Das Geständnis spielte die Schlüsselrolle

ADZ-Interview mit Dr. Hubertus Knabe und Helmuth Frauendorfer, dem Direktor und dem stellvertretenden Direktor der Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen

Angeregte Diskussionen fanden bei der diesjährigen Sommerschule der „Academia Civicã“ in der Gedenkstätte für die Opfer des Kommunismus Mitte Juli in Sighetul Marmatiei nach dem Vortrag von Dr. Hubertus Knabe statt. Der promovierte Politikwissenschaftler, dessen Eltern vor seiner Geburt aus der DDR geflohen waren, hatte 1978 ein Komitee für die Freilassung des DDR-Dissidenten Rudolf Bahro gegründet. 

Von 1992 bis 2000 arbeitete Dr. Knabe in der Forschungsabteilung des Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen und ist seit 2001 der wissenschaftliche Direktor der Gedenkstätte im ehemaligen Stasi-Gefängnis Berlin-Hohenschönhausen. Sein Stellvertreter ist seit einem Jahr der aus dem Banat stammende Schriftsteller und Journalist Helmuth Frauendorfer. Dessen Streifen „An den Rand geschrieben“, der die Verfolgung junger Schriftsteller aus dem Banat durch die Securitate thematisiert, wurde bei der Sommerschule gezeigt. Mit Dr. Hubertus Knabe und Helmuth Frauendorfer, die zwischen dem 24. und 27. August auch an der Sommerakademie des Instituts für die Erforschung der Verbrechen des Kommunismus (IICC) in Râmnicu Sãrat teilnehmen werden, sprach ADZ-Redakteurin Hannelore Baier.


Herr Frauendorfer, wie kommt ein ehemaliger Verfolgter durch die Securitate an eine Gedenkstätte für die Aufarbeitung der Stasi-Vergangenheit?

Helmuth Frauendorfer: Das ist eine Konsequenz meiner beruflichen Entwicklung. Nachdem ich aus Rumänien rausgeschmissen worden bin – was ich aus meiner Akte bei der CNSAS erfuhr – habe ich mich journalistisch betätigt, vor allem beim Fernsehen. Ich merkte dann bald, dass man da schnell in eine Schublade gesteckt wird, das heißt, ich wäre auf Lebenszeit der Osteuropaexperte geblieben. Deswegen bin ich irgendwann gezielt zur Inlandspolitik übergegangen. Da habe ich dann festgestellt, dass meine Lieblingsthemen etwas mit den totalitaristischen Strukturen zu tun haben, die es sowohl in einem Teil Deutschlands gegeben hat, als auch in dem Land, in dem ich aufgewachsen war, Rumänien. So habe ich mich zunehmend mit der Stasi-Aufarbeitung und der DDR-Vergangenheit befasst. 
Herrn Knabe hatte ich schon von früher her gekannt. Zusammen haben wir 2006 einen Einführungsfilm für die Gedenkstätte Berlin-Hohenschönhausen gedreht. Durch meine Arbeit beim ARD-Magazin „Fakt“ hatte ich immer wieder Kontakt zu den ehemaligen politischen Häftlingen, die in der Gedenkstätte Führungen machen. Das waren die Voraussetzungen, um dem Ruf an die Gedenkstätte zu folgen und das Fernsehen zu verlassen.


Sie kannten sich aus der Initiative „Aktionstag Rumänien“. Herr Knabe, wie kamen Sie zu dieser Initiative?
Dr. Hubertus Knabe:
 Ich hatte mich mit Oppositionsbewegungen in der DDR beschäftigt, bekam Einreiseverbot und habe deshalb begonnen, mich mit den Protestbewegungen auch in den anderen osteuropäischen Staaten zu beschäftigen. Unter anderem habe ich in Berlin eine Veranstaltung zu der Dorfzerstörung in Rumänien organisiert und darüber haben wir uns kennengelernt.
Aus der eigenen Erfahrung und jetzt aus der Arbeit an der Stasi-Vergangenheitsaufarbeitung: Gibt es Unterschiede im Vorgehen zwischen den beiden Repressionsapparaten? 

H. Frauendorfer: Es gibt Unterschiede, aber prinzipiell sind die Strukturen von Geheimdiensten in totalitären Systemen sehr ähnlich. Ein Unterschied ist zum Beispiel, dass das MfS (das Ministerium für Staatssicherheit) sich strikt an die Vorgaben der Partei gehalten hat. Die waren sehr gehorsam, preußisch, ordentlich und diszipliniert. In Rumänien hat es immer wieder Abweichungen gegeben, da wurde 1984 noch geprügelt und Mitte der Achtzigerjahre kam Gheorghe Ursu im Gefängnis um. Das hat es bei der Stasi nicht mehr gegeben. Wohl auch, weil man wusste, dass das irgendwann im Westen bekannt wird, und das konnte sich die Stasi nicht leisten. Auch waren die Informationsflüsse bei der Stasi perfekter. Als ich in Rumänien verhört wurde im Juli 1984 wussten die Temeswarer Securitate-Offiziere nicht, dass mein Buch beim Kriterion-Verlag in Bukarest schon gedruckt war. Sie dachten, das sei immer noch in Vorbereitung. Sowas wäre bei der Stasi nicht möglich gewesen.


