Das Haus Nr. 19 in der alten „Bem-Gassn“ Erinnerungen an Temeswar

Blick in den Innenhof der Wohnanlage Văcărescu-Str. 19 in der Temeswarer Josefstadt.

Eingangstor zum Hof des Hauses Nr. 19 in der alten „Bem-Gassn“. | Fotos: Julia Kakucs

Und meine Seele spannte
Weit ihre Flügel aus,
Flog durch die stillen Lande,
Als flöge sie nach Haus.
 

Mondnacht, Joseph von Eichendorff

Schön, dich hier zu treffen in diesem kleinen, gemütlichen Café, draußen am Straßenrand, im Schatten der Bäume. Erinnerst du dich, dass ich dir einmal sagte, dass Namen wie Zugvögel meine Erinnerung durchstreifen und dass das Bild Temeswars für mich immer mit den Bildern seiner Menschen zusammenfließen wird?„Der Mensch heiligt den Ort!“, ermahnte mich mein Vater immer, wenn ich mich wegen einer bürokratischen Ungereimtheit beklagte. Nicht eine Behörde, nicht ein Büro entscheidet. Die Person führt etwas aus. Der Mensch gestaltet, er füllt ein Amt mit Leben aus. Noch mehr. Er ist derjenige, an den du dich erinnern wirst. Die leere Bank am Bega-Ufer bleibt ein stummes Bild. Wenn du aber in Begleitung dort warst, wachen die Worte auf und die Sehnsucht in dir. 

Worin liegt das Geheimnis der Erinnerung? Im Duft der Kindheit, in der Wärme der Berührung, der Umarmung, im Klang der Stimmen, in den Gefühlen, die von Details wiederbelebt werden. Tore, die Gestalten beherbergen… Ich höre noch ihre Stimmen und sehe ihre Gesichter. Frauen und Männer, spielende Kinder, Alt und Jung, alle zusammen bilden eine bunte Gemeinschaft. Sie lassen in meiner Erinnerung die ganze Stadt auferstehen oder nur eine Straße. Aber meist ein bestimmtes Haus. 

„Hallo! Spreche ich mit dem Maestro Roth? Mit Maestro Roth Laci?“ Meine Stimme klingt aufgeregt. Was erwarte ich von diesem Gespräch mit einem Hundertjährigen, der ganz bestimmt nicht aus dem Fenster sprang und auch nicht verschwand? Ein Hundertjähriger, dessen Geburtstag gefeiert wird, der am 4. Juli 2020 genau 100 Jahre alt geworden ist und der sich so genau an alles erinnern kann. Einen Tag vorher saß ich vor meinem Computer in meinem Arbeitszimmer in der Nähe von Frankfurt am Main und verfolgte das digital geführte Gespräch. Die Moderation hatte Martin Ladislau Salamon übernommen, Direktor des Institutul Cultural Român (ICR), Tel Aviv. Der Maestro war zu Hause, verbunden per Zoom mit Temeswar, mit dem Operndirektor Cristian Rudic und mit meiner Cousine Luciana Friedmann, Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde Temeswar. Welche Verbindung existierte zwischen uns? Temeswar, meine Heimatstadt, in der der gebürtige Sathmarer – nachdem er Auschwitz und Melk überlebt und sein Studium am Konservatorium in Budapest absolviert hatte – Dirigent der Temeswarer Oper wurde. Ein rundum Musiker, ein rundum besonderer Mensch ... 

„Hallo, Maestro? Hier spricht eine Friedmann aus Temeswar. Ich wollte Ihnen zum 100. gratulieren.“ Seine Stimme ließ Freude erklingen, als er antwortete: „Friedmann? Friedmann Ernö war unser bester Freund in der Stadt. Bevor er nach Bukarest wechselte, um dort auch im Opernchor zu singen, haben wir uns sehr oft getroffen. Er hat auch kleine Rollen in vielen Opern gesungen. Ja! Sie sind die Tochter seiner Schwester Rozsi. Ich erinnere mich sehr gut an alle Friedmanns. Oft habe ich sie in der Bem-Gasse (Anm.: heute V˛c˛rescu-Gasse, Josefstadt) besucht. Ernö hatte ein wunderbares Klavier. Kein Pianino! Ein richtiges Klavier, Marke Hoffmann aus Berlin. Auch die Holzfarbe ist mir heute noch präsent … Julia, nenne mich Laci. Ganz formlos, bitte. Ich liebe Temeswar und fühle mich in der jüdischen Gemeinde zu Hause.“ 

