„Celan 100 – Unter den Wörtern“

Ausstellung im Nationalmuseum der rumänischen Literatur in Bukarest

Paul Celan mit seinem guten Freund Petre Solomon in Bukarest. Petre Solomon hat die „Todesfuge“ ins Rumänische übersetzt.

Wer die Anfang dieses Monats eröffnete Jubiläumsausstellung zu Leben und Werk des rumänisch-jüdischen Dichters deutscher Zunge Paul Celan im Bukarester Nationalmuseum der rumänischen Literatur (MNLR) besuchen möchte, hat gleich drei verschiedene Möglichkeiten. Er kann abwarten, bis er die jetzt bereits in den Räumlichkeiten des MNLR in der Calea Grivi]ei 64-66 real existierende und auch zu besichtigende Ausstellung ohne pandemiebedingte Einschränkungen in der Fülle ihrer Exponate leibhaftig genießen darf. Oder er kann sich, medial vermittelt, die Online-Vorschau dieser Ausstellung im Internet ansehen, und zwar in zwei verschiedenen Varianten.

Das MNLR bietet – in der ersten dieser beiden Varianten – fotografische Ansichten der gegenwärtigen Ausstellung in der Calea Grivi]ei mit Bildern von den Ausstellungsräumen sowie von einzelnen Exponaten: Büchern, Fotos, Postkarten und Briefen. Ferner ist auf der entsprechenden Internet-Seite des MNLR ein dreiminütiges Grußwort seines Generaldirektors, Prof. Dr. Ioan Cristescu, zur Eröffnung der Ausstellung zu sehen, außerdem ein zwölfminütiger Film in rumänischer Sprache (wahlweise mit deutschen oder französischen Untertiteln) mit Informationen zur Biografie und zum literarischen Werk Paul Celans. Die Fotos, die beiden Videos sowie ein Text mit Danksagungen können unter folgender Internet-Adresse abgerufen werden: mnlr.ro/paul-celan.

Die zweite Online-Variante dieser Celan-Jubiläumsausstellung wird vom Mitveranstalter der Ausstellung, dem österreichischen Bundesministerium für europäische und internationale Angelegenheiten, vertreten durch das Österreichische Kulturforum Bukarest, zur Verfügung gestellt. Es handelt sich dabei um eine Online-Grafikversion der Ausstellung, die in zahlreichen Sprachen (Deutsch, Französisch, Italienisch, Polnisch, Türkisch und Rumänisch) unter folgender Internet-Adresse abgerufen werden kann: online-exhibitions.at/celan/.

Unter diesem Internet-Link wird zunächst auf die in der Ausstellung gezeigten Dokumente näher eingegangen, die vor allem aus dem im MNLR aufbewahrten Nachlass von Alfred Margul-Sperber sowie aus dem Petre-Solomon-Privatarchiv stammen. Sodann wird auf rumänische Vorläuferereignisse dieser Jubiläumsausstellung Bezug genommen: auf das im Jahre 1981 vom Goethe-Institut gemeinsam mit Petre Solomon, einem engen Freund Paul Celans, in Bukarest veranstaltete Celan-Kolloquium sowie auf die im Jahre 2010 von den beiden Universitätsprofessoren George Gu]u und Ioan Cristescu realisierte Celan-Ausstellung im MNLR. 

Ferner werden beteiligte Institutionen wie das Freiburger Staatsarchiv oder Verlage wie der Berliner Suhrkamp-Verlag dankend erwähnt sowie Personen gewürdigt, die zum Gelingen der Ausstellung beigetragen haben: der Jassyer Germanist Prof. Dr. Andrei Corbea-Hoișie, der Bukarester Germanist Prof. Dr. Gabriel H. Decuble, der Celan-Übersetzer George State, die Übersetzerin aus dem Französischen Magda Răduță, der rumänische Filmregisseur Alexandru Solomon, ein Sohn von Petre Solomon, sowie die Koordinatorin der Ausstellung „Celan 100 – Unter den Wörtern“ Andreea Balaban.

Die Online-Grafikversion der Celan-Jubiläumsausstellung ist in zwölf Kapitel unterteilt, die allesamt einem chronologischen Aufbau folgen. Auf einen kurzen einleitenden Text folgen jeweils Reproduktionen einzelner Exponate. 

Kapitel 1 zeigt Bilder der Mutter und der Familie Paul Celans sowie Ansichten von Czernowitz, der Heimatstadt des Dichters, die zum Zeitpunkt seiner Geburt am 23. November 1920 zu Rumänien gehörte. Kapitel 2 präsentiert ein Foto des Elternhauses, ein Foto des jungen Paul Celan sowie das Typoskript des Gedichtes „Drüben“, das mit demselben Vers „Erst jenseits der Kastanien ist die Welt“ anhebt und schließt. Das 3. Kapitel zeigt weitere Ansichten von Czernowitz, ein Foto der Medizinischen Fakultät der Universität Tours in Frankreich, wo Celan 1938 ein Medizinstudium begann, sowie den handschriftlichen Entwurf eines frühen Gedichts, das er seiner Czernowitzer Freundin Ruth Kraft widmete: „Safran leuchtet überm Abendhang. / Still fliehn Rosen über Felder hin. / Jenes Lied, Geliebte, nun beginn…“.

