Das blaue Band durch die Zeiten

Eine Geschichte von alten Webstühlen, einem Musiker-Genius und Menschen, die verlorene Fäden zusammenführen

Alexandru Liviu Bodiceanu rettete die Ausstattung der ehemaligen Weberwerkstatt Berger. Er träumt von einem kleinen Museum in der Repser Burg. Fotos: George Dumitriu

Maria Blidea hat es geschafft, die Webstühle wieder zu bespannen und erste Muster zu weben.

Die beiden wiederaufgebauten Jacquard-Webstühle

Kopf mit Lochkarten

Die Schnüre heben und senken sich im Stakkato der ratternden Maschine. Zwei Schiffchen fliegen unermüdlich von links nach rechts, von rechts nach links, ein Wollfaden, ein Baumwollfaden. Vor der Rumänin, die das Ungetüm behände bedient, entsteht ein blaues Band. Nein, nicht einfach nur blau! Ein zartes Muster wirkt sich wie von Zauberhand in das wachsende Gewebe. „Diesen Teppich habe ich noch heute“, sagt Maria Blidea aus Jibert/Seiburg. Ihre Mutter hatte ihn gewebt, irgendwann in den 1950er Jahren, hier in Reps/Rupea, in der Weberei der sächsischen Familie Berger.

Wir stehen vor den  beiden riesigen Webstühlen, die die Lagerhalle dominieren. Dahinter einige Geräte, die Blidea stolz vorführt. Sie zeigt auf eine mannshohe hölzerne Spule, wo die Bespannung des Webstuhls vorbereitet wurde. Mit zehn Fäden gleichzeitig, in einem Brettchen mit äquidistanten Löchern geführt. Es hat sie eine Woche gekostet, he-rauszufinden, wie das alles geht. Dann den ersten Zentimeter zu weben. Blau, wie das Blau ihres Teppichs zuhause, der Teppich ihrer „Mămica“.

Doppeltes Genie

Zeitsprung, anderer Ort. Ein 18-jähriger Junge, geboren in Reps, beginnt 1948 seine vielversprechende Karriere als Geiger in der Bukarester Philharmonie „George Enescu“. Schon in seiner Jugend, die er in Reps verbrachte, hatte es ihn gedrängt, selbst zu komponieren. 16 Jahre später, 1964, gewinnt seine Sonate für Violine den Kompositionspreis „Prince Rainier III. de Monaco“, 1965 sein berühmtes Streichquartett Nr. 6 den ersten Preis auf einem Wettbewerb in Ličge, 1966 eines seiner Violinkonzerte den ersten Preis in Brüssel. Sein Name: Wilhelm Georg Berger.

Wie oft mag der sächsische Komponist, später auch korrespondierendes Mitglied der Rumänischen Akademie, als Junge an dem ratternden Ungetüm vorbeigegangen sein? Streifte sein Blick das blaue Band, das zum Teppich von Maria Blidea heranwachsen sollte? Oder vielleicht die davor sitzende blutjunge Weberin, Marias „Mămica“, konzen-triert, mit gesenkten Augen? War ihm bewusst, dass er sein Studium dieser Werkstatt verdankte? Ahnte er, dass sich hinter den ratternden Jaquard-Köpfen, den meterlangen Lochkartenketten, den auf und ab wogenden Kettfäden, ein Genius ähnlich wie das seine verbarg, eine Technologie, die schon Napoleon begeistert hatte? Dass dieser Webstuhltyp der Vorgänger des modernen Computers war? Dass die Lochkarten, die erstmals an Jacquard-Webstühlen zum Einsatz kamen – sie steuern die Platinenbewegung und codierten die automatisierte Fadenführung für das Muster, tausende Modelle konnten mit ihrer Hilfe abgespeichert und jederzeit reproduziert werden - den Weg ebneten zu einer Technologie, die in nur wenigen Jahrzehnten eine gigantische Entwicklung erlebte: IT.

Ein gigantisches Puzzle

Das blaue Band, das Maria Blidea nur noch mühevoll nachweben konnte –  ohne die Jacquard-Köpfe der Maschine zu verwenden, die beeindruckende Lochkartenschlange hängt unbewegt herunter, und ohne das Hämmern, das hier einst zu hören war – steht symbolisch für den Versuch, die Fäden der Vergangenheit wieder zusammenzuführen. Freilich sind viele verlorengegangen. Die Redensart „ich habe den Faden verloren“ stammt übrigens aus der Weberei. Obwohl die beiden alten Jacquard-Webstühle voll funktionell sind, weiß heute hier niemand mehr, wie sie bedient werden, bedauert die erfahrene Trachtenweberin.

