Brief aus Italien

Prof. Dr. Paolo Magagnotti über die Sachlage in Italien und die Handlungsweise der EU

Prof. Dr. Paolo Magagnotti ist dreifacher Doktor in Soziologie, Politikwissenschaften und Wirtschaft. Hier anlässlich einer Buchpräsentation an der West-Universität, wo er als assoziierter Professor tätig ist. Foto: privat

Folgender Text ist ein Brief, den Prof. Dr. Paolo Magagnotti als Präsident der Vereinigung Europäischer Journalisten Mitte März an die Mitglieder per Email geschickt hat. Es sind die Gedanken, die er als ein bewusster Europäer aus seinem Zuhause niedergeschrieben hat, in den Tagen, wo Italien bereits in Quarantäne war. Diese Gedanken wiederspiegeln die dramatische Situation in Italien wider, die sich jetzt in mehreren Ländern repliziert, aber sind zugleich auch ein Aufruf, uns auf das gemeinsame Projekt Europa zu besinnen und nicht zu vergessen, dass wir aus der Abgeschottenheit, hinter verriegelten Grenzen, trotzdem etwas offen halten müssen: die Zusammenarbeit, die einzige, die uns verhelfen kann, das Virus zu bekämpfen. Wir drucken den Brief (in Fragmenten) mit seiner Zustimmung ab. (scn)

 

Die Welt hat einen der dunkelsten Momente der menschlichen Existenz betreten; es ist nicht der gefürchtete Atomkrieg, sondern ein „Krieg“ eines heimtückischen Virus, der in unseren Körper eindringt, um uns zu zerstören und die Völker aller Kontinente bedroht. (…)

Nach China ist jetzt unser liebes Europa unter feindlichem Beschuss. Italien ist das Land der Europäischen Union, das am schwersten betroffen ist und immer noch mit Hilfe seines gesamten „nationalen Gesundheitssystem“ kämpft und mit den Bemühungen vieler Freiwillige und der gesamten Bevölkerung.

Mit Bitterkeit muss ich sagen, dass Italien, wie dies auch beim großen Phänomen der Migration der Fall gewesen ist, auch diesmal nicht die in den EU-Verträgen verankerte europäische Solidarität – das Grundprinzip der Solidarität – erhalten hat. Es wurde allein gelassen, und die konkreteste und rechtzeitige Hilfe kam aus China.

Abgesehen von den EU-Institutionen und derer der Mitgliederstaaten war es auch sehr traurig zu sehen, dass nationale und internationale Medien Italien als ein von der Pest heimgesuchtes Land präsentierten, das sich der Entstehung und Verbreitung der Virusepidemie über seine Grenzen hinaus schuldig gemacht hat.

Sie alle kennen den europäischen Geist, der mein Denken und Handeln immer belebt hat, und meine Abneigung gegen eine Politik, die den nationalen Wert im Gegensatz zum Geist der europäischen Einheit verherrlicht, aber ich kann es nicht vermeiden, meine Enttäuschung über die mangelnde europäische Sensibilität gegenüber Italien auszudrücken. Dies war das erste in Europa, das auf dramatische Weise während der Tragödie des Coronavirus gestürzt ist.

Ich möchte Sie auch zu einer Reflexion einladen, die nicht nur ein EU-Land betrifft, in diesem Fall mein eigenes Land, sondern das gesamte politisch-institutionelle System des europäischen Projekts.

Die Botschaft der Präsidentin der Europäischen Kommission (Ursula von der Leyen hatte gesagt: „Jetzt sind wir in Europa alle Italiener“ Und: „Europa ist eine große Familie. Ihr sollt wissen, dass diese Familie, eure Familie, euch nicht allein lässt.“– N. Red.), die vor einigen Tagen in italienischer Sprache an alle Italiener gerichtet wurde, und die Entscheidung der Kommission, Flexibilität zu gewähren, um den durch die Pandemie verursachten wirtschaftlichen Bedürfnissen entgegenzukommen, wurden mit Sicherheit sehr geschätzt, auch wenn sie spät gekommen sind.

Wir können jedoch nicht die Tatsache verbergen, dass Brüssel Maßnahmen ergriffen hat, nachdem das Virus die traditionell stärksten EU-Mitgliedstaaten auf besonders besorgniserregende Weise infiziert hatte. Dies ist eine traurige, enttäuschende und keineswegs ermutigende Tatsache für die Zukunft der Union. Es ist kaum zu glauben, dass es reiner Zufall war. Oder müssen wir glauben, dass wir in Brüssel schlafende Vertreter haben?

Wenn wir an die europäischen Institutionen denken, sollten wir alle davon überzeugt sein, dass es Menschen in Führungspositionen gibt, die sehr gut vorbereitet und in Bezug auf die Länder, aus denen die Union besteht, unparteiisch sind und die, wenn sie sich zu Wort melden, wissen, dass sie eine große Verantwortung gegenüber dem wahren Interesse aller EU-Mitgliedstaaten haben.

Wir kennen zum Beispiel die Bedeutung der Europäischen Zentralbank für die Wirtschaft, insbesondere in Krisenzeiten verschiedener Art. Und wenn ja, was können wir über die unglückliche Aussage der EZB-Präsidentin vor zwei Tagen über die Ausbreitung sagen, die in wenigen Minuten in Ländern, die aufgrund der Viruspandemie bereits am Boden liegen, Milliardenschulden verursacht hat? Wie traurig! (Christine Lagarde hatte gesagt, die EZB sei nicht dafür zuständig, die Risikoaufschläge von italienischen Staatsanleihen zu reduzieren. Mit dieser Aussage schockte sie die Finanzmarktteilnehmer und die Aktien fielen noch tiefer. - N. Red.)

