Das Geheimnis der Gletschermumie

Liegt die Wiege der Akupunktur in der Bronzezeit des Alten Europa?

Die Rekonstruktion des Mannes aus dem Eis Fotos: Südtiroler Archäologiemuseum/Ochsenreiter

Fundstelle der Mumie am Tisenjoch, Tisental Fotos: Südtiroler Archäologiemuseum/Dario Frasson

Untersuchung von „Ötzi“ Foto: Südtiroler Archäologiemuseum/EURAC/ Samadelli/Staschitz

Akupunktur gilt als Errungenschaft der Traditionellen Chinesischen Medizin. Doch eine 1991 entdeckte Bronzezeit-Mumie aus Norditalien brachte diese Theorie ins Wanken. War das asiatische Heilwissen und das Weltbild, auf dem es beruht, im angeblich so primitiven Europa schon viel früher verbreitet? Ist Europa vielleicht sogar die Wiege einer Denkkultur, deren Spuren in unseren Breiten fast vollständig erloschen sind?  

Europa, 3300 vor Christus. Ein Mann läuft über den Gletscher. Er trägt strohgefüllte Schuhe, Kleider aus Leder und Fell, ist mit einer Bogensehne, Pfeilen und einer kupfernen Axt bewaffnet. Ihm folgt ein Feind, der ihn hinterrücks ermordet. Es scheint, dass der Mann diese weiten Wanderungen öfters unternahm. Er war gut bewaffnet, führte ausreichend Proviant mit sich: Steinbockspeck, Äpfel, Getreide.  Und ein ganz besonderes Geheimnis! Dieses sollte sich erst 5300 Jahre später, nach dem Fund seiner Leiche in den italienischen Alpen, enthüllen: Es sind seltsame Tätowierungen unter seiner Haut, die einen Bogen zu einem völlig anderen Kulturkreis spannen. Denn die schlichten Körperzeichnungen sind kein Ausdruck eines Schönheitskults, sondern eine Botschaft, die die Heiler seiner Zeit offenbar genau verstanden: Ein auf die Haut geschriebenes medizinisches Rezept! Heute gilt als bewiesen: Der Mann, der unter dem Namen „Ötzi“ als älteste tätowierte Mumie der Welt berühmt wurde, wurde akupunktiert.

Symphonie des Kosmos

China, Zweihundert vor Christus. So alt ist das älteste dokumentierte Zeugnis der chinesischen Akupunktur. Es beruht auf einem ganz anderen Weltbild als das westliche. Nicht feste Materie gilt dort als Ursache für die Entstehung der Welt, sondern alles ist Schwingung, alles vibriert, doch so schnell, dass es stabil erscheint. Der Kosmos – ein gigantisches Konzert! Jede Galaxie, jeder Planet ist ein Instrument darin. Jedes Lebewesen, jedes Organ, jede Zelle. Wenn letztere zusammen harmonisch klingen, ist das Lebewesen heil. Ist es nicht der Fall, braucht es Heilung. Vor diesem Hintergrund betrachtet bedeutet Akupunktur, den Finger an einen Punkt auf eine der schwingenden Saiten zu legen. Und siehe da, der Klang des Instruments verändert sich!

Dieses fernöstliche Weltbild stimmt auf erstaunliche Weise mit der modernen Physik überein. Die Quantenphysik und Einsteins Formel E=mc2  bestätigen, dass alles  Schwingung ist. Energie.

Therapeutischer Strichcode

Die Einflüsse auf das „Klangbild Mensch“ beschreiben die Chinesen mit Yin und Yang: Yin wirkt stabilisierend, Yang wirkt verändernd. In einem gesunden Körper sind beide ausgeglichen. Krankheit bedeutet eine Störung des Gleichgewichts. Tatsächlich geht es in der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM) darum, den Menschen mit seinem Umfeld zu harmonisieren, erklärt Dr. Ștefan Costescu, der als Allgemeinmediziner die Kunst der TCM von Chinesen erlernte und heute in Bukarest Akupunktur praktiziert. Integrierte Medizin nennt man das Zusammenwirken zwischen westlichem und östlichem Heilen. Dies ist nicht einfach, denn die Ansätze sind grundverschieden: Die westliche Medizin repariert Schäden wie der Mechaniker ein kaputtes Auto, während der TCM-Arzt bemüht ist, das System von Anfang an heil zu erhalten.