Kapitel 4 zeigt Fotos vom bombardierten Czernowitz während des Zweiten Weltkriegs sowie Bilder von der Deportation Czernowitzer Juden. Celans Eltern wurden in ein transnistrisches Arbeitslager verbracht, wo beide zu Tode kamen, während der Sohn im Arbeitslager T²b²r²{ti unweit von Buz²u den Krieg und den Holocaust überlebte. „In Erdhütten gepfercht“, so beschrieb Celan später einmal diese Zeit, „mussten wir schwere physische Arbeit verrichten.“ Kapitel 5 widmet sich Paul Celans Bu-karester Jahren, von denen Fotos mit den Dichtern Alfred Margul-Sperber, Petre Solomon und Nina Cassian zeugen. Außerdem kann man Reproduktionen von Übersetzungen Paul Celans (Yeats, Arghezi, Eluard), von einem „Abendbüchlein“ genannten Notizheft des Dichters sowie Erinnerungsfotos von einem Ausflug in die Karpaten im Jahre 1947 sehen. Das 6. Kapitel zeigt neben verschiedenen Bukarest-Ansichten aus den vierziger Jahren die Erstveröffentlichung der „Todesfuge“, des berühmtesten Gedichtes von Paul Celan. Es wurde auf Deutsch geschrieben, erschien erstmals im Jahre 1947 in rumänischer Übertragung von Petre Solomon unter dem Titel „Tangoul morții“ (Todestango), bevor es dann 1948 in deutscher Originalsprache in Paul Celans erstem Gedichtband „Der Sand aus den Urnen“, allerdings noch mit Druckfehlern behaftet, veröffentlicht wurde. Erst seit der zweiten Auflage von Paul Celans zweitem Gedichtband „Mohn und Gedächtnis“ (1952) ist das Gedicht korrekt publiziert. In der Online-Version der Ausstellung ist die deutsche Fassung der „Todesfuge“ als Typo-skript aus dem Jahre 1947 präsent.

Celans Wiener Zeit wird in den Kapiteln 7 und 8 ins Auge gefasst. Paul Celans Liebesbeziehung mit der jungen österreichischen Dichterin Ingeborg Bachmann, die zwei Jahrzehnte umspannen sollte, wird in den Blickpunkt gerückt, ebenso die Freundschaften mit Klaus Demus und Milo Dor. Hier kann man auch handkorrigierte Typoskripte zweier früher Gedichte von Paul Celan – „Der Ölbaum“ und „Bergfrühling“ – bewundern. Kapitel 9 handelt dann bereits von Paris, der Stadt, in der Celan bis zu seinem Freitod 1970 leben, schaffen und wirken sollte. Celans Gedicht „Auf hoher See“, das mit folgenden zwei Versen beginnt, hätte gut in dieses Kapitel gepasst: „Paris, das Schifflein, liegt im Glas vor Anker: / so halt ich mit dir Tafel, trink dir zu.“

Das 10. Kapitel der Ausstellung zeigt Fotos der Ehefrau des Dichters, Gisèle de Lestrange, sowie des zeitgenössischen französischen Dichters René Char, von dem Paul Celan mehrere Werke ins Deutsche übertrug, genauso wie er Dichtungen von Paul Verlaine aus dem Französischen, von Alfred Edward Housman aus dem Englischen und von Sergei Jessenin aus dem Russischen übersetzte. Manu- und Typo-skripte dieser Übersetzungen können online eingesehen werden. Kapitel 11 widmet sich der sog. Goll-Affäre. Die Witwe des mit Celan befreundeten Dichters Yvan Goll hatte Paul Celan öffentlich angegriffen und ihn des Plagiats bezichtigt. Ein zweiseitiger Brief vom 30. Juli 1960 an Alfred Margul-Sperber, in dem Celan seinem langjährigen Berater und Förderer sein Leid klagt, ist als korrigiertes Typoskript online verfügbar. Der Brief gibt nicht nur die Vorwürfe Claire Golls gegen Celan („Betrüger“, „Erbschleicher“, „Scharlatan“) wieder, sondern vermittelt auch einen Eindruck davon, wie Celan die bundesrepublikanische Gesellschaft der Nachkriegszeit gesehen hat („Neonazismus“, „Hitlerei“). Das letzte Kapitel der sehenswerten Online-Jubiläumsausstellung behandelt abschließend die schwere psychische Erkrankung des Dichters und seinen Freitod in der Seine um den 20. April 1970.