„Auch heute tun sich noch Bilder auf“

Interview mit Martina Müller vom Bund der Deutschen Katholischen Jugend

Seit Jahren arbeitet Martina Müller mit Jugendlichen zusammen, inzwischen ist sie selber stolze Mutter.
Foto: Robert Tari

Martina Müller lebt in Berlin, besucht aber jedes Mal das Banater Bergland, wo sie an diversen sozialen Projekten mitwirkt. Nachdem sie 1994 die Schule beendet hatte, wusste die damals 19-Jährige noch nicht, was sie mit ihrem Leben anfangen sollte. Ein Freiwilligenjahr in Rumänien öffnete ihr die Augen. Vor einigen Jahren bot ihr das Institut für Auslandsbeziehungen (ifa) die Stelle der Regionalkoordinatorin in Hermannstadt an. Das Angebot lehnte Müller zwar ab, ist aber weiterhin dem Land und den Menschen treu geblieben. ADZ-Redakteur Robert Tari sprach mit ihr in Berlin über ihre Eindrücke von Rumänien.

Gleich nach dem Abitur 1994 haben Sie sich für ein Freiwilligenjahr in Rumänien entschieden. Wieso?

Ich bin das erste Mal im Jahr 1993 als Teilnehmerin einer Jugendfreizeit mit Jugendlichen aus Erfurt und Karansebeschern ins Banater Bergland gereist. Ich durfte damals interessante Menschen kennenlernen, bin oft über den Markt in Karansebesch/Caransebeş geschlendert und besuchte durch das Programm auch Familien. Mich hat das Land durch diesen kleinen Eindruck im Banat sehr fasziniert. Ich stieß damals, Anfang der 1990er Jahre, auf krasse Gegensätze. Es gab so viele arme Menschen, aber gleichzeitig auch viele wohlhabende. Dieser Kontrast hat mich dazu bewogen, näher in die rumänische Kultur einzusteigen.  Darum habe ich mich dann umgehört, wo man einen Freiwilligendienst machen kann. Die katholischen Gemeinden aus meiner Heimatstadt boten Programme an. Die Pfarrer aus dem Banater Bergland hatten gute Kontakte nach Deutschland. An die habe ich mich gewandt und habe zuerst in einer katholischen Pfarrgemeinde mitgearbeitet und schließlich in der Caritas-Station in Temeswar.

Die erste Anlaufstelle in Rumänien war die Stadt Karansebesch. Die Stadt gehört nicht unbedingt zu den schönsten Orten des Landes. Wie hat das Land auf Sie gewirkt, nachdem Sie Karansebesch erkundet hatten?

Ich war am Anfang schon geschockt. Es war eine sehr heruntergekommene Stadt und ich erinnere mich, dass es damals einen Streik gab. Die Zugfahrer protestierten, weshalb keine Züge fuhren, als ich in das Land eingereist bin. Darum nahmen wir in Karansebesch einen Bus und mit uns stieg auch eine Frau ein. Sie hatte einen großen Sack mit Gänsen bei sich, den  sie uns vor die Füße warf. Für uns war das ein Schock gewesen, weil wir so etwas noch nie in unserem Leben gesehen hatten. Also – ich hatte schon Gänse gesehen, aber keine, die mit einem mitreisten bzw. mitlebten. Das war wirklich ungewöhnlich für uns. Und als wir dann die Innenstadt erreichten, sahen wir einen großen Coca-Cola-Lkw, der von Menschenmassen überrannt wurde. Jeder wollte  schnell eine Büchse erhaschen. Der viele Wirbel und der Tumult überraschte mich, und die heruntergekommenen Häuser, die armen Leute, die es auch in der Innenstadt gab, schockierten mich. Ich habe danach in Weidenthal sehr fröhliche, sehr aufgeschlossene und interessierte Menschen erlebt, die heiß drauf waren, zu erfahren, wie Jugendliche in Deutschland leben. Das hatte mich dazu bewogen, mehr über die rumänische Kultur zu erfahren.

Nach Ihrer Zeit dort sind Sie nach Temeswar zur Caritas gegangen, wo Sie als Freiwillige gearbeitet haben. Erlebten Sie dort auch einen kulturellen Schock?

