Auf der Jagd nach den Schatten der Vergangenheit

Eine Forscherin auf Entdeckungsreise – auch in die dunkle Seite der Geschichte der Bessarabiendeutschen

Ute Schmidt bei der Vorstellung ihres Buchs „Bessarabien“ im Dezember 2018 in Kiew. Fotos: privat

Ulrich Baehr gestaltete das visuelle Konzept der Ausstellung.

Die Ausstellung in der Ovidius-Universität Konstanza

„Ich bin eigentlich Soziologin und Politwissenschaftlerin. Meine Familie stammt aus Bessarabien - aber das hat mich früher nicht interessiert“, bekennt Ute Schmidt fast entschuldigend. Heute gilt sie als führende Expertin für die Bessarabiendeutschen, hat zwei Bücher zum Thema verfasst und zusammen mit ihrem Ehemann, dem Maler und Grafikkünstler Ulrich Baehr, eine Ausstellung konzipiert, mit der das Paar seit zehn Jahren durch die Weltgeschichte reist. Woher dieser unerwartete Erfolg? Das Schicksal von Minderheiten interessiert doch sonst meist nur einen eingeschränkten Kreis...


In die Geschichte ihrer Vorfahren wurde Ute Schmidt ganz unversehens hineingezogen. Im Gegensatz zu ihrer Mutter Herta, die sich zur Zeit der Perestroika, als man endlich wieder in den Osten reisen konnte, auf die Spuren ihrer Vergangenheit begab. Auf einer ihrer ersten Fahrten nach Bessarabien wurde sie prompt verhaftet. „Sie wollte in unser Dorf, Tarutino, das liegt nahe am Schwarzen Meer mit traumhaften Buchten, doch damals war das militärisches Sperrgebiet. Die SS-20 waren dort stationiert“, erklärt Ute Schmidt. Eine Nacht verbrachte die über 70-Jährige im Gefängnis. Abgeschreckt hatte sie das Erlebnis nicht - im Gegenteil. Im nächsten Jahr wolle sie wieder fahren, teilte sie der entsetzten Tochter mit - allein. Das kommt nicht in Frage, beschloss diese im Stillen.

Auf die nächste Reise begleitete sie ihre Mutter. „Das war 1989“, erinnert sich Ute Schmidt. Auf der langen Busfahrt durch den Balkan führt sie aus Langeweile Interviews mit mitreisenden Bessarabiendeutschen. Mal sitzt sie neben dem einen, mal neben dem anderen. „Man muss Zeit haben, die Leute reden lassen, so mancher gerät in einen Erzähl-strudel.“ Das Aufzeichnungsgerät läuft. „Später kann man daran anknüpfen, nachfragen, andere dazufragen.“ So sei daraus eine ganz große Geschichte zusammengewebt worden, lächelt Ute Schmidt.

Immer tiefer wird sie in das Thema hineingezogen. Es bleibt nicht bei der einen Reise. Die Interviews werden später Zeitzeugenberichte für ihr erstes Buch. Drei Jahre lang fuhr sie kreuz und quer durch Deutschland, um nach Hinweisen weitere Leute zu befragen. „So ist ein ganz großer Erzählteppich entstanden, den ich dann zerhacken musste“ - Stoff für ein zweites Buch. Irgendwann kommt eine Anfrage des Kulturforums Östliches Europa, ob sie das Thema nicht in einer Ausstellung zusammenfassen könne. Die „Tournee“ mit den von Ulrich Baehr grafisch gestalteten Rollups begann 2009 mit der Vernissage in Chisinau.

Tournee ohne Ende

12. April 2019, Konstanza. Auf der Konferenz „Deutsche Sprache und Kultur in Bessarabien, Dobrudscha und Schwarzmeerraum“ war Ute Schmidt als Hauptvortragende geladen (siehe ADZ-Online, 20. April 2019: „Kaum noch Deutsche, hohes Interesse an Deutsch“). In einer Pause stehen wir vor einer Auswahl an Rollups, die im ersten Stock aufgehängt sind. Ute Schmidt und Ulrich Baehr erzählen abwechselnd: Wie die Idee zur Ausstellung entstand. Von der Vernissage in Chi{in˛u und den folgenden Einladungen an bisher 27 Stationen. Zwei Mal war die Ausstellung bereits in Rumänien, in Hermannstadt/Sibiu und im Bukarester Bauernmuseum (ADZ-Online, 18. Juli 2015: „Lächelnd und gottergeben“). Ein Highlight als Ausstellungsort war die Universität in Czernowitz, ein anderes die Gedächtniskirche in Berlin. Ein Parallelauftrag ergab sich 2018 für eine Gemäldeaustellung von Ulrich Baehr in Chisinau, über politische Kunst. Sinkende Schiffe für gescheiterte Regime. Bedingung: „Kein Hitler und kein Stalin-Porträt, das wäre politisch zu sensibel“, schmunzelt Baehr.

