Auf den Spuren der Revolution vor 32 Jahren in Temeswar

„remind MAPPING ´89“-Projekt: Schüler dokumentieren und erstellen interaktive Karte

„reMIND MAPPING ’89“ ist ein Projekt, das jungen Menschen gewidmet ist, um das Bewusstsein für den Wert der Freiheit und den (un)menschlichen Preis, der dafür während der Revolution von 1989 gezahlt wurde, zu fördern. | Fotos: reMIND MAPPING ´89

Schüler und Studenten trugen in dem Projekt zur Bewahrung der Erinnerung an die Revolution vom Dezember 1989 in Temeswar bei. Sie haben lange Interviews mit Zeitzeugen von vor 32 Jahren geführt. Ihre Aussagen und Erzählungen sind nun Teil einer interaktiven Stadtkarte, die virtuell unter gistm.ro/revolutie abgerufen werden kann.

Anfang Dezember wurde eine neue Fotoausstellung im Haus der Gedenkstätte der Revolution als Fortsetzung des Projekts eröffnet. In einem Raum der Gedenkstätte ist auch die sogenannte „Karte der Revolution“ zu finden.

„Was bedeutet Freiheit?“ – von dieser Frage ausgehend wurde 2019, 30 Jahre nach der Temeswarer Revolution von 1989, ein Projekt ins Leben gerufen: „remind MAPPING ´89“ zur Erhaltung der Erinnerung an die Revolution von 1989 in Temeswar/Timișoara. Ein Ziel war auch, jungen Menschen den Wert der Freiheit und den (un-)menschlichen Preis, der dafür bezahlt wurde, bewusst zu machen. Hierzu haben Temeswarer Schüler und Studenten eine umfangreiche Recherche durchgeführt, mit stundenlangen Video- und Höraufnahmen, Interviews und Erzählungen, mit den Zeitzeugen der Ereignisse vor 32 Jahren. Sie wurden für die Erstellung einer interaktiven „Stadtkarte der Revolution“ in Temeswar bereitgestellt.

In diesem Jahr werden 32 Jahre seit der Revolution von 1989 in Temeswar begangen. Das Projekt wurde zu diesem Anlass fortgesetzt. Mehr als 60 Lyzeumsschüler in verschiedenen Temeswarer Schulen haben sich daran beteiligt. Sie führten Interviews, die nun von der interaktiven Karte abrufbar sind – insgesamt rund 48 Stunden Aufnahmematerial. „Die Teilnahme an diesem Projekt gab ihnen die Möglichkeit, sich direkt mit Menschen zu treffen, die echte Vorbilder für Heldentum, Würde und spirituelle Stärke sein können, Menschen, die im Dezember 1989 laut und einstimmig das Wort ‚Freiheit‘ riefen“, sagt die Koordinatorin des Projekts, Alina Satmari, Lektorin an der Abteilung für Geografie an der West-Universität Temeswar.

Temeswarer Schüler-Freiwillige haben  in den beiden Jahren des Projekts über 50 Leute interviewt, die auf den Straßen von Temeswar, Bukarest und anderen rumänischen Städten im Dezember 1989 gegen das kommunistische Regime protestierten. 

Weitere Aussagen und Geständnisse, Teil des Archivs der Zentralbibliothek der Universität zur mündlichen Geschichtssammlung, das von der Professorin Smaranda Vultur angelegt wurde, sind ebenfalls im neuen virtuellen Revolutionsarchiv zu finden. 
„Es war der 17. Dezember. Da haben sie mich zum ersten Mal angeschossen“, beginnt Adrian Kali einen seiner Berichte über die Revolution, die er auf den Straßen von Temeswar, an der Decebal-Brücke, selbst miterlebt hat. 

„Mein Name ist Cristina Boțoc. Ich war damals 13 Jahre alt. Der 17. Dezember war ein Sonntag. Ich erinnere mich, dass ich an dem Tag in die Kirche ging. Auf dem Weg nach Hause sah ich viele Menschen vor dem Capitol-Kino; um das Rathaus standen Soldaten. Am selben Abend, so gegen 19. 30 Uhr, hörte ich auf den Straßen einige Menschen rufen: „Nieder mit Ceaușescu!“, „Rumänen, kommt mit uns!“ Zusammen mit meiner Zwillingsschwester wollte ich sehen, was passiert. Unsere Eltern wollten uns zuerst nicht gehen lassen, doch dann sagten sie letztendlich: „Okay, aber kommt gleich zurück“. Als meine Schwester das hörte, zog sie schnell ihre Jacke an und rannte die Treppen hinunter. Als ich auch unten ankam, sagte mir meine Schwester, wir sollen mit den Leuten da draußen mitgehen. Ich wollte nicht. Sie ging aber los. An diesem Abend warteten wir vergeblich auf sie, sie kam nicht mehr zurück. Sie wurde in der Lippaer Straße mit einem Herzschuß tödlich verletzt“.

