„Bin ich ein Mensch?“

Premiere von Georg Büchners „Woyzeck“ im Stuttgarter Schauspielhaus

Mit der Besetzung der männlichen Titelfigur in Georg Büchners Drama „Woyzeck“ durch eine Schauspielerin (Sylvana Krappatsch) schien Zino Wey, der Regisseur dieser Stuttgarter Neuinszenierung, ein Risiko eingegangen zu sein, das sich allerdings im Laufe des Stücks gleichsam ins Nichts auflöste, denn ‘sex and gender’ spielten in der gesamten Bühnenhandlung, was die Verkörperung Woyzecks angeht, nicht die geringste Rolle, vielmehr trat allenthalben jene Frage beherrschend hervor, auf die auch der Autor selbst mit seinem Schauspiel abgezielt hatte: Was ist der Mensch?

Der Knalleffekt, mit dem die Premiere des Büchnerschen Dramas am vergangenen Freitag begann – fünf Kinder in Karnevalskostümen tollten auf die Bühne und zündeten einen lauten Knaller mit gewaltiger Stichflamme –, ließ eine Klamaukinszenierung erwarten, wie sie im Stuttgarter Kleinen Haus derzeit mit der Dramatisierung von E.T.A. Hoffmanns Kunstmärchen „Der goldne Topf“ durch Achim Freyer auf der Bühne bestaunt werden kann.

Während bei der Hoffmann-Inszenierung die dramatische Sprache in einzelne Wortfetzen und kürzere Textfragmente zersetzt wird, kommt sie in der Büchner-Inszenierung Zino Weys hingegen wunderbar zur Geltung, zumal in ihr ganz unterschiedliche Sprachregister gezogen werden. Die theatralische Sprache des Doktors (Sven Prietz) oder des Hauptmanns (Matthias Leja) tritt dabei in scharfen Kontrast zur Sprache Woyzecks, die in allen möglichen Facetten irisiert. Woyzeck ist das folgsame Kind und der verzweifelte Erwachsene, der Ernährer der Familie und der betrogene Liebhaber, das Versuchsobjekt des Arztes und der berechnende Mörder, die Spottfigur des Hauptmanns und der philosophierende Soldat. In allem aber ist er zuvörderst Mensch, der dem Gewaltzustand der Gesellschaft schutzlos ausgesetzt ist und an diesem „Angstapparat aus Kalkül“ (Rainer Werner Faßbinder) hoffnungslos zugrunde gehen muss.

Sylvana Krappatsch versucht dieser in der Titelfigur verankerten Rollenvielfalt besonders auf sprachlicher Ebene gerecht zu werden. Einmal lässt sie die Sprache Woyzecks sinnierend fließen und gleiten, dann wieder skandiert sie, stockend und abgehackt, oder versucht sich an einem Sprechen, das gleichsam subjektlos wirkt, fremd, menschenfern, künstlich und wie aufgesagt. Der in Woyzeck sich manifestierende Sprachverlust wird von seiner Interpretin durch Zitteranfälle und durch den Tremor der Gliedmaßen unterstrichen, von denen Woyzeck im Laufe der anderthalbstündigen Aufführung mehrfach erfasst wird.

Die Zentralfrage aber stellt Marie (Paula Skorupa), die sich dem Tambourmajor (Sebastian Röhrle) hingegeben hat und sich danach an den beiden goldenen Ohrringen erfreut, die das prächtige Mannsbild ihr verehrt hat: „Bin ich ein Mensch?“ Mehrere Dimensionen des Büchnerschen Dramas koagulieren in dieser Zentralfrage. Marie ist ein Mensch aus Fleisch und Blut, die ihren Trieben – Moral hin oder her – freien Lauf lässt und dieses Recht auf körperliche Selbstbestimmung für sich beansprucht. Marie ist aber auch, in den Augen der Gesellschaft, etwa Margreths (Gabriele Hintermaier) oder des Hauptmanns, das Mensch, d. h. eine unmoralische und von der bürgerlichen Gesellschaft geächtete weibliche Person. Und schließlich lässt sich diese Zentralfrage noch ganz anders ausdeuten, nämlich in existentialistischer Zuspitzung: Ist Marie, ja sind die Personen des Dramas insgesamt überhaupt noch Menschen, gleichen sie nicht vielmehr bloß künstlichen Wesen, Automaten, Marionetten, die fremdbestimmt agieren und des Inneren ihres Wesens längst verlustig gegangen sind? Das von Büchner seiner Dramenfigur Woyzeck oft in den Mund gelegte Werther-Zitat „Ich muss fort!“ erhält von daher eine ganz neue Bedeutungsdimension.

