Das Lehrstück „Brexit“

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Als Lyzeumsschüler las ich kurz nacheinander (in rumänischer Übersetzung) Claude Lévi-Strauss: „Traurige Tropen“ und „Das wilde Denken“. Zu den Erfahrungen, die sich mir bis heute festsetzten, gehört die Erkenntnis von Lévi-Strauss, dass die Menschheit eigentlich immer noch in der Denkweise ihrer Vorfahren – der „Primitiven“ – verhaftet ist: Ein Ding, ein Vorgang, existiert nur, wenn es einen Namen hat. Umgekehrt: Schwindet der Name, schwindet das Ding usw. aus dem Bewusstsein des Menschen.
Daran fühlte ich mich erinnert, als ich nach dem EU-Austritt Großbritanniens las, dass der hochintelligente und brandgefährliche Demagoge Boris Johnson seinen Ministern verboten hat, nach dem 1. Februar noch in öffentlichen Diskursen vom „Brexit“ zu reden. Wie es Claude Lévi-Strauss bei Expeditionen im Mato Grosso Brasiliens bei dessen indigenen Bewohnern feststellte: Gibt es ein Wort nicht mehr für ein Ding, schwindet das Ding aus dem Bewusstsein… 

Struwwelpeter Boris hat realisiert, welche Spaltung er in Großbritannien durch seinen ideo-logischen Kampf gegen die Globalisierung aufgerissen hatte – ist die EU doch eine Ausdrucksform fortschreitender Globalisierung und „Brexit“ die Zurückweisung des Globalisierungstrends (Boris J. zappelt also spitzbübisch grinsend gegen den Strom, dem Nationalgeist des 19. Jahrhunderts huldigend)? – wobei das Gegenlager der Remainers zwar um ein paar Prozentpunkte überstimmt, aber nicht besiegt worden war. Man verfolge in den kommenden Jahren die zentrifugalen Tendenzen in Schottland, Wales (?) und wohl auch (aber nicht nur) in (Nord-)Irland. Der britische Premier wird erst die „Mühen der Ebenen“ kennenlernen (es erwarten ihn und sein Team harte Konkretisierungsverhandlungen des Austritts, die am 31. Dezember mit einem Vertrag über den „geregelten Austritt“ zu finalisieren sind), um dann zu versuchen, die tiefe Spaltung der Insel zu überbrücken. Was mit seinen bisherigen „politischen“ Werkzeugen – Zynismus, Hetze, Unnachgiebigkeit, rotzfrech Herrischsein u.Ä. – unmöglich ist. 

Letztendlich: Wenn sich Boris Johnson vor einem Wort fürchtet (und seinen Ministern empfiehlt, es im öffentlichen Diskurs zu vermeiden), dann fürchtet er eigentlich, in der Logik des Strukturalisten Lévi-Strauss, den Vorgang, den „Brexit“ an sich, den er als einer der führenden Köpfe seit 2015 angestrebt hat. Dazu gibt es auch allen Grund: Niemand kennt die wirtschaftlichen Folgen des EU-Austritts Großbritanniens. Keiner kann voraussagen, wohin die Autonomiebestrebungen Schottlands und Nordirlands führen, welches die bilateralen Handelsverträge – und vor allem die festgeschriebenen Vor- und Nachteile der Handelspartner – sein werden, die noch auszuhandeln sind – die Monate, die Großbritannien und die EU jetzt durchleben, sind ein Segeln über unbekannte Meere.

Fest steht: Kein „Brexit“ hält die Globalisierung auf. Globalisierung ist ein schleichendes, ein unaufhaltsames Phänomen der Gegenwart. So erzkonservativ ein echter Engländer auch sein mag: Davor verwahren wird sich niemand können, auch nicht ein selbstherrlicher Egozentriker wie Boris Johnson. Von Großbritannien ganz zu schweigen. Gegen die unvermeidliche und unumkehrbare Globalisierung hilft keine „splendid isolation“!

Umsonst will Großbritannien in den kommenden Monaten nun zwischen sich und dem Kontinent einseitig durchlässige Mauern gegen Immigration, Jurisdiktion, auch politischen Entscheidungen errichten. Das Baumaterial solcher Mauern ist brüchig. Ein zeitweiliges Stocken der Globalisierung ist voraussehbar, doch kein Globalisierungsstopp durch „Brexit“. