„Bitter Things“ – Ausstellung über Arbeitsmigration

Narrative und Erinnerungen transnationaler Familien

In den Telefonhörern kann man Gespräche zwischen Kinder und Mütter hören. Foto:CMUT

„Niemand wusste, dass ich um drei Uhr morgens wegreisen würde. Die Großmutter schlief neben meiner jüngsten Tochter, alle schliefen. Also ging ich.“ Munisa aus Uzbekistan erzählt, wie sie ihre drei Töchter und ihren kranken Mann zurückließ, um in Deutschland eine Arbeitsstelle zu suchen. Sie kannte weder die Sprache, noch irgend jemanden im neuen Land. Sie hat in der Altenpflege gearbeitet, danach in einem Krankenhaus. Kinder konnte sie nie betreuen, sie vermisste die eigenen zu sehr. „Das Einzige, das ich nicht geschickt habe ist ein Haus. Alles andere habe ich geschickt“ sagt Gülnar, die ebenfalls in Deutschland arbeitet. „Wir telefonieren fünf – sechs Mal täglich. Ohne Anrufe könnte ich es nicht aushalten“ sagt Andra, die aus Rumänien stammt.

Millionen Arbeitsmigrantinnen europaweit leben getrennt von ihren Familien. Die prekäre finanzielle Situation treibt sie in die Ferne, der Kontakt zur Familie wird aber, trotz der geografischen Trennung, aufrechterhalten. Neuen Familienmodelle entstehen, häufig sind sie transnational organisiert.

Eine tiefgründige und vielseitige Untersuchung der Auswirkungen von Arbeitsmigration auf Mutterschaft und Familie aus der Perspektive von Arbeitsmigrantinnen und ihren Kindern ist bis zum 20. August im Multikulturellen Zentrum der Transilvania Universität (CMUT) zu sehen. Hier ist das forschungsbasierte Ausstellungsprojekt des Berliner Künstlerkollektivs bi’bak, „Bitter Things“, zu sehen. Das detailreiche Projekt geht von Erfahrungen übernationaler Familien aus den 1960er Jahren bis in die Gegenwart aus. Protagonisten sind Frauen u.a. aus der Türkei, Ghana, Indonesien, Rumänien, die in Deutschland, Italien oder Spanien leben.

Das  Projekt deutet nicht nur auf die emotionale Seite der Mutter-Kind-Beziehungen hin, sondern auch auf die Bedeutung von Objekten, die eine zentrale Rolle übernehmen.

Gegenstände als Ersatz für Eltern

Hasans Eltern kommen jeden Sommer in die Türkei, um ihren Sohn und die Familie zu besuchen. Zum sechsten Geburtstag schenkten sie ihm ein Videospiel. Zum siebenten Geburtstag brachten sie dasselbe Videospiel. Sie hatten vergessen, dass Hasan es bereits besaß. Das Kind hat das zweite Spiel nie ausgepackt.

Eltern, die im Ausland arbeiten, schicken regelmäßig Pakete mit nötigen und unnötigen Gegenständen nach Hause. Auch Geld wird gesendet. Über physische Nähe freuen sich viele Familien meist nur einmal im Jahr, in den Ferien. Bis dann wird der Kontakt per Telefon oder online gepflegt. Umarmungen und gemeinsame Erfahrungen werden durch Objekte ersetzt.