Ende September kann man die Rollups mit der faszinierendenGeschichte der Auswanderung Deutscher nach Bessarabien im Museum von Dinkelsbühl bewundern. Seit zehn Jahren reist das Paar nun mit der Ausstellung um die Welt. Kein Ende abzusehen, nur eine Endstation: Die Gemeinschaft der Bessarabiendeutschen in North Dakota (USA) will sie für ihr geplantes Museum übernehmen.

Das Phänomen lässt beide staunen. Minderheitengeschichten interessieren sonst nur einen kleinen Kreis. Doch Baehr kann mit gleich drei Erklärungen aufwarten: „Erstens: Bessarabien hat einen exotischen Touch. Viele haben das Wort noch nie zuvor gehört, identifizieren es zunächst gar nicht mit der heutigen Republik Moldau.“ Zweitens: Die Geschichte der Bessarabiendeutschen ist vielen fremd, aber kompakt und überschaubar. Nach 125 Jahren, seit Zar Alexander I. deutsche Bauern zur Modernisierung der Landwirtschaft eingeladen hatte, schließt sich ihr Kreis; 1940 werden sie von Hitler „Heim ins Reich“ geholt. Drittens: Ihre Geschichte spiegelt im Kleinen alle wichtigen Umwälzungen des 19. und 20. Jh. wider. „Die Autokratie des Zarenreichs; deutsche Siedler als russische Modernisierungsstrategie - erfolgreich, dann kamen die Brüche, zugesagte Rechte wurden aberkannt; der Erste und Zweite Weltkrieg; die Umsiedlung und Wiederansiedlung in Polen.“

Einen wesentlichen Unterschied gibt es zu anderen umgesiedelten Deutschen: Die Bessarabiendeutschen gingen freiwillig, weswegen sie später keine Forderungen für Rückerstattungen stellen konnten. Und: Sie waren Teil eines schier unglaublichen Experiments der Nazis, das bald als Modell auf alle Deutschen angewandt werden sollte...

Die dunkle Seite der Umsiedlung

Als Ersatz für ihr zurückgelassenes Land, Hab und Gut, versprach man den Umsiedlern deutsche Höfe. „Doch statt wie versprochen im Reich hatte man sie einfach in Polen ausgekippt“, erzählt Ulrich Baehr. „Sie sind beschissen worden nach Strich und Faden. Das war eine harte Nuss.“ Denn dort waren die polnischen Bauern nur kurz davor von den Nazis vertrieben worden. In so manchem Backofen schmorte noch der Braten, die Suppe stand auf dem Tisch. Für die Umsiedler war die plötzliche Erkenntnis, unrechtmäßig den Besitz von Vertriebenen zu erhalten, ein Riesen Schock.

Die Nazis hatten sich zudem völlig verkalkuliert, setzt Ute Schmidt fort. Denn die umgesiedelten Deutschen konnte man in dieser Zahl gar nicht unterbringen. „Von überall hatte man Leute hergeholt, zum Schluss auch noch aus Litauen. Dann hat man festgestellt, dass es gar keinen Platz mehr gibt und sie zurückgeschickt - aber da saßen schon andere in ihren Häusern.“ Zum Teil hausten die Umsiedler jahrelang in Lagern, demoralisiert und schlecht ernährt. Viele Kinder und alte Leute starben. Jene, die das zweifelhafte Glück hatten, einen Bauernhof in Polen zugewiesen zu bekommen, mussten 1945 ins deutsche Kerngebiet fliehen. Mit diesem letzten Trauma schließt sich der Kreis der Auswanderung.

