zogen sich durch „Calamitas“, die „Pavane pour une infante défunte“ und den „Zauberlehrling“. Eigentlich hatte Annamaria Kowalsky ihr neues Stück als Auftragswerk komponiert, das eine Aufführung des Psalms 47 von Schmitt und der „Trilogie Cosmique“ von Connesson zu üblicher Konzertdauer ergänzen sollte. Nun kam es anders als geplant, inhaltlich dafür umso treffender. Der Zufall wollte, dass die Uraufführung in brandgefährliche Neuigkeiten aus Australien hineinspielte. Nach dem Konzert gönnte sich Annamaria Kowalsky bei Rotwein die Behauptung, das Verlustgeschäft am Planeten Erde überträfe den Zauberlehrlings-Schrecken um ein Vielfaches: „Das ist nicht mehr einfach nur Neugierde, sondern echte Gier!“

Rumänien kennt zwei Bilder von Österreich. Zum einen jenes von Österreicher Gerald Schweighofer und seinem Raubtotschlag am wertvollsten Naturgut, das die Karpaten von Eisernem Tor bis Bukowina feilzubieten haben. Die Alpenrepublik würde hier abgrundtief gehasst, gäbe es nicht auch ihre stets nachrückenden Stellvertretenden von Kunst, Musik und Theater, denen man bedenkenlos zuschauen und zuhören kann. Nicht nur am Tag des Wiener Neujahrskonzerts vor dem Fernseher und nicht nur auf Orchesterplakaten im Beethoven-Jahr.