Wir sprachen lange über viel was uns verband. „Ich wage Ihnen nicht das traditionelle ‚Bis 120!’ zu wünschen, weil es einen klugen Rabbi empört hat, meinend, dass man seinem Leben dadurch eine Grenze gesetzt hätte“. Der Maestro lachte herzhaft. „Wir sollen optimistisch bleiben!“, sagte er fröhlich. Leicht benommen legte ich den Hörer auf. Roth Laci ... Meine Mutter, die auch Opern- und Operettenarien sang, erwähnte ihn immer wieder. Sie hätte sich gefreut zu erfahren, dass der weltberühmte Maestro, der Freund, der hart geprüfte Mensch, der im Jahr 1958 aus der Temeswarer Oper fristlos entlassen wurde, wobei ihm sogar der Eintritt mit einer gekauften Opernkarte in den Zuschauersaal verweigert wurde, am 6. Juni 2019, im stolzen Alter von 99 Jahren zum Ehrenbürger der Stadt Temeswar ernannt wurde. Gleichzeitig wurde ihm die Ehrenmitgliedschaft der Opera Națională Română din Timișoara verliehen. An dem Tag schrieb die Zeitung Ziua de Vest: „La 99 de ani, Ladislau Roth este tot mai rar pe scenă, dar cu foarte mare plăcere revine la Timișoara. ONRT l-a onorat cu distincția de membru de onoare al ONRT, el fiind și membru fondator al instituției“. Und fügte die Worte des derzeitigen Operndirektors Cristian Rudic bei: „Ladislau Roth ist eine lebende Legende,…“ Die Stille kehrte wieder in meinen Raum ein, aber die Bilder rollten weiter vor meinen Augen. Das Klavier, sein Klang … Ich fühlte unter meinen Kinderfingern die glatten Tasten. Mein Besuch bei Omami endete oft in Gyuris Zimmer, der kleinste Bruder meiner Mutter. Während er Projekte für sein Studium an der auch außerhalb Rumäniens Grenzen bekannten Polytechnische Fakultät zeichnete, ließ ich das Klavier für mich Melodien mit meinen Träumen verbinden. Ernös Klavier blieb in Großmutters Wohnung, bis es eines Tages in die Hauptstadt verfrachtet wurde. 

Der Duft nach Schokolade

Ich möchte noch über dieses Haus Nr. 19 erzählen. Es steht gegenüber dem früheren „ARTA“-Kino, in einer Gasse, die für meine Generation nach Schokolade duftete. Der Eingang in das Gebäude auf der nach dem 48ger General Bem benannten, der späteren V˛c˛rescu-Straße, beherbergte unter dem schweren Gewölbe zwei Treppen, je eine links und rechts, die in die größeren und schöneren Wohnungen an der Straßenseite mündeten. Links wohnte Clara mit ihrer Familie. Sie litt an der ihr kurz vor Kriegsende widerfahrenen Ungerechtigkeit. Erkrankt aus dem sowjetischen Arbeitslager zurückgekehrt, erzählte sie mit Bitternis in der Stimme, wie sie im fast kindlichen Alter von 16 Jahren auf der Straße gefangen wurde, weil bei der „Füllung“ des Transportwaggons eine Person fehlte. Eine Jüdin als Deutsche in russischer Lager-Gefangenschaft ... Als sie zurückkehrte, wurde sie Lehrerin für russische Sprache.

Lange Zeit wusste ich nicht, wer rechts vom Eingang gewohnt hat. Vor kurzem, nachdem ich mein Essay „Eine echte jiddische Mamme“ veröffentlicht habe, einen Text, in dem ich meine Großmutter, die im Haus Nr. 19 wohnte, porträtierte, bekam ich eine Nachricht aus Haifa in Israel. „Ich kenne das Haus gut. Wir wohnten rechts vom Eingang. Als Mädchen stand ich oft am Fenster und beobachtete, wie deine schöne Tante Clara Friedmann von Dr. Zeno Pop, dem Chirurgen, der sie später geheiratet hat, auf dem Motorrad abends nach Hause gebracht wurde. Ich heiße auch Clara ...“ So begann sich das Puzzle zu vervollständigen.

