Ambivalenzen des Alltags

Ein Gespräch mit dem Autor Paul Jeute über Heimat, Reisen und Rumänien

„Bukarest – Mythen, Zerstörung, Wiederaufbau. Eine architektonische Stadtgeschichte“ von Paul Jeute, erschienen 2013 im Schiller-Verlag und in der Schiller-Buchhandlung in Hermannstadt erhältlich.

Als ich im Sommer mit dem Nachtzug am Gara de Nord in Bukarest ankomme und aus dem Gebäude trete, fallen mir zuerst die vielen Tauben auf, die das Dach des Bahnhofs bevölkern. Sie landen dort, auf den Simsen und Vordächern, ungehindert von Edelstahlnadeln oder Netzen, wie ich sie aus Deutschland kenne. Im Durcheinander des Verkehrs sind die geordneten Kreise, die sie im Schwarm fliegend ziehen, ein beruhigender Anblick.

Ein paar Monate später sitzt mir Paul Jeute am Bildschirm gegenüber, dessen Buch „Bukarest – Mythen, Zerstörung, Wiederaufbau: Eine architektonische Stadtgeschichte“ mir kurz nach meiner Ankunft in der Stadt in die Hände gefallen war. Der Schriftsteller erzählt darin von einer Begegnung in Skopje: In einer Kneipe sei er einmal mit einem Mann über Straßenhunde ins Gespräch gekommen. Ganz selbstverständlich erzählte Jeute ihm, dass es dieses „Problem“ in Deutschland so nicht geben würde, freilaufende Hunde würden eingefangen und ins Tierheim gebracht werden, seien dort in der Vergangenheit auch eingeschläfert worden. Sein Gegenüber fand dieses Vorgehen jedoch überhaupt nicht selbstverständlich: „Bringt ihr eure Spatzen und Tauben auch um?“, fragte er den Reisenden.

Diese Logik, die auch im rumänischen Alltag heute noch präsenter ist als in seinem deutschen Herkunftsland, fasziniert Jeute bis heute. Es ist eine Logik für das Leben und gegen die Ordnung, die allerdings mit dem drängenden Wunsch kollidiere, nachts ohne Angst vor Hunderudeln durch die Straßen zu gehen.

Es sind solche und andere alltägliche Kollisionen, die Paul Jeute um Worte ringen lassen. Seine Lyrik und Prosa, die er unter dem Pseudonym „Micul Dejun“ veröffentlicht, gehen meist von Beobachtungen des Alltags aus, und dieser ist für Jeute „im Osten Europas noch sichtbarer“. Auch wenn sich der Enddreißiger sicher ist, dass seine Wahrnehmung dieses „Ostens“, den er seit seiner frühesten Kindheit bereist, etwas Klischeehaftes an sich hat, macht der hiesige Alltag für ihn die Faszination Rumäniens aus.

Paul Jeute wuchs in den 80er-Jahren in Dresden auf, und seine Eltern – ungewöhnlich uninteressiert an den prestigeträchtigen staatseigenen DDR-Ferienhäusern – nahmen ihn und seine Schwester schon früh mit auf lange Reisen. „Ich habe das Schwarze Meer eher gesehen als die Ostsee“, sagt er.

Und auch noch im Sommer ’89, als die Auswanderungsbewegungen über Ungarn bereits deutlich zugenommen hatten, reiste die Familie Jeute aus dem Rumänienurlaub zurückkehrend gegen den Strom.

Im Jahr 2004, nachdem er sich an Westeuropa sattgesehen hatte, folgte Jeute der Kindheitserinnerung an die Gerüche Rumäniens von dampfendem Asphalt, Wassermelone und „Telemea“ – und kehrte bis heute für kurze oder längere Aufenthalte immer wieder zurück. Er arbeitete eine Weile im Teutsch-Haus in Hermannstadt, studierte an der dortigen Universität und unterhielt seine baufällige Mietwohnung in der Hermannstädter Unterstadt auch noch, als er schon längst ein Studium am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig aufgenommen hatte.

Seinen Kindheitserinnerungen nachreisend ist ihm Rumänien zu einer Art Heimat geworden. Heimat, ist er sodann auch überzeugt, hat immer etwas mit Kindheit zu tun: „Die ganzen älteren Leute, die in Deutschland sitzen und von Schlesien oder Ostpreußen erzählen, oder die, die immer wieder in die Türkei zurückfahren oder in die Länder des ehemaligen Jugoslawiens... Es ist ja nicht immer geil gewesen im Preußen der 1920er/30er-Jahre oder in Anatolien, der Vojvodina oder sonst wo. Es hat damit zu tun, dass die Leute jung waren, und mit dieser Unbeschwertheit, die jetzt weg ist, dieser kindlichen Freude, die uns irgendwann verloren geht. Und das tut weh.“

Doch möchte Jeute das Rumänien seiner Kindheit nicht glorifizieren. „Der Geruch hat sich natürlich komplett verändert“, sagt er ohne Bedauern.

Vielmehr stört es ihn, dass viele Menschen das Gefühl, dass ihnen etwas verloren gegangen ist, an die großen Erzählungen des Nationalismus koppeln. „Aber was soll das schon sein, dieses Deutschland, dieses Rumänien?“, fragt er. „Die Antworten gehen nie über die Sprache und die Religion hinaus. Und was ist Religion? Wie mache ich mir meine Mici, meine Cevapcici, mein Kebab? Im Endeffekt ist es das Gleiche, es kommt nur eine Prise Salz oder ein bisschen mehr Rind hinein.“

Und gerade deshalb stellt sich Jeute schreibend Fragen danach, was es mit der Bukarester Gesellschaft macht, wenn es im Lipscani-Viertel, dem vormals so „leeren“ Zentrum der Hauptstadt, keinen öffentlichen „Grătar“ mehr gibt, der ordentliche „Mici“ verkauft. Oder was es für die Leute in Cristian (Grossau) bedeutet, dass plötzlich Fußwege die Straßen säumen, die sie eben noch mit Autos, Karuzzen und Fahrrädern teilten. Oft genug lassen ihn diese Fragen ratlos zurück – wie wenn er in unserem Gespräch immer wieder feststellt, er wisse nicht, wie er das jetzt sagen solle.
Schreiben ist seine Weise herauszufinden, wie man die Dinge sagen kann, und sein Versuch, sich dem zu nähern, was ihn angesichts der Banalität des Alltags umtreibt. Auf seiner Suche wird es ihn sicherlich auch in Zukunft nach Rumänien ziehen. „Der Westen“, so resümiert er, „ist schon viel glatter, viel durchorganisierter. In München oder Paris hast du viel weniger Gestaltungsmöglichkeiten als in Berlin. Und in einem Berlin oder Leipzig des Jahres 2020 hat die Masse der Menschen auch eine Million Mal weniger Möglichkeiten als im Jahr 2000.“

So versucht der Autor etwas in den Blick zu bekommen, das quer zum Fortschrittsdenken liegt. Schließlich habe inzwischen fast jedes noch so kleine rumänische Dorf schnelles Internet, sagt er. Warum es dennoch viele von Jeutes rumänischen Freundinnen und Freunden in den Westen zieht, hat wohl mit anderen, vielleicht härteren, doch nicht weniger ambivalenten Alltäglichkeiten zu tun.

Paul Jeute, Jahrgang 1981, lebt und arbeitet als freier Autor, Lektor und Nachtportier in Leipzig. Als Micul Dejun veröffentlicht er Lyrik, Prosa und Essays. Weiterführendes unter: miculdejun.blogspot.com