Das Dauerexperiment des Durchwurstelns

Beobachtungen nach zwei Monaten des Notstands

Symbolbild: pixabay.com

Wer sich dieser Tage durch die Unmengen an Kommentaren und Analysen kämpft, die weltweit veröffentlicht werden, wer Virologen, Ökonomen, Psychologen und anderen tatsächlichen oder vermeintlichen Experten zuhört, muss zweifelsohne starke Nerven haben. Noch nie schien es so schwierig zu sein, das Wahre vom Falschen, die Wirklichkeit vom Trugbild, das Glaubwürdige vom Zweifelhaften auseinanderzutrennen. Eingesperrt in ihren Wohnungen, am Anfang noch singend auf Balkonen, inzwischen am Home-Office verzweifelnd, warteten vor allem in Europa die Bürger auf die Lockerung der Ausgangs- und Kontaktsperren, die mancherorts absurde Formen angenommen, größtenteils aber auch dazu geführt haben sollen, die Verbreitung der Infektionen mit dem neuen Virus zu verlangsamen.

Dass aber in einer Situation, auf die kaum ein Land entsprechend und von Anfang an vorbereitet sein konnte, die Menschen nur noch in sogenannten „Öffnungsdiskussions-Orgien“ (so die eher unglückliche Formulierung der deutschen Kanzlerin) schwelgten, sei aber den meisten gegönnt. Vor allem jenen, die im kapitalistischen Dauerstress auch vor der Coronakrise ihr Leben kaum in den Griff bekommen konnten und die nun, psychisch belastet, vielleicht auch noch am Rande des wirtschaftlichen Ruins stehen. Die heiß ersehnte Rückkehr zur Normalität ist jedoch nirgends wahrhaftig eine Rückkehr, sondern lediglich ein Sprung ins kalte Wasser, der vielen das Blut in den Adern gefrieren lassen wird. Noch vor dem Coronavirus selbst dürfte das „Social Distancing“ zum Unwort des Jahres, wenn nicht des Jahrzehnts, werden.

Den Rumänen gefällt „Social Distancing“ sicherlich nicht. Man hat es von Anfang an gesehen, als Präsident Johannis Ende April bereits erste Lockerungen ab dem 15. Mai ins Gespräch brachte und sich viele Bürger so benahmen, als sei schon alles vorbei. Und man hat es noch deutlicher an diesem Wochenende gesehen, als die Menschen ihre Städte wieder in Besitz nahmen, Parks füllten und jene Geschäfte überrannten, die unter Auflagen öffnen konnten. Ob das Land mit einer zweiten Infektionswelle kämpfen muss und wie schnell diese eintreten könnte, wird sich sicherlich in den nächsten zwei Wochen zeigen.

Was bleibt aber von den zwei Monaten des Notstands? In erster Linie, dass das von Dauerplappern im Fernsehen heraufbeschworene Chaos in den Spitälern größtenteils ausgeblieben ist und dass das Krisenmanagement der Gesundheitsbehörden halbwegs funktionierte. Der Anfang war schwierig, vor allem in den Brennpunkten von Suceava, Deva oder Arad, aber die Lage ließ sich relativ schnell stabilisieren. Zwar gab es große Fehler und gravierende Verspätungen, vor allem in der Beschaffung von Schutzmaterial und Medizintechnik, und so manche Behördenentscheidung konnte nur auf 30 Jahre ununterbrochener Entprofessionalisierung zurückgeführt werden, doch das System funktionierte im Großen und Ganzen. Ärzte, die verzweifelt wegliefen, blieben Einzelfälle, Privatpersonen legten vielerorts tatkräftig Hand an und erledigten mit Geld- und Sachspenden das, was der Staat, dem sie Steuern zahlen, nicht tun konnte oder wollte. Es bleibe dahingestellt, ob die Übergabe der Leitung ziviler Krankenhäuser an Militärs Teil der Lösung oder des Problems war, Fakt ist aber, dass dem Land ein zweites Suceava erspart geblieben ist. Ärzte wie der Temeswarer Dr. Virgil Musta überzeugten durch ihr bescheidenes, verantwortungsvolles Auftreten; solche Ärzte gaben vielen Bürger das Gefühl, dass die Krise zumindest auf medizinischer Ebene gemeistert werden kann, wenn man sich an die Regeln hält.

Nun, die Sache mit den Regeln ist in Rumänien immer wieder kompliziert. Vor allem mit den Regeln, die der Gesetzgeber erlässt. Von Anfang an stellte sich die Frage, ob das Präsidialdekret zur Ausrufung des Notstands und ein Teil der auf seiner Basis erlassenen Dringlichkeitsverordnungen der Regierung verfassungskonform sind. In aller Eile hatte man sie aufgesetzt und dabei Wesentliches außer Acht gelassen. Nämlich, dass selbst in Notstandslagen die Verfassung Vorrang hat und obwohl man keine Zeit für lange Parlamentsverfahren mehr hat, der Rechtsstaat nicht ausgesetzt werden darf. Der Notstand, so sehr er einigen in der Regierung gefällt, darf nicht zum Dauerexperiment werden. Jede demokratische Regierung, die eine Krisensituation bewältigen muss, gerät in eine Zwickmühle, denn sie darf nicht all das tun, was sie machen könnte und vielleicht gerne machen würde. Und so hat man auch hier unverhältnismäßige Geldstrafen für Tatbestände verhängen lassen, die nicht klar definiert waren, nur um die Krise des Gerichtswesens zu verschärfen, das in den kommenden Monaten Strafzettel am laufenden Band annullieren muss.