Die Inszenierung von Zino Wey hat den Text des Büchnerschen Dramas auf einige wenige Personen verteilt und konzentriert. So übernimmt der Idiot (Robert Rožic), der bei Büchner unter diesem Namen nicht auftaucht, etliche Volksliedeinlagen (z. B. „Ein Jäger aus der Pfalz“), und auch das berühmte Grimmsche Märchen „Sterntaler“ in der nihilistischen Version des früh verstorbenen Vormärz-Autors wird vom Idioten erzählt. Margreth spielt neben ihrer eigenen zudem die Rolle des Jahrmarktsausrufers, und die bereits erwähnte Kinderstatisterie sorgt mit ihren bunten Kostümen und mit ihren diversen Prozessionen für Abwechslung auf der Bühne.
Störend wirkt bei dieser Inszenierung der Einsatz der Musik (Max Kühn), die kaum je verstummt und als beunruhigendes Grundgeräusch große Teile der Dramenhandlung begleitet. Gewiss mag dies die innere Unruhe, den Stress und das Gejagt-sein Woyzecks versinnbildlichen, aber auf die Dauer ist eine derartige Geräuschkulisse für den Zuschauer, der ja auch die Eigenheiten der Büchnerschen Sprache genießen möchte, schwer zu ertragen.

Das ganz in schwarz getauchte Bühnenbild (Davy van Gerven) ist von denkbarer Einfachheit. Ein großer weitmaschiger schwarzer Netzvorhang, an dessen Kreuzungspunkten unzählige farbige Lichtlein leuchten, hängt zunächst nur im mittleren Teil der Bühne herab, wird dann bis fast an die Rampe, einer Schleppe gleich, ausgebreitet, um schließlich auf der Vorderbühne sogar an einer Schiene befestigt und wieder hochgezogen zu werden, sodass eine Art Wanne aus Lichtmaschen entsteht, in der sich das dramatische Geschehen abspielt. Rollcontainer, an deren Stirnseiten große Trichter montiert sind, werden anfangs in einer Slow-Motion-Prozession hereingeschoben, später dann entweder bestiegen oder als Sitzmöbel genützt. Bis auf den Auftritt des intelligenten Pferdes sind keine weiteren Requisiten oder Bühnenelemente in dieser Inszenierung zu gewahren. Sparsamkeit ist auch die Devise bei den Kostümen (Veronika Schneider), wobei der Idiot, Margreth und auch Marie durch ein gewisses Maß an Extravaganz auffallen. Dass die Rasierszene, in der Woyzeck bei Büchner den Hauptmann barbiert, in der Stuttgarter Inszenierung durch eine Wundversorgungsszene ersetzt wurde, gibt freilich Rätsel auf, zumal das Abkratzen des Schorfes von einer schwärenden Oberschenkelwunde weitaus unappetitlicher anzusehen ist als das Abschaben von Schaum und Bart von den Wangen eines Barbierten.

Dadurch, dass das gesamte Drama ohne Pause dargeboten wird und sich die Szenenwechsel in fließenden Übergängen gestalten, entsteht ein dichtes Kontinuum, dessen Wirkung durch die unprätentiöse Handhabung der Bühne noch unterstrichen wird. So gerät man in dieser Stuttgarter Neuinszenierung von Büchners „Woyzeck“ durchaus in den Sog der Büchnerschen Dramatik, kann sich der Büchnerschen Sprachkraft hingeben und am tragischen Ausgang des Geschehens, mehr noch am Schicksal Woyzecks und Maries, Anteil nehmen. Der Premierenapplaus am vergangenen Freitagabend war ohne allzu große Begeisterung, zwar anerkennend und respektvoll, aber mit Vorbehalten. Besagte Charakterisierung dürfte auch für die Beurteilung dieser Neuinszenierung des Büchnerschen „Woyzeck“ durch Zino Wey insgesamt gelten können.