 

Von der Bedeutung des Zusammenhalts

 

Vor einigen Tagen begann sich das Virus in der gesamten Europäischen Union galoppierend zu verbreiten, was sehr besorgniserregend ist. Diese Situation würde eine starke Solidarität und europäische Koordinierung zwischen den verschiedenen Mitgliedstaaten und der EU erfordern. Leider hat jedes Land mit Ausnahme einiger Einzelfälle für sich selbst gedacht, denkt und handelt für sich selbst.

Weiterhin: Laut dem Artikel. 168 des „Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union“ soll die EU in Fragen des Gesundheitsschutzes „insbesondere die Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten fördern, die darauf abzielt, die Komplementarität ihrer Gesundheitsdienste in den Grenzgebieten zu verbessern“.

Und noch stärker benötigt wird und muss das Handeln der EU nach Art. 222 desselben Vertrags sein, wonach unter Bezugnahme auf die „Solidaritätsklausel“ steht: „Damit die Union und ihre Mitgliedstaaten auf effiziente Weise tätig werden können, nimmt der Europäische Rat regelmäßig eine Einschätzung der Bedrohungen vor, denen die Union ausgesetzt ist.“

Zweifellos ist eine institutionelle Limitierung im Artikel 5 des „Vertrags über die Europäische Union“ enthalten, wonach „die Union nur innerhalb der Grenzen der Zuständigkeiten tätig wird, die die Mitgliedstaaten ihr in den Verträgen zur Verwirklichung der darin niedergelegten Ziele übertragen haben“. Es ist daher Sache der Mitgliedstaaten, zu entscheiden, was die Union tun muss und kann. Im Vertrag sind auch Grundsätze und Werte verankert, die ein gemeinsames Handeln angesichts von Tragödien ermöglichen und erfordern würden wie die, die wir jetzt erleben.

All dies bedeutet, dass die EU im Fall des Coronavirus die institutionelle Befugnis hatte, hat und haben wird, viel mehr zu handeln. Nur eines ist nötig: Willenskraft!

Leider ist es traurig zu erkennen, dass angesichts großer Herausforderungen die Einheit und Solidarität innerhalb der Europäischen Union zu einem meist schwammigen Konzept geworden sind, das in der politischen Sonntagsrhetorik verwendet wird, und anstatt sich im gemeinsamen Interesse zusammenzuschließen, geht jedes Land seinen eigenen Weg, nur auf sich selbst gestützt. Dies geschieht leider seit vielen Jahren, seit der Ölkrise Anfang der 1970er Jahre (Die arabischen erdölexportierenden Länder hatten damals die Fördermengen gedrosselt, um Druck auf die westlichen Staaten auszuüben. – N. Red.)

Es wäre logisch zu hoffen, dass der Prozess der europäischen Integration und die wachsenden Herausforderungen, mit denen wir konfrontiert waren, uns gelehrt hätten, dass wir nur mit Einheit im Interesse aller von uns an eine bessere Zukunft denken können.

Viele Ideale, die die mutigen und weitsichtigen Gründerväter inspiriert hatten, wurden mit Füßen getreten oder, um milder zu sein, einfach vergessen. (…)

Vielleicht werden Sie von meinem Ausbruch überrascht sein, aber ich hatte das Bedürfnis, dies zu tun, weil mein starker Glaube an die europäische Einheit meine Denk- und Handlungsweise seit mehr als 50 Jahren, seit ich ein junger Student war, vorangetrieben hat.

Diese tragische Pandemie hat auch in Europa bereits zu viele Opfer gefordert. Jeden Tag gibt es „Kriegsbekanntmachungen“, in denen die Anzahl neuer Todesfälle angekündigt werden.

 

Eine andere Welt

 

Sicher ist, dass die Welt nachdem wir aus dieser Tragödie heraus sind, nicht mehr so sein wird wie zuvor.

Die Europäische Union wird sicherlich nicht mehr dieselbe sein wie zuvor. Wir werden eine erheblich geschwächte Union haben, aufgrund der Fehler und der inkompetenten Untätigkeit sowohl auf der Ebene der europäischen Institutionen als auch auf der Seite ihrer Mitgliedstaaten.

Wir werden eine Europäische Union haben, die Nationalisten und Populisten neue Argumente vorgelegt hat, um sie dafür verantwortlich zu machen. Wir werden miterleben, dass das Vertrauen der Bürger weiterhin verloren geht, bei einem ohnehin geringen Vertrauen in der Europäischen Union.

Es wird für uns auch schwieriger sein, uns für die EU in ihrem gegenwärtigen Zustand mit ihren Mitgliedstaaten einzusetzen, und die Kollegen, die bereits Fachleute im Angriff auf die Europäische Union sind, werden noch aggressiver sein: Wir haben ihrem Feuer an Schuldzuweisungen Sauerstoff zugeführt.

 

Einsatz für die EU

 

Wir müssen jedoch weiterhin das Ideal der europäischen Einheit stark unterstützen. Wir müssen auf jeden Fall anprangern, was wir für falsch halten, und dürfen denjenigen, die die europäischen Institutionen nur für Partisaneninteressen nutzen, keine Rabatte gewähren.

Von Natur ein Optimist werden mich selbst Misserfolge im europäischen Projekt nicht entmutigen, es als Prinzip, als Ideal und als einzigen Weg für die Zukunft der europäischen Völker und zur Gewährleistung von Frieden und Stabilität weltweit zu unterstützen.

Wir müssen alles tun, um das wichtigste und faszinierendste demokratische und friedliche Projekt zur Vereinigung der Völker zu unterstützen, das jemals in der Geschichte der Menschheit gesehen wurde. (…)

 

Übersetzung und Redaktion: Ștefana Ciortea-Neamțiu