Übrigens: Das Gerichtswesen ist dieser Tage in ein noch tieferes Chaos gestürzt, seit knapp sechs Monaten arbeiten Rumäniens Gerichte nur noch im Ausnahmezustand. Zunächst protestierten die Richter wegen der (nie umzusetzenden) Streichung ihrer Dienstrenten und legten die Justiz für zwei Monate lahm, dann kam das Virus. Und nun hat jedes Berufungsgericht neue Hausordnungen erlassen, die teilweise die vom Gesetzgeber verabschiedete Zivilprozessordnung ändern und Kontrollen vorsehen, wie die unsägliche Fieber-Messung, die eklatante Eingriffe in Menschenrechte darstellen und so nicht durchführbar wären. Die Proteste halten sich in Grenzen.

Auch das Unterrichtswesen hat bessere Zeiten erlebt, an vielen Schulen findet seit Wochen überhaupt kein Unterricht mehr statt, es gibt Lehrer an Grundschulen, die sich nicht mehr als eineinhalb Stunden pro Woche einschalten, jedes Mal aber Hausaufgaben wie für einen Monat vorschreiben. 250.000 Schulkinder soll es aber geben, die überhaupt keinen Zugang zum Internet haben, weil ihre Familien sich keine Laptops, Smartphones oder Tablets leisten konnten. Sicher, mancherorts haben lokale Initiativen, auch der Gemeinderäte, Abhilfe geleistet, aber auf Dauer muss das gesamte Online-Konzept des Unterrichts neu durchdacht werden. Zum Beispiel experimentieren bereits einige Universitäten mit Online-Prüfungen und müssen feststellen, dass der Sprung ins Digitale längst nicht das Allheilmittel ist, das Rektoren und Digitalisierungsbeauftragte in Gut-Wetter-Reden hochgepriesen haben.

Der Übergang vom Not- zum Alarmzustand war ein Trauerspiel in der Regie der Regierung und des Parlaments, aber vor allem der Regierung, die seit Mitte März ahnen konnte, dass die Dinge diesen Lauf nehmen werden. Wenn man jedoch so wie die frühere PNL-Vorsitzende Alina Gorghiu (von Haus aus Juristin) glaubt, dass für die Politik die Einhaltung der Verfassung nicht zwingend und gewisse Wenden erlaubt seien, dann muss man sich natürlich nicht allzu große Sorgen machen. Auch wenn man dem Volk quasi ein straffreies Wochenende beschert hat, an dem von „Social Distancing“ nicht mehr viel übrig geblieben ist.

Schlimmer sind zwei weitere Fragen: die Wirtschaft und die Außenpolitik. Für die Regierung, trotz der Selbstzufriedenheit, die Premierminister Ludovic Orban bei seinen Besuchen bei Dacia und Ford an den Tag legte, beginnt erst jetzt das recht Schwierige. Zwar werden einige Sektoren langsam wieder hochgefahren, doch von der Erholung ist längst nichts zu spüren, sie hängt größtenteils von der Wiederaufnahme wirtschaftlicher Tätigkeiten im Westen ab. Das gepriesene IMM Invest-Programm ist bisher ein Reinfall, die Anzahl der bewilligten Unterstützungsanträge kann an den Fingern des Regierungschefs und seines entrückten Finanzministers abgezählt werden.

Dass man für den einheimischen Tourismus weiterhin keine akzeptable Lösung gefunden hat und Vorschläge macht, die an 1987 erinnern, als jeder Bürger des sozialistischen Rumäniens mit Brot, Salami und Auberginensalat in der Tüte zur Schwarzmeerküste reisen durfte, bedarf keiner zusätzlichen Erklärung. Aber wenn die EU sich sowieso nicht auf ein Konzept einigen kann, um die Binnengrenzen Europas wieder zu öffnen, dann sollte das Außenministerium zumindest sagen, mit welchen EU-Staaten es über die Öffnung des Tourismus berät und was es hier konkret unternimmt.

Oder ob Verhandlungen mit der ungarischen Regierung geführt werden, damit sich Zustände wie an diesem Wochenende an den Grenzübergängen Nadlak I und II nicht mehr wiederholen. Schade nur, dass die Ausgangslage für solche Verhandlungen nach dem „Jó napot kívánok, PSD“ von Staatschef Johannis die denkbar schlechteste ist. Keinesfalls sollte Bukarest auf Budapester Provokationen eingehen oder, schlimmer noch, vor dem dortigen Machthaber kuschen, aber als Präsident (und Träger des Aachener Karlspreises) sollte man selbst auf Provokationen verzichten. Kein vernünftiger Mensch kann in der Tat glauben, dass die PSD und der UDMR in einer Nacht-und-Nebel-Aktion Siebenbürgen preisgeben wollten oder konnten. Dass man außenpolitisches Ansehen und den sowieso schwachen Kontakt nach Budapest für innenpolitische Querelen verspielt, zeugt mindestens von Ungeschicklichkeit. Und von einem äußerst schlechten Kalkül.

Rumäniens Probleme liegen nicht im Szeklerland, sondern in den Strukturschwächen von Wirtschaft und Verwaltung, in der mangelnden Verkehrsinfrastruktur und dem katastrophalen Bildungssystem. Daran leiden alle Bürger, mehr oder weniger. Anstatt sich mit den Ungarn zu bekriegen, sollten Rumäniens Regierende den Neustart wagen, Maßnahmen planen und diese konsequent umsetzen. Denn wer sich in diesem unwirklichen Frühling die Welt anschaut, wird letztendlich begreifen, dass die Aussetzung der Welt nicht von Dauer sein kann. Dass nach neuen „Normalitäten“ gesucht wird und dass derzeit viel geprobt wird von dem, was kommen kann. Ob das mittel- und langfristig auch im Land der ständig leichten Schulter, des Durchwurstelns als Dauermethode geht?