Das griechische Träumen von Europa

Paleokastrítsa auf der Insel Korfu zeigt, wo es langgehen könnte

Im Kloster Paleokastrítsa auf einer felsigen Halbinsel von Korfu schlagen die Glocken schon seit fast 800 Jahren.

Nicht der Zugang zu einem oder zwei von 80.000 Fremdenbetten auf Korfu, sondern die für Touristen verschlossene Türe zu einer Zelle des Mönchsklosters Panagía Theotókos von Paleokastrítsa Fotos: der Verfasser

Wohlstand wie in den abendländischen Industriestaaten findet sich im sonnenverwöhnten Mittelmeerstaat, der seine Geschäfte ab 1831 hundertsiebzig Jahre lang mit der ihm eigenen Drachme tätigte, nur vereinzelt. Dem antiken Ursprungsland der Demokratie bescherte das Einführen des Euro die Missgunst gut situierter Nachbarn auf dem alten Kontinent und eine schwere Krise. Es hat wohl nicht sein sollen, dass Griechenland mit dem Drehschwindel Schritt hält, der sich heute wegen seiner Hinterfüße als Turbokapitalismus mit integrierten Schäden entzaubert. Nachwirkungen des Debakels sind auch Korfu spezifisch. 

Die siebtgrößte Insel Griechenlands ist die zweitgrößte des Ionischen Archipels und war Hauptschauplatz des 1980 und 1981 gedrehten James-Bond-Streifens „For Your Eyes Only“ mit der vor fünf Jahren im schweizerischen Crans-Montana verstorbenen Kino-Ikone Sir Roger George Moore als schneidigem Agenten 007 des britischen Auslandsgeheimdiensts MI6. Natürlich „In tödlicher Mission“, wie es der Film-Titel in deutscher Sprache bestätigt.

Gut, dass ein Besuch der Insel mit nur zwei Kilometern Distanz zu Albanien an der schmalsten Stelle auf dem Wasser im Nordosten für Normalsterbliche ungefährlich ist. Die Korfioten trachten ihren Gästen nicht nach dem Leben. Zu Nachbarn allerdings können sie schon mal scheeläugig hinüber lugen, weil sie trotz all dem Stolz ihrer Region irgendwo doch auch handfest orthodoxe Griechen sind. Vom Leben, das sie bei sich daheim gerne hätten, brauchen sie nicht zu träumen. Sie führen es einfach. Selbstverständlich daran erinnernd, dass die krude Geopolitik ihnen just im entscheidenden Augenblick das bitter nötige Quäntchen Glück zugebilligt hat. Der Chauffeur eines Shuttle-Kleinbusses vom internationalen Flughafen „Ioannis Kapodistrias“ der Inselhauptstadt Kerkyra zu einem von zig Urlaubsorten nach vorbestelltem Wunsch ist Winston Churchill noch bald achtzig Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs dankbar für dessen Vorsprache bei den USA, Griechenland vor der Gefahr des Mit-Abrutschen-Lassens in den politisch unfreien Ostblock zu schützen.

Der Traum der Kommunistischen Partei Griechenlands und der so genannten Demokratischen Armee Griechenlands, den von Ende März 1946 bis Ende August 1949 wütenden Bürgerkrieg für sich und ihre linksextremen Vorstellungen vom Leben in der Welt zu gewinnen, ging nicht in Erfüllung. Den Griechen war es damals eben beschieden, ihre rechte Demokratie weiterleben und -pflegen zu dürfen.

Orthodox-katholische Kommunikationswege

Denn Träumen gerät zu einer desto gefährlicheren Affäre, je länger man sich ihm hingibt. „Turkey dreams a lot!“, wie der Chaffeur des Shuttle-Kleinbusses auf Korfu die Türkei von Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan jäh abtut. Man verstehe daraus ohne Umschweife, dass die orthodoxen Griechen das Statuieren der Hagia Sophia von Istanbul – dem frühchristlichen und byzantinischen Konstantinopel vor der Eroberung durch das Osmanische Reich – zu einer Moschee schlicht und ergreifend nicht haben können. Der religiös gestimmte Argwohn des korfiotischen Berufsfahrers und seiner griechischen Landsleute auf die Türkei klingt lautstarker durch Europa als die kaum mehr feststellbare Bereitschaft ranghoher EU-Funktionäre, Erdogans Vorgänger und säkularen Staatsreformer Kemal Atatürk postwendend in Ehren zu halten und das Beibehalten seines Kurses einzufordern.