Die Aussage von Cristina Boțoc über ihre verstorbene Zwillingsschwester Luminița ist nun Teil der interaktiven Stadtkarte der Revolution von Temeswar. Darin ist jede „Erzählung“ mit dem Ort verbunden, über den gesprochen wird: der Marienplatz/Piața Maria bzw. das ehemalige Pfarrhaus des reformierten Pastors László Tökés, dort, wo sich die ersten Menschen am Abend des 15. Dezember und am darauffolgenden Tag versammelten und wo die sogenannte Flamme der Revolution ausgebrochen war; die orthodoxe Kathedrale der Heiligen drei Hierarchien, wo in den ersten Tagen der Revolution Menschen auf den Treppen von den Truppen der Armee, der Securitate, der Miliz usw. erschossen wurden; die Standorte der ehemaligen Industriefabriken, der Nordbahnhof, die Temewarer Staatsoper; der Freiheitsplatz; die Temeswarer Präfektur – all diese Schlüsselorte und viele andere bilden anhand von Erzählungen eine lebendige Stadtkarte der Revolution. Archivbilder der Fotografen Constantin Duma und Tamas Urban, Daten über die Festnahmen (Geschlechter, Autoren der Festnahmen, Aggressionsbeweise, Tage, Uhrzeiten usw.) sowie Interviews und Videoaufnahmen und auch geschriebene Bekenntnisse bilden die interaktive Karte, die kostenlos von der Webseite gistm.ro/revolutie abrufbar ist.

reMIND Mapping 89 ist auf Initiative derTemeswarer NGO GIS Temeswar, die interaktive Karten und geografische Computersysteme erstellt, in Zusammenarbeit mit dem Geografielehrstuhl an der West-Universität Temeswar entstanden. Die Idee wurde geboren während der Sommerschule innerhalb des „Astra“-Filmfestivals in Rosenau/Râșnov und wird nun in Partnerschaft mit der Casa Paleologu-Stiftung, der Gedenkstätte der Revolution Temeswar und dem Projektezentrum der Stadt umgesetzt. 

Doch was ist wahre Freiheit? Um darauf eine Antwort zu finden, wurden die Schüler in Gruppen eingeteilt und haben sich auf Entdeckungsreise in die Vergangenheit begeben. Die dabei entstandenen Aufnahmen bieten einen emotionellen, persönlichen Blick auf die Erlebnisse der jeweiligen Revolutionäre. Der älteste Gesprächspartner der freiwilligen Teilnehmer war 95 Jahre alt; der jüngste war bei der Revolution elf Jahre alt gewesen. „Die Aufnahmen sagen die Wahrheit, sie klagen an oder sie heilen Seelen“, sagt Projektkoordinatorin Alina Satmari. 
„Mehr als 30 Jahre nach den Ereignissen vom Dezember 1989 verfolgt die jüngste Vergangenheit immer noch ihre Mitwirkenden. Das Unbehagen unter den Rumänen, auch wenn man sich nicht immer dazu bekennt, ist allgemein gegenwärtig: auf der einen Seite Feindseligkeit und Enttäuschung der Opfer, auf der anderen die Nostalgie der älteren Generationen oder die Gleichgültigkeit der jungen. Das Projekt ‚reMIND MAPPING 89‘– versucht, das menschliche Gedächtnis und das Weltgedächtnis sowie die Gleichgültigkeit junger Menschen in Engagement umzuwandeln, indem es die Erinnerung zurückgewinnt, denn die Gesellschaft kann kein Minimum an Konsens finden, solange kein Licht auf die jüngere Geschichte Rumäniens geworfen wird“, sagt auch Professor Minel-Dorin Răduți, ebenfalls Koordinator des Projekts.  

Für die Schüler war das Erlebnis innerhalb des Projekts mehr als nur eine Erzählung von historischen Fakten. Sie konnten die Geschichte hautnah erleben. „Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich verstanden, wie wenig ich eigentlich von der Revolution bisher gewusst habe. Es ist wahr, wir leben in einer Ära, die von Informationen umgeben ist, und trotzdem sind uns die Details der Ereignisse vom Dezember 1989 unbekannt. Wenn man nun all diese Dinge live erzählt bekommt, dann kann man sie fast vor den eigenen Augen abspielen und die Puzzlestücke finden endlich ihren richtigen Platz in der Geschichte“, sagt Bianca Ionescu, eine Freiwillige im Projekt. „Wir alle haben von der Revolution gehört. Doch das Projekt hat mir geholfen, diese Menschen mit anderen Augen und die Geschichte als Realität zu betrachten, nicht bloß als Erzählung aus dem Geschichtsbuch“, setzt die Schülerin fort. 

„Ich durfte durch dieses Projekt wunderbare Menschen mit brillanten Erfahrungen und Erinnerungen entdecken. Ich habe gelernt, was wahre Kommunikation bedeutet, ich hatte die Gelegenheit, die Geschichten von Menschen zu entdecken, die die Revolution live erlebt haben, und ich habe einen ersten Schritt gemacht, um herauszufinden, was es heißt, ein kleiner Reporter zu sein“, sagt Schülerin Cosmina Hurmuz. 

Das vor zwei Jahren begonnene Projekt wurde in diesem Jahr ergänzt: Unter dem Namen „reVEDERE“ (Wiedersehen) wurde im Haus der Gedenkstätte der Revolution in der Oituz-Straße 2B auch eine „emotionelle Fotoausstellung“ eröffnet. Alte Fotos, Dias und Filmaufnahmen vom Dezember 1989 in Temeswar aus dem Archiv der Gedenkstätte werden darin, ebenfalls interaktiv, vorgestellt. „Ziel ist es, zur Erstellung eines Archivs des kollektiven Gedächtnisses der Stadt beizutragen“, sagt Projektkoordinatorin Alina Satmari. 


Informationen zum Projekt sind von der Webseite gistm.ro/revolutie sowie von den sozialen Netzwerken Facebook und Instagram unter dem Namen „reMIND MAPPING 89“ abrufbar.