Beide sogenannten „Sicherheits“-Apparate sind nach sowjetischem Modell aufgebaut worden. Wie lang haben die sowjetischen Berater das Geschehen bei der Stasi koordiniert?
Dr. Knabe:
 Es ist bekannt, dass die Stasi der Schüler der sowjetischen Geheimpolizei war. Anfangs hat das Ministerium für Staatssicherheit der Sowjetunion die Untersuchungsverfahren geführt. Nach der Gründung der DDR wurde bald auch die Stasi gegründet, auf deren Arbeit es bis Mitte der Fünfzigerjahre eine unmittelbare Einflussnahme durch die sowjetischen Offiziere gab. Danach blieben sogenannte sowjetische Berater, die vor allem auch als Verbindungsoffiziere zum KGB tätig waren. Das ging bis zum Ende der DDR. Bis zum Ende der DDR gab es eine enge Zusammenarbeit mit dem KGB und auch den anderen Ostblock-Geheimdiensten. Man hat sich regelmäßig ausgetauscht über Brandpersonen und in Moskau waren alle „Feinde des sozialistischen Lagers“ in einer zentralen Datenbank erfasst.


... außer Rumänien ...
Dr. Knabe:
 Ja, Rumänien ist ausgeschlossen worden wegen seiner Eigenwilligkeit.
H. Frauendorfer: Zu den KGB-Offizieren möchte ich ergänzen: Wir beide finden es empörend, dass ein ehemaliger KGB-Offizier, der in Dresden stationiert war – Wladimir Putin – für den Quadriga-Preis vorgeschlagen war.


Wie viele der Täter sind 20 Jahre nach dem Ende der DDR für nachgewiesene Verbrechen bestraft worden?
Dr. Knabe:
 Es gab zwar 100.000 Ermittlungsverfahren, aber am Ende sind nur 40 Funktionäre ins Gefängnis gekommen, vor allem wegen der Toten an der Grenze. Vom ehemaligen MfS wurden nur zwei Offiziere zu Gefängnisstrafen verurteilt – wegen eher untypischen Delikten. Der eine hatte vor seiner Dienststelle zwei Passanten erschossen, als er betrunken war – eine Tat, die zu DDR-Zeiten nicht bestraft worden war und was nun nachgeholt wurde. Ein Staatsanwalt, ein Richter, zwei Gefängniswärter sind wegen Körperverletzung und Misshandlung der Gefangenen bestraft worden. Für die große Zahl an Verbrechen in der DDR ist das eine sehr bescheidene Bilanz.


Warum ist es so schwierig, die Täter zu bestrafen?
Dr. Knabe:
 Das hängt vor allem damit zusammen, dass in dem Moment des Beitritts der DDR zur Bundesrepublik alle Funktionäre unter den Schutz des Gundgesetzes geschlüpft sind. Im Grundgesetz ist das sogenannte Rückwirkungsverbot verankert, was bedeutet, nachträglich kann man für eine Tat nicht bestraft werden, die zum Zeitpunkt der Tat nicht strafbar war. Die Schüsse an der Grenze, die Verhaftungen und all die anderen Verbrechen waren zu DDR-Zeiten nicht strafbar. Man hat sich praktisch gezwungen gesehen, das SED-Unrecht mit dem SED-Recht bestrafen zu wollen und das konnte natürlich nicht funktionieren.


Welches sind nun die Aufgaben der Gedenkstätte in Hohenschönhausen?”
H. Frauendorfer:
 Das ist die politische Bildungsarbeit. Unser „Kerngeschäft“ dabei ist die Besucherbetreuung und Betreuung der Besucherreferenten. Wir haben über 80 Besucherreferenten, davon sind mehr als die Hälfte Zeitzeugen, und zwar ehemalige politische Häftlinge. Sie müssen nicht unbedingt in Hohenschönhausen inhaftiert gewesen sein, aber in einem DDR-Gefängnis. Wir möchten, dass sie nicht in eine Routine verfallen und organisieren deswegen Weiterbildungsprogramme für sie. 

Ferner bieten wir eine ganze Menge an Veranstaltungen an, wie Lesungen oder Ausstellungen. Dabei ist unser Blick nicht nur auf die DDR reduziert. Um Jugendliche über Themen der aktuellen Problematik zu gewinnen, machen wir Veranstaltungen über heutige totalitäre Systeme, wie zum Beispiel zu Kuba, zu China, zu Nordkorea. Dann gibt es in Hohenschönhausen noch eine pädagogische Arbeitsstelle, wo drei Lehrer Seminare oder Projekttage anbieten. Darüber hinaus haben wir eine Zeitzeugenbörse, mit der wir Zeitzeugen bundesweit an Schulen und pädagogische Einrichtungen vermitteln. Und es wird viel Forschung betrieben, weil auch das eigene Haus noch nicht ganz erforscht ist.


