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Gedanken zum Schulbeginn

Bild: pixabay.com

5. September 2022: Schulbeginn in Rumänien. Schüler, Eltern, Lehrer und Professoren, Politiker, Kirchenvertreter und Vertreter der Lokalbehörden füllen die Schulhöfe. Überall sind für die Lehrkräfte bestimmte Blumensträuße zu sehen. Der alljährliche Festivismus. Bombastisch klingende Worte, die sich zu unendlich langen Schachtelsätzen verbinden, sprudeln vom Mikrofon und lassen leere Versprechen über den Köpfen der Anwesenden im Nichts verschwinden. Das gleiche absurde Schauspiel Jahr für Jahr. Das Gefühl, dass sich in den letzten 31 Jahren wenig verändert hat, überkommt so manches Elternteil, das außer den Schuluniformen, die vor 1989 Pflicht waren, keinen Unterschied zu eigenen Kindheits- und Schulerinnerungen wahrnehmen kann. 

Und doch wurde kein Bereich in Rumänien so oft „reformiert“ wie das Bildungswesen. Jeder der mehr als 30 Minister, die seit 1990 die Zügel des Bildungsministeriums in der Hand hatten, brachte Anpassungen und Modernisierungen auf den Weg, die gewöhnlich von seinem Nachfolger über den Haufen geworfen wurden. Leider betrafen fast alle Änderungen die Form, aber nie das Wesen des rumänischen Bildungswesens. 

2016 leitete sogar das Präsidialamt unter Klaus Johannis ein breit angelegtes Programm unter dem Titel „Das gebildete Rumänien“ (România educată) ein. 2021, fünf Jahre später, wurde ein Thesen- und Programmpapier verabschiedet, welches bis 2030, mittels politischen Maßnahmen, „die Wiederbegründung der Gesellschaft auf Werte“ sowie „die Entwicklung einer Erfolgskultur, ausgehend von Leistung, Arbeit, Talent, Ehrlichkeit und Integrität“ fördern soll, wie man dem Online-Portal romaniaeducata.eu entnehmen kann. 

Als langjährige Maßnahme gedacht bleibt dieses, trotz mancher positiven Vorhaben, jedoch in vielen Bereichen oberflächlich. Ob nach den anstehenden Wahlen 2024 noch etwas davon weitergeführt wird oder alles in irgendeiner Schublade landen wird, wird man noch abwarten müssen. 
Seit Monaten sorgen die Debatten um den Entwurf des neuen Bildungsgesetzes für Schlagzeilen. Es stehen sich erneut Bildungsministerium und Vertreter der Zivilgesellschaft und des Bildungswesens gegenüber. Vorwürfe und Schläge unter die Gürtellinie bestimmen das, was eigentlich ein Dialog sein sollte. 

Man hat sich auf beiden Seiten verschanzt und versucht den Gegner auszuschalten. Nicht selten macht sich aber auch eine gewisse Verdrossenheit hörbar, die, ausgehend von den Erfahrungen der letzten 30 Jahre, die zu erahnenden Reformen eines zukünftigen Ministers voraussagt und darin den Mangel an Interesse an der Thematik begründet. 

Während andernorts dynamisch an den an die Schüler zu vermittelnden Kernkompetenzen gearbeitet wird, z. B. an der Vermittlung von digitalen Fähigkeiten hinsichtlich der Erkennung von Fake News, gilt in Rumänien der trockene Frontalunterricht und das Auswendiglernen von Formeln und historischen Daten noch als Standard. Das Misstrauen zwischen Lehrern und Schülern, der im Unterschwelligen ständig lodernde Konflikt zwischen diesen beiden Fronten, lässt manchmal an das schülernbefördernde Fließband in Pink Floyds „The Wall“ denken. 

Es mangelt vielerorts nicht nur an der Ausstattung, sondern hauptsächlich am Lehrpersonal. So erklärte Bildungsminister Sorin Cîmpeanu am 5. September 2022 im öffentlichen Fernsehen, dass in diesem Schuljahr 4125 unqualifizierte Lehrkräfte, von denen ungefähr 1000 nicht einmal über einen Hochschulabschluss verfügen, tätig seien. Die Krise, so Cîmpeanu, wird sich in Zukunft noch zuspitzen, da viele Lehrkräfte in Rente gehen werden und die niedrigen Löhne das Lehramt für kompetente Fachkräfte unattraktiv mache. Eine Lösung wäre die Zuweisung von 6 Prozent des BIP für das Bildungswesen, was schon seit 2011 gesetzlich normiert und Pflicht ist, aber bis jetzt von keiner einzigen Regierung in der Staatsbudgetplanung eingehalten wurde. 

5. September 2022: Schulbeginn in Rumänien. Zwei Ereignisse sorgen für Schlagzeilen. Während der Feierlichkeiten zur Eröffnung des Schuljahres am National Kollegium „Sfântu Sava“ in Bukarest wird der anwesende Bildungsminister Sorin Cîmpeanu von einem Vater auf das zerrissene Netz eines Fußballtores am Schulhof hingewiesen. Dieser lässt die Direktorin bestellen und verlangt, dass dieses in drei Tagen ersetzt werden soll, was er selber in Anwesenheit „der Kollegen von der Presse“ überprüfen wird. Worte des gleichen Ministers, welcher vergangene Woche erklärte, dass der Bildungsprozess nicht von den in vielen rumänischen Schulen noch vorhandenen Plumpsklos beeinflusst wäre. 

Zeitgleich wurde George Simion, Vorsitzender der extremistisch-populistischen Partei AUR, während der Feierlichkeiten des „Gheorghe Lazăr“-Lyzeums von einem Teil der anwesenden Schüler ausgebuht. Dessen Anwesenheit wurde von der Schuldirektorin „als Überraschung“ bezeichnet. Das Ereignis wurde im Nachhinein von dem Politiker geleugnet. Auf seiner Facebookseite postete er eine Videoaufnahme des Geschehens, aus welchem die Episode herausgeschnitten wurde. 

In dem gesamten Tohuwabohu fehlen aber die eigentlichen Themen: Wie kann das rumänische Bildungswesen den Anforderungen der Gesellschaft und des sich dynamisch verändernden Arbeitsmarktes gerecht werden? Wann wird endlich von den Schülern und nicht hauptsächlich vom Wohlbefinden der Lehrkräfte die Rede sein? Wie kann dem häufigen Schulabbruch (Rumänien ist in der EU rangführend) entgegengewirkt werden? Wie kann das Stadt-Land-Gefälle im Bildungswesen aufgehoben werden? 

Natürlich wäre ein mehrjähriges, politisch parteiübergreifendes Vorhaben hinsichtlich eines umsetzbaren und realistischen Projekts für das Bildungswesen ein erster Schritt, doch entspricht das in Rumänien eher einer Fata Morgana. Genauso unwahrscheinlich scheint zurzeit die Möglichkeit einer Zusammenarbeit auf Augenhöhe zwischen Entscheidungsträgern, Beteiligten, Nutznießern und Privatinitiativen (die sowohl im wirtschaftlichen, wie auch im zivilgesellschaftlichen Bereich vorhanden sind). Und so blicken wir voller Vertrauen den Feierlichkeiten zur Eröffnung des Schuljahres 2023 entgegen, wo wir uns am Schulhof treffen werden und für eine halbe Stunde so tun werden, als ob noch immer alles in Ordnung wäre.