„Schick mir eine amerikanische Jeans. Wenn nicht, brauchst du gar nicht zu kommen“ hört man aus dem Hörer einer der 16 Holz-Telefonkabinen, die im Kronstädter Ausstellungsraum aufgebaut sind. Hier kann man Telefongespräche zwischen Mutter und Kinder hören, die getrennt voneinander leben. Auch ganz junge Stimmen sind zu hören, lange Pausen, oder Fragen nach den schulischen Leistungen. Für jede einzelne Beziehung steht auf einem kleinen Tisch in jeder Zelle ein bedeutender Gegenstand: eine Audiokassette auf der die zurückgelassenen  Familienmitglieder der Mutter Verschiedenes erzählen und verlangen, eine Packung O.B.-Tampons, eine Ikone, eine Plastikpuppe.
Doch nicht alle Kinder fordern Geschenke. „Ich habe nie Geschenke oder etwas anderes von ihr erwartet, aber ich habe erwartet, dass sie mehr mit mir spricht und wir eine Mutter-Tochter-Beziehung haben“, „Geld zählt nicht. Bleib hier, gehe nicht!“. Das sind nur einige Zitate, die im Projekt zu finden sind und von Kindern stammen.

Das Einzige, was sie sich wünschen (wie wohl alle Kinder von Arbeitsmigranten), ist die Rückkehr der geliebten Person. „Ich habe meiner Mutter nie vorgeworfen, was sie uns angetan hat. Es ist vieles unbesprochen geblieben“ sagt eine Jugendliche.

In solchen Familien ist die Migration meist ein Tabu. Kinder werden auf die Trennung nicht vorbereitet, sie müssen die Situation eigenständig verarbeiten. Die Einsamkeit, Zerrissenheit und Ungewissheit von Kind und Mutter wird durch die Audio- und teils auch Videoaufnahmen deutlich. Verständnis, Empathie, manchmal auch Schwermut, Mitleid oder Wut sind nur einige der gemischten Gefühle, die im Besucher der Ausstellung aufkommen.

„Es ist nicht immer eine freie Entscheidung, welche die Leute getroffen haben“

„Bitter Things“ zeigt einen großen Rahmen der Problematik der Arbeitsmigration und beleuchtet auch das Phänomen der Kettenmigration. Informationsreiche Tafeln, die an den Wänden befestigt sind, klären über Schlüsselmomente dieses Themas seit Anfang des 20. Jahrhunderts auf.
In der Zeit der Anwerbeabkommens in Deutschland, in den 1960er Jahren, beispielsweise sahen sich zahlreiche Eltern gezwungen, ihre Kinder zurückzulassen. Großeltern, andere Verwandte oder Bekannte sorgten sich um sie. „Die deutschen Gesetze über Familienzusammenführung sahen vor, dass die Migranten ihre Kinder gar nicht mitnehmen durften. Später durften sie es dann doch und haben das schnell gemacht. Danach war es wieder verboten. Es ist nicht immer eine freie Entscheidung, welche die Leute getroffen haben“, sagte die Koordinatorin der Ausstellung, Anna Krauss von bi'bak, bei der Vernissage in Kronstadt.

Seit der EU-Osterweiterung sind es europaweit vorwiegend Frauen aus Osteuropa, die für ein besseres Einkommen migrieren und die Kleinen zurücklassen. Manche holen ihre Kinder nach, anderen erlaubt das volle Arbeitsprogramm zu wenig Freizeit, sodass die Kinder gar nicht erst hinterhergeholt werden.

Seit 2007 sind nach offiziellen Angaben rund 3,4 Millionen Rumänen (Frauen und Männer) im Ausland tätig. Wenn man die Schwarzarbeiter hinzurechnet, liegen die Zahlen viel höher. Laut „The Economist“, sind im Pandemie-Jahr 2020 fast 1,3 Millionen Arbeitsmigranten nach Rumänien zurückgekehrt. Nichtsdestotrotz suchen Rumänen weiterhin besser bezahlte Jobs außerhalb der Staatsgrenzen.

Die Ausstellung „Bitter Things“ wurde mehrfach in Deutschland gezeigt, in Rumänien war sie noch in Temeswar und Klausenburg zu sehen. In der Zinnenstadt ist das Projekt in Kooperation mit dem CMUT und mit Unterstützung des Deutschen Kulturzentrums zustande gekommen. Öffnungszeiten sind montags bis freitags zwischen 12.00 und 19.00 Uhr. Der Eintritt ist frei.