Euthanasieprogramm für das eigene Volk

Zeitzeugen, darunter eigene Verwandte, hatten Ute Schmidt schon früher erzählt, was sich erst jetzt nach und nach bestätigt: Die Nazis benutzten die Umsiedlung der Bessarabiendeutschen als Pilotprojekt für eine allgemein anzuwendende Auslese „minderwertiger“ Menschen. Kranke und Schwache wurden aus den Lagern ausgesondert. Für ihre Angehörigen verschwanden sie spurlos, bis eine Todesurkunde mit fiktivem Grund von ihrem Ableben informierte. In Heilanstalten ließ man sie besonders schwere Arbeiten verrichten und nahm ihren Tod in Kauf, in manchen wurde sogar aktiv „abgespritzt“. „Mein Onkel hat früher erzählt, sie brachten die Leute weg und ließen sie Wasserkarren ziehen, bis sie zusammenbrachen“, schockiert Ute Schmidt. Eine Tante verschwand auf mysteriöse Weise: „Mutter hat nie wieder etwas von ihr gehört. Irgendwann kam ein Brief von der Behörde, sie möchte doch die Kosten für die Verbrennung des Leichnams bezahlen.“

Mittlerweise gibt es handfeste Beweise für das Euthanasieprogramm der Nazis an den eigenen Landsleuten, verweist die Forscherin auf ein Buch von Maria Fiebrandt, „Auslese für die Siedlergesellschaft. Die Einbeziehung Volksdeutscher in die NS-Erbgesundheitspolitik im Kontext der Umsiedlungen 1939-1945“. „Ich hatte bei meinen Interviews viele solche Sachen gehört, aber damals hatte ich keinen Beweis“, erklärt Ute Schmidt, warum sie in ihren Büchern das Euthanasieprogramm nicht erwähnte. Nur in den Interviews sind die Aussagen enthalten.

A- und O-Fälle

Schon vor der Ausreise wurden die Bessarabiendeutschen zwecks Selektion zur „Gesundheits- und Arbeitsfähigkeitsprüfung“ geschickt. „Man erklärte ihnen, das sei nötig für die Zuweisung von Höfen.“ Dort wurden sie in A- und O-Fälle eingeteilt: „Die O-Fälle waren für den Osten würdig. Die A-Fälle hat man als minderwertig eingestuft, sie erhielten kein Land und keine Unterstützung. Die Männer hat man ins Altreich geschickt, wo sie irgendwo für kaum Geld in Lagern arbeiten mussten. Man hat ihnen Frauen und Kinder weggenommen. Und als die Lager aufgelöst wurden, hat man sie einfach auf die Straße gesetzt.“

In der Hubertusburg, schildert sie ein Beispiel, haben sich die Insassen des Lagers gegen die Klassifizierung gewehrt. Dort sagte man einem Vater, der Sohn müsse weg wegen eines Defekts am Arm. „Das hat einen Riesenaufstand gegeben.“ „Zuhause hatten wir einen Hof mit 30 Hektar, ihr habt uns hier das Gleiche versprochen und nur weil mein Sohn etwas am Arm hat, werden wir ausgeschlossen?“, wetterte der Betroffene. Die Folge war, dass die Anzahl der A-Fälle dort deutlich reduziert wurde, erzählt Ute Schmidt. „Heute kann man sagen, dass die Behandlung der Umsiedler eine Art Modell war, für die Kategorisierung aller Deutschen.“ Wer etwas zu dunkles Haar hatte, wer hinkte, wurde aussortiert. Ein junger, arbeitsfähiger Mann mit leichter Beinbehinderung hätte sich mit einer Kastration einverstanden erklären müssen, nur dann könne man über die Zuweisung eines Hofs reden, erpresste man dessen Vater. Familien wurden durch A- und O-Fälle auseinandergerissen, fanden oft nie mehr zusammen.

Die Glücklichen, die einen Bauernhof bekamen, ereilte der nächste Schock. Vor Ort erfuhren sie, dass die rechtmäßigen Besitzer ihretwe-gen vertrieben worden waren. „Ich hab Interviews gemacht mit Leuten, die sowas erlebt haben. Die konnten das nicht fassen! ’Das sind Menschen wie wir, denen können wir doch nicht alles wegnehmen!‘“ zitiert sie Ute Schmidt. „Die Masse der Umsiedler war zerstört durch diese Geschichten.“

Seit 2009 ist die Historikerin und Politologin, die an der Freien Universität Berlin forscht und lehrt, Mitglied der „Bessarabiendeutschen Historischen Kommission“, die die Zeit des Nationalsozialismus in Bessarabien unter wissenschaftlichen Ansprüchen geschichtlich aufarbeitet. Die Verhaftung ihrer Mutter, die erste Reise, die Zeitzeugen-Interviews im Bus – auf einmal bekommt alles einen Sinn. Eine späte Genugtuung für die Menschen, die der unbekannten jungen Frau während der langen Busfahrt ihre Herzen ausgeschüttet hatten.