Claudiopolis von Crișan bis Coposu

Das europäische Klausenburg hat noch Luft nach oben

Mindestens neun Kirchen lassen sich von der Cetățuia Cluj-Napoca aus nach Südost mit dem Weitwinkelobjektiv einfangen.

Schatten der Flaggen Rumäniens und der EU am Wohnhaus von Matthias Corvinus

Ein römischer Reiterhelm aus Bronze vom Ende des 2. Jahrhunderts n. Chr. Er wurde ausschließlich zu Parade-Wettbewerbskämpfen aufgesetzt.

Seinen 1919 eröffneten Botanischen Garten – hier das Japanische Teehaus – verdankt Klausenburg dem Biologen und griechisch-katholischen Kleriker Alexandru Borza. | Fotos: der Verfasser

Dem Turm und den Zifferblättern der Franziskanerkirche unweit des spätgotischen Wohnhauses von König Matthias Corvinus fehlen sämtliche Uhrzeiger. Im autofreien Ausgehviertel zwischen Hauptplatz/Piața Unirii und Zentralpark/Parcul Central ist nur wenig vom Dauerstress der größten Stadt Siebenbürgens zu spüren. Lässt man die ein oder andere bröckelnde Villenfassade vor ihrem vergessenen Innenhof in enger Gasse abseits der stark befahrenen Straßen und breiten Sündenmeilen außen vor, nimmt Klausenburg/Cluj-Napoca sich wie jede andere schwerreiche Altstadt in Westeuropa aus. Denn noch im grauen Februar 2020 war auf dem König-Ferdinand-Boulevard und dem Kopfsteinpflaster vor der römisch-katholischen Franziskanerkirche an ungetrübte Entspannung kaum zu glauben.

Bürgermeister Emil Boc und der mehrheitlich liberale, aber auch mit sechs Mitgliedern des Reformbündnisses URS-PLUS und vier Parteigängern der Demokratischen Union der Ungarn in Rumänien (UDMR) gespickte Stadtrat jedoch haben es möglich gemacht, im nicht kleinen Zentrum Klausenburgs ab sofort und ohne störenden Großbaustellenlärm ein dickes Stück vom europäischen Kuchen genießen zu können. Die Fahrradwege hier sind breiter und besser als in Hermannstadt oder Kronstadt markiert und geraten, weil sie mit aufgerautem statt spiegelglattem Belag auch bei Regen nicht zur Rutschpartie werden. Von 445 Fahrzeugen der Stadtverkehrswerke auf 355 Kilometern Gesamtlänge sind 41 als Elektrostraßenbahnen und -Busse unterwegs.

Am besten aber zeigt Klausenburg sich seinen Gästen zu Fuß. Die Innenstadt ist zwar groß, doch nicht gar so weiträumig, als dass es zu viel verlangt wäre, sie sich zu erlaufen. Das Geschichtsmuseum (Muzeul Național de Istorie a Transilvaniei, MNIT) beispielsweise, das in der mittleren Vergangenheit gerne rechts oder links liegen gelassen wurde, weil es als gähnend langweilig aufbereiteter Ort galt, ist nach aktuellem Stand trotzdem bis Ende August 2021 ein Muss für wissbegierige Kinderaugen und Zerstreuung suchende Erwachsene.

Die temporäre Ausstellung, die im September 2020 eröffnet wurde, lockt mit ihrer sonoren Überschrift „Limes. Frontierele Imperiului Roman în România“ hoch hinauf in den zweiten Stock, lässt auf eine weltmännische statt apologetisch nationalistische Schreibart Bekanntschaft mit der dakischen Provinz machen und kann es gestalterisch bedenkenlos mit allen großen und berühmten Museen Europas aufnehmen. Unbedingt zu besuchen ist auch die Expo „Incursiuni dacice în spațiul virtual“ nebenan in derselben Etage, wo man sich auf bestimmte Punkte am Fußbodenparkett stellen und mit der Hand an dreidimensional abgebildeten Gebäudeplänen und Haushaltsgegenständen drehen kann. Dakerkönig und Kaiser Trajans Gegner Decebal wird auch an diesem Platz Rumäniens als hartnäckiger Patriot gezeichnet, doch von einem Opfer-Mythos, auf den die post-kommunistische Geschichtsschreibung nach wie vor narzisstisch pocht, bleibt hier nichts übrig. Dafür ist Klausenburg sich zu gut.

