Auf Schillers Höhe

Geschichte des Deutschen Literaturarchivs in Marbach am Neckar

Jan Eike Dunkhase, Provinz der Moderne. Marbachs Weg zum Deutschen Literaturarchiv, Stuttgart: Klett-Cotta 2021, 432 S., ISBN 978-3-608-96446

Im Stuttgarter Klett-Cotta-Verlag ist im Januar dieses Jahres ein Buch von Jan Eike Dunkhase mit dem Titel „Provinz der Moderne“ erschienen, das „Marbachs Weg zum Deutschen Literaturarchiv“ – so der Untertitel der historischen Studie – im Verlauf zweier Jahrhunderte nachzeichnet, und zwar von der Zeit Friedrich Schillers, der 1759 in Marbach am Neckar geboren wurde, bis hin zur faktischen Eröffnung des bereits in den fünfziger Jahren  gegründeten Deutschen Literaturarchivs am 16. Mai 1973 auf der Marbacher Schillerhöhe. Heute befinden sich in der rund 20 Kilometer nördlich von Stuttgart gelegenen Kleinstadt Marbach nicht nur die Schiller-Gedenkstätte in dessen Geburtshaus sowie das berühmte Schiller-Nationalmuseum, sondern, neben dem Deutschen Literaturarchiv und der zu ihm gehörenden Wohn- und Begegnungsstätte (Collegienhaus) für Literaturwissenschaftler, Autoren und Stipendiaten, außerdem das 2006 eingeweihte Literaturmuseum der Moderne.

Auch wenn Friedrich Schiller im Jahre 1782 vor seinem Landesherrn Herzog Karl Eugen aus dem Herzogtum Württemberg fliehen musste und nur noch einmal in seinem Leben im Verlaufe einer längeren Reise im Zeitraum 1793/1794 nach Schwaben zurückkehrte, wurde die Heimat Hölderlins, Hegels, Schellings, Kerners, Uhlands, Hauffs und Mörikes gleichwohl sehr bald zu einem Zentrum deutscher Schiller-Verehrung. Goethe selbst trug mit seinem kurz nach Schillers Tod im Jahre 1805 verfassten „Epilog zu Schillers Glocke“ dazu bei, dass der „Dichter der Freiheit“, dem 1792 die Ehrenbürgerschaft des revolutionären Frankreich verliehen worden war, nun auch zu einem „Dichter der deutschen Nation“ wurde. Gustav Schwab widmete schon 1815 Friedrich Schiller sein Gedicht „Der Riese von Marbach“, in dem er den Genius des schwäbischen Weltbürgers beschwor und sich für ein ehrendes Andenken Schillers in der Zukunft aussprach.

„Vom Marbacher Schillerkult führt kein direkter Weg zu einem Literaturarchiv. Der Genius Loci war eine notwendige Bedingung für den Institutionenaufbau in der württembergischen Kleinstadt. Doch die Idee des Literaturarchivs speiste sich aus anderen Quellen. Mit Schwaben oder Schiller haben sie nicht viel zu tun.“ (S. 39) Mit diesen Worten eröffnet Jan Eike Dunkhase das zweite Kapitel seiner historischen Studie, in dem er die bedeutsame Rolle des Philosophen Wilhelm Dilthey bei der Etablierung des Archivgedankens im Jahrhundert des Historismus hervorhebt. Dilthey hatte im zweiten Jahrzehnt nach der Reichsgründung für die Einrichtung von Literaturarchiven im Sinne der Pflege nationalen Bewusstseins plädiert. „Stätten, an denen die Handschriften unserer großen Schriftsteller erhalten und vereint lägen, die erhaltenen Bildnisse und Büsten darüber, wären Pflegestätten der deutschen Gesinnung. Sie wären eine andere Westminsterabtei, in welcher wir nicht die sterblichen Körper, sondern den unsterblichen Gehalt unserer großen Schriftsteller versammeln würden“ (S. 48) – so Dilthey im Jahre 1889 in Berlin.

Diese nationale literarhistorische Aufgabe wurde nun in Deutschland außer in der Hauptstadt Berlin vor allem von zwei geistigen und kulturellen Zentren übernommen, die mit den Namen der beiden Dioskuren Goethe und Schiller verbunden waren: vom thüringischen Weimar und vom schwäbischen Marbach. In Weimar gab es das 1885 gegründete Goethe-Nationalmuseum sowie das älteste und traditionsreichste Literaturarchiv Deutschlands, das im Jahre 1889 den Namen Goethe-und-Schiller-Archiv erhielt. Marbach hingegen hatte außer seinem Schiller-Archiv nebst Gedenkstätte und dem 1876 auf der Schillerhöhe eingeweihten Schiller-Denkmal, das aus 32 Zentnern Geschützbronze von im deutsch-französischen Krieg erbeuteten französischen Kanonen gefertigt worden war, kaum Ebenbürtiges vorzuweisen. So setzte sich der Schwäbische Schillerverein zum Ziel, ein Schiller-Museum zu errichten, das denn auch 1903 im Beisein König Wilhelms II. von Württemberg feierlich eingeweiht wurde und das neben dem Schiller-Archiv Handschriften und Nachlässe zahlreicher deutscher, vornehmlich schwäbischer Schriftsteller beherbergte.

