Wort zum Sonntag

Das Leben und volle Genüge

Jesus Christus spricht: Ich bin gekommen, damit sie das Leben und volle Genüge haben sollen. 
(Johannes 10, 10b)

Mitten in der Rede des Heilands vom „Guten Hirten“ steht dieses wunderbare Verheißungswort. Und es lohnt sich, einmal das ganze 10. Kapitel zu lesen und den 23. Psalm dazu. Dann wird nämlich verständlich, dass die Zuhörer entrüstet erklären: „Er ist von Sinnen, was hört ihr ihm zu?“

Tatsächlich kann unser Monatsspruch modernen Menschen überheblich, vermessen oder gar lächerlich klingen. Aber, um im Bild des guten Hirten zu bleiben, in der Obhut des Hirten haben die Schafe alles: Leben, Schutz und „volle Genüge“. 

Denn letztlich geht es in allem und durch alles um das Leben. Schon in der Geburtenklinik fängt es an, und bei jeder Operation geht es um das Leben. Wenn Regierungen Beschlüsse fassen, wenn der Landmann seine Felder bestellt, wenn Kommissionen die Lebensmittel überwachen, wenn ein Hausvater und die Hausmutter ihre Arbeit verrichten – es geht immer und in allem um das Leben. Und wenn Klimaforscher Konferenzen halten, wenn Naturschützer sich für Tiere und Pflanzen einsetzen, immer geht es um das Leben.
So weit ist alles gut und richtig, solange wir nicht in gefühlvoller Schwärmerei versinken. Denn wir leben alle vom Lebendigen. 

Der Heiland sagt es hier Menschen, seinen Landsleuten und Zuhörern: „Ich bin gekommen, damit sie das Leben und volle Genüge haben sollen.“ „Sie“, mit diesem Wort sind die gemeint, die zu ihm gehören, seiner Stimme gehorchen und ihr Sein dem Heiland anvertrauen.

Wie ein unerklärliches Geheimnis zieht es sich durch die Geschichte der christlichen Kirche: Menschen, Frauen und Männer, denen es gelingt, ihr Leben, das heißt ihre irdische Existenz, dem lebendigen Christus anzuvertrauen, erhalten „das Leben“, etwas Neues, Unverlierbares, Unbeschreibliches, für Außenstehende Unerklärliches. Solche Menschen kann man steinigen, wie den Stephanus, oder durch ein Martyrium zu Tode bringen, doch sie haben das Leben, auch wenn jetzt das Sterben ihr Teil ist.

Nur so kann das Heilandswort im nächsten Kapitel verstanden werden: „Wer an mich glaubt, der wird leben, auch wenn er stirbt; und wer da lebt und glaubt an mich, der wird nimmermehr sterben.“
So bekommen Menschen durch den lebendigen Heiland Mut zum Leben und Hoffnung für die Welt. Denn sie wissen und vertrauen: Mein Leben kommt von dem Herrn und hängt nicht an dem, was ich täglich zum Leben benötige. Und sie erfahren es immer wieder neu, was Paulus erlebte und dann niedergeschrieben hat, als einen Zuspruch seines Herrn: „Lass dir an meiner Gnade genügen, denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig!“ Dabei hatte Paulus, bei allen Misslichkeiten und Gefahren seiner Reisen, „volle Genüge“, auch wenn er drei Tage als Schiffbrüchiger im Meer schwamm! Und Dietrich Bonhoeffer, ein Märtyrer des 20. Jahrhunderts, schrieb aus dem Gefängnis an die Seinen: „Gott erfüllt nicht alle unsere Wünsche, aber alle seine Verheißungen!“ Er hatte das Leben, und das konnte ihm niemand nehmen.

Ja, Herr, nun weiß ich es: Das Leben ist ein Geschenk von Dir. Das kann man nicht kaufen, und es hängt auch nicht an dem, was man in dem reichlichen Angebot mit Geld erwerben kann. Aber mein Leben kann sich durch Dich entfalten, an Tiefe gewinnen und zu getroster Gelassenheit führen. Wie immer es kommt und was immer mich betrifft: Ich bin geborgen in Dir, heute und morgen und allezeit.