Wie mag der ursprüngliche Erzählteppich einmal ausgesehen haben, den die Geschichte in Raum und Zeit unaufhörlich webt? Jeder einzelne, wieder aufgehobene Faden (er)zählt. Dass sie hier wieder zusammenfinden, ist  Alexandru Liviu Bodiceanu zu verdanken. Stolz zeigt der Rentner die Fotos vom Zustand der Werkstatt zum Zeitpunkt ihrer Entdeckung im Februar: Spinnweben, Staub, verstreute Einzelteile in einem düsteren Kellerraum. Jahrzehntelang hatten die Webstühle dort unbeachtet gelegen, bis die alte Frau Berger starb. Ihr Haus wurde verkauft und der neue Besitzer befand, der alte Krempel müsse so schnell wie möglich weg - das Altmetall auf den Schrott, das Holz könne man verfeuern. Um ein Haar wäre dies geschehen, hätte sich Alexandru Bodiceanu nicht daran erinnert, was er vor 25 Jahren im Keller gesehen hatte…  

Bodiceanu ist nicht vom Fach, doch mit Weben kennt er sich aus. „Von meinen Eltern weiß ich noch, wie ein Webstuhl funktioniert.“ Für einen symbolischen Betrag erwarb er das „Gerümpel“, sogar mit Kaufvertrag, lächelt er. „Ich mag alte Sachen sehr“, schwärmt der Repser begeistert. „Als Kind habe ich immer beim Arbeiten am Webstuhl geholfen. Und da sagte ich mir, mit diesem Erbe dürfe man nicht geringschätzig umgehen. ‚Nu-ți bați joc de lucrurile astea!‘“.

In den nächsten sechs Monaten baute er alle Teile auseinander, wusch sie einzeln mit Ätznatron, dann mit dem Strahl eines Druckwassergeräts. „Und ich brauchte einen Schreiner, denn einige Teile waren kaputt oder nicht mehr aufzufinden.“ Dann kam der spannende Moment, als Maria Blidea und eine Bekannte erstmals versuchten, die Webstühle wieder zu bespannen. Eine Woche dauerte das Puzzlespiel, denn die beiden Frauen waren zwar mit der Funktionsweise eines Webstuhl und den Gerätschaften zur Vorbereitung der Fäden vertraut, nicht jedoch mit der komplizierten Jacquard-Technologie. „Leider habe ich noch niemanden gefunden, der weiß, wie dieser Webstuhl funktioniert“, bedauert Bodiceanu. Doch an ein Museum wollte er sich nicht wenden, denn die vollständige Werkstatt solle, wenn es nach ihm ginge, auf der Repser Burg wieder aufgebaut und zur Schau gestellt werden.

Viele Wünsche verweben sich

Der Sammler hat hierfür in Reps alle Hebel in Bewegung gesetzt: Vor den gesäuberten und instandgesetzten Webstühlen in der Lagerhalle treffen wir auf den frischgewählten Bürgermeister, Alexandru Opriș, den wiedergewählten Stadtrat Karl Hellwig (der mir die Geschichte für die ADZ angetragen hatte), auf Maria Blidea, die extra für dieses Treffen aus Seiburg herbeigeholt worden war. Bodiceanu zückt stolz den kleinen Bildband, den er  mit seiner Enkelin Roxana Bobilneanu, Lehrerin an der Honterus-Schule in Kronstadt, erstellt hatte. Sie schrieb den Text, das Layout machte die andere Enkelin, Ioana Bodiceanu, die Liebe zur Kultur liegt wohl in der Familie. Auf vier Seiten wird darin die Geschichte der Erfindung von Joseph Marie Jacquard (1752-1834) aus Lyon aufgerollt, des semi-automatischen Webstuhls, der Napoleon beeindruckt und Charles Babbage inspiriert hatte, daraus den Vorläufer des ersten Computers zu entwickeln.

 „Um 1900 hatte man diese  Technik hier in Reps eingeführt und es galt damals als großer Fortschritt“, erzählt Karl Hellwig und betont:„Diese Weberei hat dazu geführt, dass Wilhelm Georg Berger überhaupt studieren konnte.“
In Reps führen alle Fäden zusammen: Eine Gedenktafel erinnert an den 1993 verstorbenen Musiker, der für besonders schwierige Kompositionen bekannt sei, so Hellwig. Seine Musik beruhe auf einer harmonischen Intonation des goldenen Schnitts, auf der mathematischen Fibonacci-Reihe, heißt es in der einschlägigen Literatur.

Immer wieder gab es Gedenk-Konzerte für das international viel zu wenig bekannte Musik-Genius aus Reps, erzählt Hellwig: 2013 im Rahmen der Haferlandwoche, 2018 in Kronstadt/Brașov,  wo sich derzeit auch die restaurierte Repser Schwalbennestorgel in der Schwarzen Kirche befindet. „Wir wollen, dass diese Orgel wieder in ihr Nest kommt, hier in der evangelischen Kirche. Und dass man sie nicht nur bestaunen kann, sondern dass es auch wieder Konzerte gibt - auch zu Wilhelm Georg Berger!“

Viele Wünsche verweben sich vor den – noch – schweigenden Webstühlen. Die Menschen, denen die Geschichte und Kultur dieses Ortes am Herzen liegt, heben einen Faden nach dem anderen wieder auf, weben den Stoff der Vergangenheit weiter. Das Muster verdichtet sich. Vielleicht wird es bald wieder erklingen: das Stakkato der Platinen, das Klacken der auf den Stapel fallenden Lochkarten, das Surren der fliegenden Schiffchen, das leise Singen der Weberin vor dem wachsenden blauen Band. Wer weiß, vielleicht hatte all dies auch den jungen Komponisten inspiriert?