Nach den Erlebnissen in Karansebesch und dadurch, dass ich wusste, womit sich die Caritas beschäftigt, war ich auf Temeswar ein wenig besser eingestellt. Aber für mich war die Zeit bei der Caritas sehr prägend gewesen: Ich erinnere mich an eine Frau, zu der wir gerufen wurden, sie lebte in einem Kellerverschlag, dort hatte sie ein Bett, da standen zwei Holzplatten schräg von der Wand weg und ein Paar Schaumstofffetzen. Sie hatte sich den Oberschenkel gebrochen und vegetierte da vor sich hin. Sie hatte kein Geld, die Behandlung im Krankenhaus zu bezahlen. Oder ich erinnere mich an ein Altenheim, wo wir hingerufen wurden, da lagen die Menschen in ihren Betten seit Monaten, ohne dass sie gewickelt wurden. Das nimmt einen schon mit. Auch heute tun sich noch Bilder auf. Ich habe aber auch das Gefühl gehabt, dass, wenn wir uns Zeit für die Menschen genommen haben, um mit ihnen zu reden und sie zu unterstützen, sie sich sehr dankbar zeigen. Das habe ich damals so empfunden. Es war mir natürlich klar, dass ich es mit den Ärmsten der Armen zu tun haben würde, wenn ich zur Caritas gehe. Die Zeit dort hat mir geholfen, mich für ein Studium zu entscheiden. Ich fasste schließlich den Entschluss, in die soziale Arbeit einzusteigen. Ich empfand es dann auch als meine Mission.

Was halten Sie von Temeswar?

Ich finde, Temeswar ist eine wunderschöne Stadt. Die Sozialeinrichtung der Caritas blieb zwar in Dâmboviţa, aber das Büro zog in den ehemaligen Bischofspalast am Domplatz. Ich bin damals oft durch das Stadtzentrum spazieren gegangen. Damals gab es noch nicht die Kneipen, die es heute gibt, aber allein die Architektur in der Stadt faszinierte mich. In Temeswar gibt es vieles zu sehen und zu tun, besonders was Kultur betrifft: Es gibt Theater und Kinos, die es in Karansebesch nicht gab. Ich habe auch viele Leute kennengelernt, mit denen ich viel unternommen habe. Andererseits ist die Armut auch in Temeswar sichtbar. Es gibt viele Straßenkinder, was man durch die Arbeit bei der Caritas eben noch einmal stärker bemerkt.

Sie besuchen das Land nun inzwischen seit 20 Jahren regelmäßig. Wie hat sich für Sie Temeswar entwickelt?

Die Stadt ist auf jeden Fall hübscher geworden. Man sieht, dass man mit Hilfe von EU-Geldern viel restauriert hat. Ich habe außerdem viele Leute kennengelernt, die für die GTZ in der Stadt gearbeitet haben und sich mit der Sanierung der Altstadt herumplagen mussten. Und dann sind da scheinbar über Nacht Supermarktketten nach der  anderer wie Pilze aus dem Boden geschossen. Ich weiß ehrlich gesagt nicht, was man davon halten soll. Wenn man hört, dass das Iulius Mall Einkaufszentrum eines der größten Osteuropas sein soll, das klingt dann fast schon nach Gigantomanie. Und was ich früher sehr grotesk fand, waren so die kleinen Detailfehler. Zum Beispiel wurde ich auf eine Hochzeit eingeladen und das Standesamt lag damals auf dem Dach der Iulius Mall gleich neben einem Freiluftbad. Da rannten Leute in Frotteehandtüchern herum, während sich die Brautpaare vor der Glaswand postierten. Das fand ich wirklich schräg. Aber auch wahnsinnig spannend: Das Land entwickelt sich rasant und diese Entwicklungen werden meist ganz schön nach außen getragen.

Heute sind Sie besonders im Banater Bergland tätig, und zwar in dem ehemaligen böhmischen Dorf Weidenthal. Erzählen Sie mir kurz etwas über das Projekt, woran Sie sich beteiligen.

Es handelt sich bei dem Projekt, das im Banater Bergland verortet ist, um ein kirchliches Jugendaustauschprojekt. Sinn der Sache ist es, rumänische und deutsche Jugendliche zusammenzubringen, um gemeinsam Ferien miteinander zu verbringen. Es wird nicht nur herumgestanden, sondern sie beteiligen sich an diversen Projekten und müssen verschiedene Aufgaben erfüllen. Zum Beispiel bringen sie das alte Pfarrhaus wieder in Schuss. Das Schöne an diesem Projekt, finde ich, ist die Tatsache, dass es Jugendlichen aus ärmeren Familien die Möglichkeit bietet, auch Ferien zu verbringen und dafür einfach mal die Stadtgrenzen zu verlassen. Für mich ist es eine Bereicherung, wenn sich Kulturen begegnen, die sich eigentlich nicht jeden Tag begegnen und so voneinander lernen können. Wir veranstalten immer Themenabende und Workshops, damit auch die deutschen Jugendlichen, denen die rumänische Kultur fremd ist, die Möglichkeit haben, über den Tellerrand zu schauen. Das ist interkulturelles Lernen. Für mich ist das auch eine Form von sozialer Arbeit.