Man sagt, dass Temeswar im Herbst, wenn das Laub sich verfärbt, am schönsten sei. Er erreichte auch den Hof meiner Großmutter, obwohl die Hitze des Sommers noch für lange eingezogen zu sein schien. Die Einsamkeit der Pflanzen beeindruckte mich schon damals. Die einzige Dahlie, groß, schlank und stolz, hielt ihren Kopf, in der Farbe des Ostens gefärbt, vor dem Tor hoch. Die Wohnungstür neben ihr stand immer offen und Juci-Tante, die rundliche, freundliche, herzhaft lachende, aus einem schwäbischen Banater Dorf hierher gezogene Frau, eilte mir immer mit einem freundlichen Wort auf den Lippen entgegen. Sie begrüßte mich am Eingang gemeinsam mit dem Rizinusstock. Er war auch hierher zugewandert, er kam aus Afrika. Es sind nicht nur Menschen, die an sichereren Orten Zuflucht suchen. Der von hohen Gebäuden umgebene Raum war offensichtlich geschützt von Katastrophen aller Art. Nur das Schicksal seiner Bewohner war von einer bitteren Tragödie geprägt. Auf dem langen Balkon, von uns Gang genannt, der auch die Schritte meiner Großeltern über die Zeit bewahren konnte, lebten Frau Wieder, die mit dem in Auschwitz tätowierten Arm, dann Genu, der an der Grenze gequälte Junge, der fliehen wollte, und Kálman, der für die Betrügereien seiner Chefs unschuldig inhaftiert wurde. 

Ja, der Rizinus wuchs in einem Hof voller Menschen und Sprachen. Religionen mischten sich wie die Musiknoten einer Sonate. Rumänen, Deutsche, Ungarn, Roma, Serben, Mitbürger jüdischen Glaubens, alle füllten den Raum mit Leben, mit ihren Bräuchen und Lebensgewohnheiten. Seine Rolle? Erschrocken von dem, was er hörte, war er in seiner Heimat viel kleiner geworden als seine Brüder, die Rizinusbäume. Er hatte gelernt, nur ein Dekorationselement in der kargen Landschaft eines Innenhofs mit vielen Mietern zu sein, ein kontrastierendes Muster der Einsamkeit bietend. Ich glaube nicht, dass ich damals wusste, dass seine roten Blumen, die er uns zeigte, tatsächlich die verführerischen Frauen waren. Sind deshalb die männlichen Blüten, die neben ihnen wachsen, gelb geworden? Ich nehme an, dass dies auch die Ursache für die große Menge an Gift ist, die er in den Samen gesammelt hat. Ein Gramm Rizinusöl ist 6000 mal giftiger als ein Gramm Cyanid. Stell dir vor, Felix Yusupov hätte diese Informationen gehabt, als er der Legende nach Rasputin erfolglos vergiftete. Aber Yusupov kannte auch Killians Reaktion nicht, bei der Glucose mit Cyanid reagiert und es in ein ungiftiges Cyanhydrin umwandelt. Sonst hätte er sich nicht die Mühe gemacht, süße Kuchen zu backen. Ein Glas Wodka mit Mandelgeschmack hätte ihm mehr geholfen.Vor jedem Sukkot-Fest befand ich mich am Tisch - nicht an Brâncu{is Tisch des Schweigens, sondern am Tisch der reichen Ernte, voll mit den Geschichten des Nachbarn meiner Großeltern. Das Bild war immer das gleiche. Im Licht, das durch das dicke Tuch gefiltert wurde, damit es den Schatten der Weinreben über dem Zelt ermöglichte, im Rhythmus der Worte zu schwanken, saßen wir an einem langen Tisch, der mit einer Leinentischdecke bedeckt war. Getrennt und vereint zugleich saßen wir, von Angesicht zu Angesicht, ein kleines Mädchen mit Zöpfen, das seine Beine in roten Sandalen baumeln ließ, und ein großer, knochiger alter Mann mit spärlichen weißen Haaren, kleinen Augen – die zwischen den verkrusteten Ereignissen der Seele versteckt waren – auf seinen Ellbogen gestützt. Wenn der Wind nicht vergessen hätte, die Worte aufzuzeichnen, würden wir jetzt im Summen der Bienen Geschichten über die Schönheit des Feiertags hören, die Erklärung der Symbole der Zweige und Zitrusfrüchte, die sich am ersten Tag versammelt hatten. Ich glaube, meine Anwesenheit ähnelte dem Symbol des immergrünen Zweigs der Myrte, dem Strauch der Aphrodite in der Antike. Aber während des Laubhüttenfestes sicher ein Zeichen der Unwissenden im Heiligen, aber voller Wohlwollen und Neugier. Auf jeden Fall aber erinnerte ich Herr Rosenberg an die gute alte Zeit, an seine Kindhet …

Fest glaube ich daran, dass uns das Licht der Erinnerung Mut verleiht, wenn wir etwas geliebt haben. Mir ist es ähnlich wie James Joyce ergangen: „Ich habe nichts erfunden, aber ich habe auch nichts vergessen.“