„They destroyed every-thing!“, schlägt eine Saxophon-Lehrerin und Gästeführerin im Museum der 1840 gegründeten Philharmonischen Gesellschaft von Korfu in dieselbe Kerbe. Als es den Osmanen dank venezianisch-militärischen Widerstands der Korfioten nicht gelang, einen Vorposten des Abendlandes über den Seeweg einzunehmen, probierten sie es eben auf dem Landweg. Aber auch dort war ihnen der Okzident überlegen. Das erzkatholische Wien wurde so schnell wie möglich vom orthodoxen Korfu über die zu erwartende Gefahr unterrichtet und ging siegreich aus beiden Belagerungen durch die Türken hervor.

Und der Traum vom eitlen Superwohlstand des 21. Jahrhunderts? Griechenland hat versucht, ihn mitzuträumen. Doch geschnallt, dass nicht wirklich etwas an ihm dran ist, was es wert wäre, auf Erfolgsrezepte der bisherigen Zeitrechnung zu verzichten. Daran ändern auch die aufgelassenen Industriehallen, Wohnblocks und Tavernen nichts, von denen es an Korfus Landstraßen erstaunlich viele gibt. Statt einem Wirtschaftsboom die Bühne zu bereiten, hat hier der Euro Schürfwunden in ein Land gerieben, das global schon immer ein geschätzter Gastgeber gewesen war. Er hat die Griechen viel gekostet und tut es bis heute. Eines jedoch hat diese tückische Einheitswährung ihnen nicht abkaufen können: ihre Selbstachtung. „Reușesc să nu fie bădărani“, wie Historiker und Reise-Journalist Codruț Constantinescu Ende August 2021 in der „Dilema Veche“ lobte. Den Griechen glückt es, sich nicht gehen zu lassen, so der Berater für Europäische Angelegenheiten an der Präfektur des Kreises Prahova.

Aufrecht trotz der Krise

Für die Probe auf´s Exempel eignet sich auch Paleokastrítsa an der Bucht des Nachbardorfes Liapádes, der „Órmos Liapádon“. Nahe am Ostrand der Ortschaft mit ihrem zerklüfteten Mittelmeer-Ufer findet sich die gutgehende und nicht billige Taverne „Spiros“, wo auch die großen Linienfahrzeuge des unschlagbar günstigen Insel-Verkehrsnetzes „Green Buses“ halten – eine einfache Fahrt in die UNESCO-Weltkulturerbe-Stadt Kerkyra kostet weniger als drei Euro pro Person. Abends nach Sonnenuntergang, wenn „Spiros“ keinen Tisch mehr frei hat, zeigt der Blick über die Straße auf die Gaststätte, wie ein klassischer Grieche leibt und lebt. Gemeinsam, fröhlich und ausgelassen. Über Missratenes schimpfen hört man ihn nicht. Weder aus der hell erleuchteten Taverne und schon gar nicht tagsüber, und sei es auch die Gastwirtschaft „Oasis“ direkt nebenan, der die Euro-Krise übel mitgespielt und ein Dasein als Ruine gebracht hat.

Statt Tischen und Stühlen steht unter dem Schirmdach der Taverne „Oasis“ ein alter und weißer Lada mit offenem Laderaum, der beim erstem Hinschauen glatt ein Pick-up-Dacia, eine „Dacia Papuc“ sein könnte. Warum also nicht die paar Schritte auf den menschenleeren Platz hingehen und sehen, ob das Fahrzeug und sein Logo echt aus Rumänien sind oder nicht? Die Überraschung folgt auf dem Fuß. Zwar ist der PKW leider keine „Dacia Papuc“, aber nichtsdestotrotz vierzig Jahre alt, wie der aus dem Nichts auftauchende Gastwirt der trockengelegten „Oasis“ auf Nachfrage gerne erklärt. Er selbst mag fast doppelt so alt wie sein „noch immer fahrender“ Lada sein und kann bestimmt ein Klagelied vom Euro-Donnerwetter singen, das bald nach der Jahrtausendwende über Griechenland hinwegfegte. Die Überraschung ist, dass er es nicht anstimmt. Mag der ein oder andere westeuropäisch eingestellte Wohlstands-Bürger als Tourist in Paleokastrítsa auch eine saure Litanei auf der Rechnung haben – für waschechte Griechen kommt es einfach nicht infrage, über ihr Land herzuziehen.

Im Osten geht die Sonne auf...