Im zornentbrannten Frühjahr 1849 hingegen noch guckte sich eine Clique magyarischer Edelmänner die seit Alters her befestigte Burg inmitten der Stadt am Ufer der Kleinen Somesch als Wunschort für die standrechtliche Erschießung des äquidistanten Stephan Ludwig Roth aus. Dass der „siebenbürgischste Siebenbürger aller Zeiten“ ausgerechnet in Klausenburg hingerichtet wurde, begleitet diesen transsylvanischen Vorzeigeort wie ein Schatten, der seine Umrisse auch in schwarzer Nacht nicht einbüßt. „Mit meiner Nation habe ich es wohlgemeint, ohne es mit den anderen übel gemeint zu haben“, so ein Kernsatz im Abschiedsbrief des siebenbürgisch-sächsischen Universaldenkers. Wer hat bald 200 Jahre später noch Mumm, sich und seine Vision vom idealen Europa derart selbstlos preiszugeben?

Nicht von ungefähr trägt eine kurze Seitenstraße in unmittelbarer Nähe zum Aufgang auf die Burg von Süden her den Eigennamen Stephan Ludwig Roth. Für den Fußweg Richtung Schauplatz der traurig-berühmten Hinrichtung auf der Höhe des 19. Jahrhunderts stehen mehrere Varianten zur Auswahl. Die feinste heißt Galileo Galilei, ist sowohl auf der Straßenkarte als auch im Gelände nicht leicht zu finden und führt mitten durch ein Wohnviertel der ganz teuren Sorte, denn „Scudi wert ist nur, was Scudi bringt“, wie es dem aufs liebe Geld abgefahrenen Kurator der Universität Padua bei Brecht entwischt. In der Tat sind Klausenburgs grüne Korridore durch kein Gold der Welt aufzuwiegen. Glücklich, wer in ihnen wohnen kann.

Dem Erfinder der Waage für spezifisches Gewicht war schon zu Ende des 16. Jahrhunderts sonnenklar, was Integrität bedeutet: „Die Wahrheit ist das Kind der Zeit, nicht der Autorität.“ Doch wer sich frank die Freiheit gönnte, das kirchenhörige Weltbild öffentlich in all seine Einzelteile zu zerlegen, musste mit Querelen oder noch Schlimmerem rechnen. Allein schon nur wegen dieser sperrigen Zeitgeschichte wäre es angezeigt, eine Nachbarstraße der Galileo-Galilei-Gasse Giordano Bruno zu nennen. Doch den 1600 als Ketzer in Rom verbrannten Priester verbannt die Straßenkarte von Klausenburg weit weg von der „Cetățuie“ in ein Wohnviertel nordwestlich des Hauptbahnhofs. Wo er immerhin noch im Club mit „Partisanen“ und Corneliu Coposu ausruht. Der Vatikan selbst räumte erst am späten Abend des 20. Jahrhunderts ein, Galilei und Bruno unrechtmäßig verurteilt zu haben.

Bauernaufstand-Führer Horea als breitschultriger und von seinen stämmigen Mitkämpfern Cloșca und Crișan flankierter Wegweiser von der Brücke über die Kleine Somesch zum Hauptbahnhof und zurück tragen ebenfalls dazu bei, dass Klausenburgs Bäume nicht in den Himmel wachsen. In der Kinderklinik Nummer 2 auf der Crișan-Straße wird schließlich mit Zytostatika geschossen und gegen Krebs gekämpft. Da tut Gott nicht nach der Muttersprache fragen.

