„Auf den Brexit verzichten wir nicht“

„Auf den Brexit verzichten wir nicht, eher noch auf die Einheit unseres Königreichs!“ Jeder König von England würde jederzeit solche Gedanken mit der Entfernung des Kopfes ahnden, der sie dachte. Ob Ersteres Patriotismus ist, oder ist es die Königsgeste beim Ahnden der Staatsketzerei, bleibt dahingestellt. Für die britischen Konservativen (Torys) bleibt der Brexit erste und unverhandelbare Priorität. Davon wird Boris Johnson (die „blonde Ambition“ träumt vom „Independence Day“) kommende Woche profitieren.

Eine Umfrage von YouGov ergab, dass 63 Prozent der Torys bereit sind, Schottland zu verlieren, um den Brexit durchzusetzen, 59 Prozent würden auf Nordirland verzichten. 61 Prozent haben „kein Problem“ mit „einer spürbaren wirtschaftlichen Schwächung“ Englands nach dem Brexit. 54 Prozent hätten auch kein Problem, wenn ihre Partei (eigentlich: „The Conservative and Unionist Party“) am Brexit zugrunde ginge. Und das, obwohl bei einem Durchschnittsalter der Parteimitglieder von 57 Jahren die Torys die Partei mit dem höchsten Nostalgieniveau nach dem British Empire sind. Ob man das Hass auf EU-Europa nennt? Oder Patriotismus? Oder Unabhängigkeitswahn? Oder einfach Fremdenhass? Vergessen wir nicht: während des Propagandakriegs pro und contra Verbleib, vor dem Referendum 2016, wurde die „Remain“-Labour-Parlamentarierin Jo Cox im so zivilisierten und demokratischen England ermordet. Wegen ihrer politischen Haltung. Tiefen des stillen Wassers Großbritannien.

Die Torys reagieren immer gereizter auf die schottischen Separatisten (Zentrum Edinburgh) und ihre Anführerin, Nicola Sturgeon, Chefin der Scottish National Party (SNP), die keine Gelegenheit verpasst, darauf hinzuweisen, dass die schottische Reaktion auf den Brexit die neuerliche Volksbefragung zur Unabhängigkeit Schottlands und zum Wiederbeitritt zur EU sind. Etwas komplizierter, aber nicht grundsätzlich anders die Lage in Nordirland. Die Grenze zu Irland war bislang eine Haupthürde für den Brexit. Hätte es aber den Karfreitagvertrag von 1997 nicht gegeben...
Die alarmierenden Umfrageergebnisse des YouGov haben einen der bisher als neutral empfundenen und hoch sympathisierten englischen Politiker, den Ex-Labour-Premierminister Gordon Brown auf den Plan gerufen, der sich in der „Daily Mail“ zu Wort meldete, weil „sich die Union, die vom Vereinigten Königreich repräsentiert wird, in ihrer 312-jährigen Geschichte noch nie in einer größeren Gefahr befand als heute.“ Der Schotte Brown, der trotz treuer Labour-Zugehörigkeit akzeptiert hatte, den Tory David Cameron zu beraten, als der fühlte, dass die Unabhängigkeitsanhänger beim Schottlandreferendum 2014 die Oberhand zu erringen drohten, setzte seine Popularität in Schottland aufs Spiel – und drehte den Ausgang. Dies trotz der Tatsache, dass David Cameron drei Jahre vorher Brown die Unterstützung versagt hatte, als dieser Chef des Internationalen Währungsfonds IWF werden wollte. Im Falle Brown: englischer Patriotismus seitens eines Schotten... 
In der „Daily Mail” macht Brown darauf aufmerksam, dass die SNP heute viel entschlossener ist als 2014. Sogar bis hin, auf den britischen Pfund zugunsten des Euro zu verzichten.

Die Pax Britannica zerbröselt. Die Europaphobie der Torys überbordet. Zur Brexit-Durchführung ist ihnen kein Preis zu hoch, weder ein immenser wirtschaftlicher und Image-Schaden für Großbritannien, noch der Zerfall des Königreichs. Ausgeglichenheit, Toleranz, Chancengleichheit, gleichberechtigter Zugang zu den Ressourcen – die bisherige Basis des Zusammenlebens von Briten, Schotten, Iren und Walisern – sind zugunsten des Brexit egal geworden. Patriotismus wurde zum Nationalismus. 
Die Remain- oder Leave-Wähler fühlen sich im Hassozean der Torys alleingelassen. Andrerseits: drei Jahre nach der plebiszitären Befürwortung des EU-Austritts hat Englands Politik noch nichts geleistet.