An die eigene Nase fassen

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Kommen Menschen in unvorhersehbare Situationen oder gar Krisen, tauchen bald zwei Fragen auf: Warum passiert das alles und wer hat das zu verantworten? Schnell schließt sich die Suche nach Schuldigen und eventuellen Profiteuren der Lage an. Dass ein Übel einfach so geschehen kann, scheint vielen weit weniger naheliegend als ein – von wem auch immer – geplantes Vorgehen.

Zweifellos befindet sich die gesamte Welt bereits seit vielen Monaten in einer Krisenlage. Einiges hat sich in dieser Zeit sichtbar und spürbar verändert. Die aktuelle weltweite Situation hätte sich vor einem Jahr wohl niemand ausgerechnet. Nicht so neu ist aber, wie mit der Ursachensuche umgegangen wird – sie unterscheidet sich nämlich erschreckend wenig von ähnlichen Beispielen in der Vergangenheit, denn Pandemien sind historisch nichts Neues. Und ebenso wenig sind es Schuldzuweisungen: Die Attische Seuche im 5. Jahrhundert vor Christus schoben die Perser den Athenern in die Schuhe. Juden wurden verantwortlich gemacht für die Pest, die zwischen 1346 und 1353 in Europa Millionen Menschen dahinraffte. Der Mythos der Brunnenvergiftung hat sich seitdem tief in antisemitische Weltanschauungen eingebrannt. Damals erreichten Übergriffe solche Ausmaße, dass die jüdischen Gemeinschaften mancherorts quasi verschwanden. Im 19. Jahrhundert waren es Lumpensammler und Weinhändler, die der Choleraausbrüche bezichtigt wurden. Bei manchen Erkrankungen, so zum Beispiel bei der Syphilis, fand die Schuldzuweisung sogar Einzug in die Sprache: Sie ist auf Deutsch als Franzosenkrankheit bekannt und wird in anderen Sprachen wahlweise als Italienische, Deutsche oder Polnische Krankheit bezeichnet. Gemein ist den Beispielen: Es sind immer die anderen.

Dies ist ein aus der Rassismusforschung bekanntes Phänomen: das sogenannte „Othering“. Bewusst oder unbewusst wird dabei einer Gruppe, den „Anderen“, eine Gefahr für das „Wir“, die eigene Gruppe, zugeschrieben. Es ist eine häufige Reaktion auf als bedrohlich wahrgenommene, rasche Veränderungen.

Zahlreiche Versuche auch in der Coronapandemie, eine andere Gruppe bewusst als Verantwortliche zu konstruieren, ließen sich vor allem am Anfang beobachten. Der US-amerikanische Präsident scheiterte zwar daran, den Namen „Chinese virus“ salonfähig zu machen. Diskriminierung gegenüber „asiatisch aussehenden“ Menschen nahm trotzdem zu. Schnell wurden China auch ökonomische Interessen unterstellt und Theorien, das Virus sei absichtlich in Umlauf gebracht worden, verbreiteten sich schneller als die Atemerkrankung selbst. Neben China wurden bald auch Einzelpersonen wie Bill Gates partikuläre Interessen unterstellt oder aber auch nichtstaatlichen Akteuren wie Pharmakonzernen. Da ist auch der Griff in die antisemitische Vorurteilskiste nicht weit, gern auch gemischt mit Antiamerikanismus oder Nationalismus. Es sind dauerhaft schwelende Ressentiments, die in Krisenzeiten wieder an die Oberfläche kommen, aber dauerhaft in unterschiedlichsten Erscheinungs- und Ausprägungsformen vorhanden sind. Die Unterstellung von Absichten und Skrupellosigkeit anderer ist ein gefährlicher Nährboden für jede Art von Verschwörungstheorien. Dass viele noch so abwegige Erklärungsversuche überzeugender scheinen als ein Übel, das man nicht auf simple, von anderen bewusst verursachte Gründe zurückverfolgen kann, ist vielleicht menschlich, aber rational wenig nachvollziehbar.

Zumindest was Infektionskrankheiten anbelangt, ist es ein Fakt, dass es bis zu 8000 Krankheiten im Tierreich gibt, sogenannte Zoonosen, die potenziell humanpathogen, also gefährlich für den Menschen, sind oder werden können. Das kann zufällig geschehen oder durch Anpassung der Viren, Bakterien, Parasiten oder Pilze an andere Lebensbedingungen – wie sie der Mensch provoziert. Neue Infektionen können also durchaus „grundlos“ bzw. nicht zielgerichtet auftreten, die Wahrscheinlichkeit dafür aber beeinflusst werden. Und dies geschieht permanent, indem der Mensch auf der ganzen Welt natürliche Lebensräume dem Erdboden gleichmacht, symbiotisches Zusammenleben stört und den Klimawandel vorantreibt. Die WHO warnt seit Jahren vor der Gefahr von Pandemien. Unter anderem unser Lebenswandel, die Globalisierung und der Klimawandel machen demnach das Auftreten von Krankheiten, aber auch deren Verbreitung immer wahrscheinlicher. Wir haben uns durch medizinische Fortschritte, insbesondere seit dem breiten Einsatz von Antibiotika und flächendeckender Impfungen, an ein Leben ohne ständig drohende gesundheitliche Gefahren gewöhnt – und dabei übersehen, dass wir uns neue Probleme selbst verursachen.

Statt sich in einer unangenehmen Krisensituation nach den „Anderen“ umzusehen, wäre es an der Zeit, konstruktiv bei sich selbst und dem eigenen Verhalten anzufangen. Egal ob man das Auto stehen lässt und Fahrrad fährt, lokal und saisonal einkauft oder aktuell Abstand hält: Es kommt auf jeden einzelnen an. Und an die eigene Nase fassen hat noch nie geschadet – wenn die Nase in der Maske steckt und man sich davor und danach die Hände gewaschen hat.