Weil sie wissen, was Europa an ihnen hat. Ein Hellas nämlich, das mit schnellen Motorbooten erfahren wird, hat trotz kaltgepresstem Olivenöl erster Güte beste Chancen, sein Ziel nichtsahnend sicher zu verpassen. So beiläufig, wie es verschlungen ist, entschwindet auch sein Nachgeschmack. Um Griechenland in seiner ureigenen Note auszukosten, muss man es berühren wie die einfachen Leute, die dort leben. Also nicht mit einem stählernen Passagierboot für Urlaubsgäste, das im Wasser eine weiß schäumende Spur zieht wie Flugzeuge am blauen Himmel, sondern authentischer an Bord eines sturmerprobten Fischerkahns aus Holz, der gemütlich von Bucht zu Bucht tuckert.

Es ist ein Traum, das bei Sonnenuntergang zu erleben, und die 20 Euro pro Fahrgast an der Kasse von „Seahorse Boat Rental“ mehr als wert. Am Heck, Steuer und Motor des Fischerkahns nimmt ein Einheimischer und Korfiote Platz, der sein Wasserfahrzeug selbst bei hohem Seegang verlässlich im Griff hat und es an Kliff-Höhlen vorbei von Strand zu Strand führt. In manche dieser Kavernen fährt er das Boot auch hinein, um allen Gästen beispielsweise die Grotte zu zeigen, in der König Odysseus von Ithaka auf der letzten Station der Irrfahrt nach dem Trojanischen Krieg dem Meeresgott Poseidon  in Person begegnet sein soll. Dass der bodenständige Gastgeber aus Paleokastrítsa es mit den Passagieren der „Sunset Cruise“ in seinem eigenen Boot wirklich gut meint, merkt man spätestens bei Ankunft vor dem „Paradise Beach“, dem er sich nur bis auf 50 Meter Distanz zum Ufer nähert. Fahrgäste, die hier für ein paar Schwimmzüge aus dem Boot ins Wasser springen wollen, warnt er vor Verkürzung der sicheren Entfernung zum „Paradies.“ Von der Klippe können Steine herunterfallen.

...im Westen will sie untergehn

Das Mittelmeer ist polarisierend wie jedes andere Weltmeer auch. Anziehend und abstoßend zugleich. Die Bibel schließlich ist nicht umsonst ein Buch des östlichen Mittelmeerraums, und das Neue Testament wurde auch nicht von ungefähr zuerst auf Griechisch niedergeschrieben, bevor es in weitere Sprachen übersetzt seinen Weg gen West und Nord fand. „Bleibe bei uns, Herr, denn es will Abend werden, und der Tag hat sich geneigt!“ Paleokastrítsa liegt an der Westküste der Insel Korfu. Wie es sich im richtigen Leben anfühlt, auf unsteter Meeresoberfläche unterwegs zu sein und die Nacht fern vom sicheren Festland verbringen zu müssen, wussten die Griechen heute vor zwei Jahrtausenden längst schon treffend in Worte zu fassen. Das Recht, nach der Demokratie im Rein-Zustand auch das christliche Weltbild schriftlich vorzuprägen, gebührte an erster Stelle ihnen.

Protestant Johann Sebastian Bach als musikalisches Barock-Genie des Abendlandes hat Griechenland niemals bereist. Auf Vers 29 im letzten Kapitel des Evangeliums von Lukas jedoch hat er 1725 eine der schönsten von seinen über zweihundert Kantaten geschrieben. Romantiker und Katholik Josef Gabriel Rheinberger tat es ihm 130 Jahre später gleich und vertonte das Bitten um Beistand zu einem „Abendlied“ für sechs Chorstimmen. Es ist von tief beruhigender Wirkung.

So, wie es der jung in München Musik Studierende und viel später ein Jahr vor seinem Tod 1901 brieflich kommunizierende Maestro gern bestätigte: „Ihr Zweifel, ob es schließlich Aufgabe der Kunst sei, zu beruhigen und zu veredeln oder aufzuregen, ist ja schon in der lieblichen griechischen Mythe vom Orpheus, der die wilden Bestien mit seinem Flötenspiel zähmte, gelöst.“ Auch Rheinberger hat Griechenland wohl nicht bereist, aber davon Bescheid wusste er. Schwer von der Hand zu weisen, dass heute in der westlichen Welt – dem Abendland – nicht mehr alles so glatt und reibungslos fließt, wie es seit Mitte des 19. Jahrhunderts das „Abendlied“ von Rheinberger besingt.