Nicht ganz ohne scheint auch die Sachlage am 1929 von Professor Doktor Ion Chiricuță gegründeten Hauptsitz des Onkologischen Instituts auf der Hangseite des Botanischen Gartens zu sein. Laut Homepage steht dieses Krankenhaus Klausenburgs mitten in einem neuen Akkreditierungsprozess. An seiner Eingangstüre heftet noch ein Anschlag dritter Klasse „Acreditat cu rezerve“ der Nationalen Autorität für das Management der Qualität im Gesundheitswesen (ANMCS).

Aus der Traum vom medizinisch glänzenden Ruf Klausenburgs? Nicht einfach zu beantworten. Bestimmt kommt es drauf an, wen man wo zu welchem Zeitpunkt fragt. Jeder Traum zeichnet seine eigene Geschichte. „Dream Touch“ heißt eine von über 170 Tulpen-Sorten, die frühjahrs im 14 Hektar großen Botanischen Garten vor dem Onkologischen Institut aufblühen.

Klausenburg trägt sehr viele Narben an seinem Körper, und nicht alle von ihnen sind bereits komplett ausgeheilt. Der Umgang mit ihnen führt Widersprüche zur Schau. Die bronzene Gedenktafel an einer Fassade auf der Avram-Iancu-Straße beispielsweise, die der ehrenvollen Erinnerung an den orthodoxen Revolutionär Nicolae Bălcescu und seinen griechisch-katholischen Verbündeten George Barițiu auf die Sprünge helfen soll, deckt sich nicht mit der noch heute gärenden Hassliebe zwischen Orthodoxer und Griechisch-Katholischer Kirche Rumäniens. Wo bald nach 1990 Kleriker beider Seiten in Klausenburg einander auf der Straße tätlich angriffen, wäre die Orthodoxe Kirche Rumäniens (BOR) gut beraten, nicht mehr länger mit doppeltem Maß zu messen und als Kirche der Mehrheit einen latent nationalistischen Identitäts-Kult zu nähren, sich dabei bei der Griechisch-Katholischen Schwesterkirche zu bedienen, ihr aber die ökumenische Gemeinschaft bei Brot und Wein zu verweigern.

Wichtig zu wissen, dass es der griechisch-katholische Kardinal Iuliu Hossu war, der am 1. Dezember 1918 in Karlsburg/Alba Iulia den Wunsch Siebenbürgens verlas, sich mit den Fürstentümern südlich und östlich der Karpaten zum neuen Großrumänien zu vereinen! Dafür hatte sich schon am 23. Mai 1894 der griechisch-katholische Intellektuelle Ioan Rațiu als Angeklagter in der Box einer österreichisch-ungarischen Gerichtsverhandlung ausgesprochen. Noch was?

Natürlich, die alte Causa ist leider noch immer ein glühend heißes Eisen und kann wuchernde Phantasien schlagen, die – wie kann es auch anders sein? – genau am Hauptplatz zusammenlaufen, wo die römisch-katholische Michaelskirche stolz aufragt, eine von der Sozialdemokratischen Partei (PSD) gestiftete Marmortafel an die am 3. November 1918 in Klausenburg gegründete Rumänische Nationalgarde Siebenbürgens erinnert und noch dazu eine Tafel der 1990 gegründeten „Bewegung für eine verfassungsmäßige Monarchie“ dafür wirbt, „den goldenen Traum des rumänischen Volkes zu verwirklichen“ und „hierfür sämtliche Risiken auf sich zu nehmen“: „asumînduși orice risc pentru împlinirea visului de aur a poporului român.“ An viertletzter Stelle eine doppeldeutige Vokabel.

Irgendwie drängt sich das Bauchgefühl auf, dass junge Erwachsene der bildungsbürgerlichen High Society, die es sich von früh bis spät hier auf dem Hauptplatz von Klausenburg bei Kaffee und Kuchen wohl sein lassen, den politischen Unfug der Gegenwart durch ihre statistisch erwiesene Nichtbeteiligung am Parlaments-Wahlgang vom Nikolaustag 2020 mitzuverantworten haben. Die Filterblase allein macht´s nicht. Für das ideale Europa bräuchte Klausenburg noch etwas mehr.