Bukarest als Stadt der Verlockungen

Ein neues Buch von Adrian Majuru zeigt Alltagskultur im vormodernen Bukarest zwischen Orient und Europa

Bukarest ist nach wie vor die große Unbekannte unter den europäischen Hauptstädten und verdankt nicht zuletzt der Ceauşescu-Diktatur und den bisweilen wirren politischen Verhältnissen seit 1990 seinen zu Unrecht sehr schlechten Ruf. Dabei galt die rumänische Hauptstadt lange völlig zu Recht als „Paris des Ostens“. Viertel mit schmucken wie prächtigen Jugendstilvillen, große Parks und Seen sowie prachtvolle repräsentative öffentliche Bauten aus der Zeit vor dem Kommunismus zeugen bis heute davon. In genau diese Zeit entführt der Historiker und Anthropologe Adrian Majuru seine Leser mit dem vorliegenden Band „Stadt der Verlockungen. Das vormoderne Bukarest zwischen Orient und Europa“.
Das Buch bietet ein faszinierendes Sittengemälde zu Bukarest und seinen Menschen vom 19. Jahrhundert bis zur Zwischenkriegszeit, eine höchst vergnüglich zu lesende Kulturgeschichte des Alltagslebens und auch des „Freizeitbetriebs“ der Bukarester Gesellschaft verschiedenster Schichten. In der Einleitung gibt der Autor einen konzentrierten wie hilfreichen Überblick über die Stadtgeschichte seit der urkundlichen Ersterwähnung 1459, der vor allem deutlich macht, wie unsystematisch die Stadt viertelweise angewachsen ist. Für Majuru hat Bukarest bis heute den „konfusen Charakter eines großen Dorfes“ und hatte auch stets etwas Unfertiges und Uneinheitliches (S. 116). So gibt es bis heute kein echtes Stadtzentrum, die historischen Viertel haben jeweils eigene Zentren hervorgebracht. Wobei sich mittlerweile das alte Leipziger Viertel (Lipscani) wieder zu einem attraktiven wie überfüllten abendlichen Treffpunkt gemausert hat.

Besonders spannend wird in dem Band die offenbar alle Epochen bisher überdauernde Gegenläufigkeit des Lebens in Bukarest geschildert, wo sich Europa und Orient, Luxus und Armut, edler und elender Lebensstil bis heute permanent begegnen. So bilanziert der Autor seine „Reise durch die Geschichte des urbanen Amüsements“ von Bukarest völlig zu Recht mit den Worten: „Die Bukarester haben sich mit dem Nebeneinander von Luxus und Armut, von Menschen und Hunden, von Hütten und Palästen, von Prinz und Bettler, von Schlamm und Lackschuhen abgefunden.“ (S. 208 f.)
Majuru berichtet vom Leben auf der Straße, in Salons und Cafés, von rauschenden Bällen, sich wandelnden Schmink- und Kleidungsmoden der edlen Eliten wie auch von Menschen aus der Mittelschicht, von der Herausbildung von Badegewohnheiten, dem Familienleben, Landhaus und Hausgärten, Kosmetik und Hygiene, weiblicher und männlicher Eleganz bis hin zu Luxusartikeln, der Entwicklung von Spielen und Spielzeugen und Feierlichkeiten wie zum Abitur, Jahreswechsel oder Ostern. Das zu allen Phasen der „Belle Époche“ sprudelnde Leben in der Hauptstadt zeigt sich auch in der Entwicklung der öffentlichen Lustbarkeiten und Genüsse. Von Clubs und Kartenspielen, Tabak, Kaffee und Süßspeisen über den großen Erfolg der Konditoreien in der Stadt, Volksfeste, Kabarett und Kino bis hin zu Museen, Oper und Operette in der dargestellten Epoche reicht diese Kulturgeschichte Bukarests. Brunnen, Bäder und Weinkellereien, Ausfahrten mit Kutschen und später dem Automobil und bevorzugte Reiseziele der Bukarester werden gleichermaßen behandelt.

Majuru unterteilt seine Ausführungen sehr sinnvoll. Nach der Hinführung zur Stadtgeschichte („Eine Stadt am Rande des Orients wird geboren“) und Überlegungen zur Stadtentwicklung („Die moderne Stadt zwischen dem Orient und der Verlockung Europas“) behandelt er zunächst das Privatleben der Bukarester im Untersuchungszeitraum („Vergnügung im Privaten“), dann das gesellschaftliche Leben („Vergnügung im öffentlichen Raum“). Zwei weitere Abschnitte bieten Kapitel zum Thema „Freizeit in der Stadt“ und „Zeitvertreib extra muros“. Der mit historischen Stichen und Fotos reich bebilderte Band enthält neben ausführlichen Literaturhinweisen auch ein sehr hilfreiches Glossar.
Der Autor beleuchtet bis heute spürbare Tendenzen der Bukarester Mentalität wie den Versuch der Anpassung an westlichen Lebensstil bis hin zum Übertrumpfen, eine Überbetonung und Zurschaustellung von Luxus bei denen, die es sich leisten können, und auch manche Extravaganzen, Allüren und Exzesse im Lebensstil, denen der Autor sogar ein eigenes Kapitel widmet. Immer wieder geht er auf die sprichwörtliche Bukarester Zügellosigkeit und allgemein den Hang zur Eitelkeit und Übertreibung ein.

Majuru beschreibt nicht nur, er zeigt auch Entwicklungen auf und illustriert präzise die Aufbruchstimmung und die Atmosphäre in der Stadt nach der Befreiung vom Einfluss der Osmanen. Den Pluralismus der Lebensstile begründet er nachvollziehbar auch mit der Prägung durch „ethnische Vielfalt und Multikulturalismus, die uneingeschränkt Bestandteile Bukarests in der Moderne waren und auch aufgrund der sozialen und konfessionellen Toleranz Bestand hatten“ (S. 94).
Das vorliegende Buch bietet eine genauso informative wie vergnüglich zu lesende Phänomenologie des Alltagslebens und der Alltagskultur im alten Bukarest der Gründerzeit und der Belle Époche, die jedem dringend zur Lektüre zu empfehlen ist, der sich für diese bis heute besondere europäische Metropole, deren Menschen, Mentalität und Lebensart in Geschichte und Gegenwart interessiert.   

Adrian Majuru: „Stadt der Verlockungen. Das vormoderne Bukarest zwischen Orient und Europa“, Berlin: Frank & Timme Verlag 2014, 224 S., zahlreiche Abbildungen, ISBN 978-3-7329-0018-3 (= Forum: Rumänien, Bd. 19), 29,80 Euro