Auch die Sprache trennt die beiden Ansätze. „Ein Kopfschmerz oder ein Gehirnschlag ist in der TCM ein ‘starker Wind’ und gilt als Störung des ‘Elementes Holz’“ illustriert Costescu. Dabei beschreibt das Wort „Holz“ nichts anderes als eine bestimmte Mischung von Yin und Yang, wie auch die übrigen Elemente Feuer, Erde, Metall und Wasser. Für all diese Mischungen gibt es eine Art Strichcode. Dieser ist im chinesischen Buch der Wandlungen „I Ging“ festgehalten, das allerdings viel älter ist als das erste Zeugnis der Akupunktur. Es wird auf rund 3000 vor Christus datiert, ungefähr in die Zeit von „Ötzi“...

Und  nun die Überraschung: Genau solche Strichcodes hatte „Ötzi“ unter seine Haut tätowiert! Die insgesamt 61 Zeichen liegen an den aus der TCM bekannten Akupunkturpunkten für Krankheiten, an denen der Gletschermann tatsächlich gelitten hat: Rheuma, Arthrose, Gallensteine und Peitschenwürmer. „Ötzi“ trug das Rezept für die Linderung seiner Beschwerden durch Akupunktur mit sich auf der Haut!

Doch wie kam es zu dieser bahnbrechenden Entdeckung?  Der Zufall wollte, erzählt Costescu, dass der Pathologe, der die Mumie zuerst untersuchte, ein wenig Wissen über Akupunktur mitbrachte. Er wunderte sich über die seltsamen Tattoos, die sich seiner Meinung nach genau dort befanden, wo Akupunkturpunkte liegen. So veranlasste er, dass Spezialisten von drei Akupunktur-Vereinigungen in Europa die Mumie unabhängig untersuchten. Sie alle gaben zu Protokoll, dass die Zeichen mit Akupunkturpunkten übereinstimmten. Und die damit zu behandelnden Krankheiten stimmen exakt mit denen überein, die die Pathologen an der Mumie diagnostizierten.

Die Zeichen wurden auch von Anthropologen begutachtet. Dabei stellte sich heraus, dass einige mit den Yin-Yang-Symbolen der TCM übereinstimmen. „Sie beschreiben vermutlich die Art und Weise, wie der Akupunkturpunkt angesprochen werden soll“, meint dazu Costescu. „Man kann ihn stimulieren oder unterdrücken, je nachdem, wie man die Nadel ansetzt. Man kann tief hineinstechen, drehen, ziehen, oder zwei Nadeln ansetzen, massieren, ein Saugglas aufsetzen...“ Das Faszinierendste aber sei, bemerkt er, dass diese Art der Heilung vor 5300 Jahren offenbar sehr verbreitet war, obwohl es keine modernen Kommunikationsmittel gab. „Der Mann, der sein Rezept auf dem Körper trug, legte regelmäßig große Strecken über den Gletscher zurück. Und derjenige, der ihn tätowiert hat, hat das bestimmt nicht für sich getan - sondern für seine weit entfernten Kollegen.“

Parallelen bei Eskimos, Skythen, in Japan und Tibet

Der Fall „Ötzi“ ist mittler-weile gut untersucht. Auf der Webseite der Deutschen Akademie für Akupunktur finden sich mehrere Artikel. Erwähnt wird dort der Archäologe Lars Krupak, der sich mit Tätowierungen von Naturvölkern befasst und meint, es könne sich auch um „therapeutische Tattoos“ handeln. Auf der Sankt-Lorenz-Insel bei Alaska sticht sich das Eskimo-Volk der Yupik bis heute gegen Rheuma-Schmerzen ähnliche Tätowierungen an denselben Stellen. Auch die Ainu, japanische Ureinwohner, verwendeten ähnliche Strich-Tattoos gegen Rheuma. Die Hamburger Archäologie-Professorin Renate Rolle, die 1992 eine tätowierte skythische Mumie aus dem 5. Jh. v. Chr. untersuchte, konstatierte, dass einige der Tattoos therapeutischen Zwecken dienten. Sie verwies auf vergleichbare Praktiken in Tibet und Indien. Der Archäologe und „Ötzi“-Forscher Frank Spindler weist da-rauf hin, dass Tätowierungen an anderen Mumien auch von anderen Forschern schon mit Akupunktur in Verbindung gebracht wurden.

„Ötzi“ ist die älteste tätowierte Mumie weltweit. Und doch, heißt es, zeugten die Zeichen auf seiner Haut von einer hohen Entwicklung der Akupunkturkunst. Frank Bahr, Präsident der Deutschen Akademie für Akupunktur, meint: „Wenn Ötzi mit seinen durch die Röntgenbefunde bekannten Beschwerden heute in meine Praxis käme, würde ich 80 Prozent der Punkte wieder akupunktieren.“  

Asiatisches Weltbild und Wissenschaft

Wenn diese Interpretationen richtig sind, dann wäre das fernöstliche Heilverfahren der Akupunktur früher weltweit verbreitet gewesen - und damit wohl auch das Weltbild, auf dem es beruht. Betrachten wir noch einmal das Fundament des traditionellen Heilens in Asien: Nicht nur die Chinesen, auch die Inder glaubten, dass ein „nichtmaterieller Energiekörper“ den physischen Leib überlagert und an bestimmten Punkten durchdringt, wo Yin und Yang ausgetauscht werden: Chakren. Die indische traditionelle Medizin, das Ayurveda, basiert auf einer Harmonisierung derselben durch Ausgleich von Yin und Yang, allerdings nicht durch Nadeln. „In der TCM entsprechen diese Chakren, von denen es viel mehr gibt als die bekannten sieben an der Hauptachse, den Akupunkturpunkten“, erklärt Ștefan Costescu.

In der westlichen Medizin ist die Idee eines „nichtmateriellen Körpers“ unbekannt. Viele Ärzte erachten Akupunktur deswegen als Humbug. Doch die Erfahrung von integrativen Medizinern zeigt, dass vor allem Schmerzen, Suchtkrankheiten, Stoffwechsel-Fehlfunktionen und psychologische Störungen sich gut damit behandeln lassen – alles Leiden, bei denen sich eine Komponente im Gehirn abspielt. Es gibt sogar eine Methode, die Wirkung von Akupunktur direkt im Gehirn zu beobachten, überrascht Costescu.  „Mithilfe von Magnetresonanz lässt sich zeigen, wie schnell eine eingespritzte Substanz im Gehirn verstoffwechselt wird. Eine blaue Stelle verrät, dass sie schnell abgebaut wird, die Gehirnzellen also hoch aktiv sind, eine rote, dass sie langsam oder gar nicht abgebaut wird, dieser Teil  also schweigt. Setzt man Akupunkturnadeln an, sieht man plötzlich, wie bestimmte Teile des Gehirns ihre Farbe wechseln. Es sind bei allen Patienten die gleichen Regionen, unabhängig von Alter, Geschlecht oder Rasse.“  

Das Phänomen des Phantomschmerzes, das mit Akupunktur enenfalls gut behandelt werden kann, unterstreicht die Idee des nichtmateriellen Energiekörpers. Während die westliche Medizin nicht überzeugend erklären kann, warum ein amputiertes Glied Schmerzen verursacht, geht die TCM davon aus, dass es im Energiekörper noch existiert – und akupunktiert es. Doch wo hineinstechen, wenn es das Glied nicht mehr gibt? Costescu erklärt, dass eine Attrappe aus Holz an der Stelle des fehlenden Gliedes angebracht wird. „Das Material ist unwichtig, es dient nur zur Führung der Nadel.“ Fangfrage: Woher weiß man, dass der Ener-giefinger der Ausrichtung des Kunstfingers folgt und nicht etwa gekrümmt daneben liegt? Der Mediziner antwortet prompt: „Man bittet den Patienten, sich vorzustellen, dass er den Finger genau so hält.“

Gab es einst eine Art archaische Universalmedizin? Reicht sie tatsächlich bis in die Bronzezeit zurück – oder gar noch weiter? Costescu zeigte auf einem internationalen Akupunkturkongress Bilder von bemalten Figürchen der Cucuteni-Tripolje-Kultur aus dem Gebiet des heutigen Rumänien und der Ukraine  (5500-2750 v. Chr.). Die mit Linien bemalten Statuetten stammen aus der Jungsteinzeit. Die Experten zeigten sich verblüfft! An einigen glaubten sie spontan, die Energiemeridiane der TCM wiederzuerkennen. Könnten die Akupunktur und das damit verbundene Weltbild tatsächlich noch älter als „Ötzi“ sein –  älter als 5000 Jahre? Und nicht Asien, sondern  Europa ihre Wiege sein? Ein spannendes, neues Rätsel für die Wissenschaft..