Was verstehen Sie unter „eigenes Haus“?
H. Frauendorfer:
 Die Untersuchungshaftanstalt, das Gefängnis. Wir wissen noch nicht genau, welche Räumlichkeiten wofür bestimmt waren. Wir wissen nicht genau, wer wann wo gesessen hat. Es fehlen uns die Unterlagen dazu, die Akten der Häftlinge, das sind alles Sachen, die untersucht werden müssen.

Dr. Knabe, Sie sagten in ihrem Vortrag, in Hohenschönhausen hat es mehr Verhör- als Haftzellen gegeben. Wieso das?
Dr. Knabe:
 Im sowjetischen Justizsystem spielte das Geständnis die Schlüsselrolle. Nicht Indizien oder Zeugen, sondern das Geständnis des Beschuldigten war ausschlaggebend. Das reichte aus, um verurteilt zu werden. Diese Tradition, dass man von den Inhaftierten belastende Aussagen erpresst, hat bis zum Ende der DDR durchgehalten. Deswegen sind diese Verhörräume so wichtig gewesen. Man konnte die Beschuldigten zu jeder Zeit verhören. Anfangs wurde das mit brutaler physischer Gewalt durchgeführt, später vor allem mit psychologischen Methoden. 

Wir machen heute die Erfahrung, dass die psychischen Schäden, die die Häftlinge davongetragen haben, viel länger wirken als die physischen Schäden. Ein verletztes Bein kann zuheilen, aber eine verletzte Seele heilt sehr schlecht. Deswegen gibt es viele Inhaftierte, die bis heute traumatisiert sind und darüber nicht hinwegkommen, was sehr verständlich ist. Wenn man in einer Situation gezwungen wird, seine eigenen Ideale zu verraten und einem das Rückgrat gebrochen wird, ist das später sehr schwer wiedergutzumachen und zu reparieren.


Wie kann gerade dieser Tatbestand den Jugendlichen vermittelt werden?
Dr. Knabe:
 Es ist in der Tat schwierig, die Perfidie dieser Art von Verfolgung zu verdeutlichen. Es gibt keine Bilder mit Leichenbergen, das Verbrechen ist sehr viel subtiler ausgeübt worden. Für uns sind deswegen die Zeitzeugen ein sehr wichtiges Vermittlungsinstrument, die sehr glaubwürdig, sehr persönlich und auch sehr anrührend berichten können, was sich zugetragen hat. Die Zeitzeugen sind aber nur ein „temporäres Medium“ und wir müssen deshalb überlegen, was wir tun können, wenn sie nicht mehr sind. Wahrscheinlich werden wir dann vor allem auf die vielen Interviews zurückgreifen, die wir durchgeführt haben. Wir wissen aber jetzt schon, dass es etwas anderes ist, einen Zeitzeugen auf einem Bildschirm zu verfolgen, oder ob er einem gegenüber steht und sagt, hier auf diesem Stuhl hab ich gesessen und wurde verhört.


In Ihrem Vortrag erwähnten Sie, dass die Besucherzahl an Schülern aus den alten Bundesländern zugenommen hat, während jene aus den neuen Bundesländern stagniert. Wie erklären Sie das?
Dr. Knabe:
 Wir machen die paradoxe Beobachtung, dass die Zahl der westdeutschen Schüler seit Jahren ansteigt und inzwischen fast 90 Prozent der Schülerzahl ausmacht, während die Zahl der ostdeutschen Schüler stagniert oder gar zurückgeht. Wir können nur vermuten, dass bei der Entscheidungsfindung, was beim Berlin-Besuch mit der Schulklasse zu besichtigen ist, das Thema Staatssicherheitsdienst in den neuen Bundesländern nicht gewünscht wird. Vermutlich meiden Lehrer dieses Thema auch aus Angst vor Diskussionen mit den Eltern. Oder sie fürchten Diskussionen mit den Schülern, die fragen könnten, was haben Sie eigentlich gemacht in der Zeit? Man merkt deutlich, dass dieses Thema im Osten Deutschlands nicht erwünscht ist, während die westdeutschen Schüler und Lehrer unbefangener damit umgehen.


Sie sagten, für die Westdeutschen ist es Geschichte, für die Ostdeutschen ist es das Leben ...
Dr. Knabe:
 Das ist eben der Unterschied. Für die Westdeutschen ist die DDR eine interessante Geschichte, von der man wenig weiß, für die Ostdeutschen ist es das Leben in den eigenen Familien, mit Tabus, vielleicht auch Verwicklungen. Alle diejenigen, die nicht im Gefängnis saßen, müssen sich irgendwann die Frage stellen wie es eigentlich kommt, dass man sie in Ruhe gelassen hat. Sie müssen sich mit der eigenen Anpassung an die Diktatur auseinandersetzen und das ist unangenehm.