Jan Eike Dunkhase zeichnet in seiner historischen Studie minutiös das Wachsen dieses literarischen Schatzes nach, der sich allmählich auf der Marbacher Schillerhöhe aufhäufte. Die Schiller-Jubiläen 1905 (100. Todestag) und 1909 (150. Geburtstag) festigten die Monopolstellung Marbachs im Felde der württembergischen Literatur, wobei auch den Lebenden unter den Schriftstellern Schwabens Ehren zuteil wurden. Hermann Hesse beispielsweise wurde vom Schillerverein um Überlassung von Handschriften gebeten, nachdem seine Werke „Peter Camenzind“ (1904) und „Unterm Rad“ (1906) bereits große Erfolge gefeiert hatten. Und ein anderer, weniger bekannter schwäbischer Autor, Cäsar Flaischlen, erwarb sich große Verdienste, insofern er als Redakteur des literarischen Teils der Berliner Jugendstil-Zeitschrift „Pan“ wertvolle Manuskripte zeitgenössischer Schriftsteller wie Hugo von Hofmannsthal, Stefan George, Lou Andreas-Salomé oder Rainer Maria Rilke aufbewahrte und im Jahre 1930 in seinem Nachlass mit nach Marbach brachte und damit den Grundstein dafür legte, dass aus dem „Pantheon des schwäbischen Geistes“, wie der erste deutsche Bundespräsident Theodor Heuss es einmal formulierte, ein Pantheon der deutschen Literatur wurde.
Die dunklen Jahre der Hitler-Diktatur gingen nicht spurlos an Marbach vorüber. Jüdische Mitglieder wie der Sohn des verdienstvollen Mäzens Kilian von Steiner wurden während des Dritten Reiches aus dem Schwäbischen Schillerverein verbannt, Stücke aus dem Nachlass des schwäbisch-jüdischen Schriftstellers Berthold Auerbach, des berühmten Verfassers der „Schwarzwälder Dorfgeschichten“, im Schiller-Nationalmuseum nicht mehr gezeigt, das gleichwohl in dieser Zeit eine bauliche Erweiterung erfuhr. Der Führer selbst gab eindeutig Weimar den Vorzug: Marbach hat er nie besucht, Weimar dagegen allein bis 1940 ganze 35 Mal.

Nach dem Ende der nationalsozialistischen Diktatur wurde der Trägerverein des Schiller-Nationalmuseums in Deutsche Schillergesellschaft umbenannt, und unter dem neuen Museumsdirektor Bernhard Zeller, der die Geschicke der Literaturinstitutionen auf der Marbacher Schillerhöhe drei Jahrzehnte leiten sollte, wurde der Plan gefasst, das Schiller-Nationalmuseum zu einem Deutschen Literaturarchiv zu erweitern. Am 8. Mai 1955, dem 150. Todestag Schillers, hielt Thomas Mann in Stuttgart seine berühmte Rede über Schiller und wenige Tage später wurde die Gründung des Deutschen Literaturarchivs offiziell beschlossen.

Nachdem das berühmte Cotta-Archiv sich bereits seit 1952 im Besitz des Schiller-Nationalmuseums befand, nachdem die große Marbacher Expressionismus-Ausstellung 1960 zu einem internationalen Erfolg wurde, nachdem in den sechziger Jahren immer mehr Nachlässe von 1933 im Exil verstreuten Schriftstellern nach Marbach kamen, nachdem Hermann Hesses Ehefrau Ninon, eine in Czernowitz/Cern²u]i geborene Jüdin, dessen Nachlass ans Deutsche Literaturarchiv zu geben bereit war, nachdem selbst die britische Königin Elisabeth II. im Jahre 1965 Marbach einen Besuch abstattete, war der Siegeszug des Deutschen Literaturarchivs nicht mehr aufzuhalten, das auch in Zeiten des Kalten Krieges immer aus der nationalen Einheit heraus dachte und den literarischen Ausgleich mit Weimar suchte, während die Politik die Teilung in zwei deutsche Staaten propagierte.

Zwei Jahrzehnte nach dessen Gründung beschrieb der Direktor des Deutschen Literaturarchivs, Bernhard Zeller, die Faszination, die von einer solchen Institution ausgeht, folgendermaßen: „Wer jenes Exemplar des Hyperion erblickt, das Hölderlin mit den Worten ‚Wem sonst als Dir’ Diotima gewidmet, wer die letzten Zeilen entziffert, die der todkranke Waiblinger aus Rom an seine Eltern schrieb, wer die Verse liest, die der fast erblindete Wolfskehl aus neuseeländischem Exil nach Deutschland richtete, oder die halb verkohlte Schnitzler-Ausgabe in den Händen hält, die vor 40 Jahren (1933) nachts aus dem glimmenden Scheiterhaufen der Bücherverbrennung gerettet wurde, der mag als Ergriffener begreifen, was diese magische Vergegenwärtigung bedeutet.“ (S. 323 f.)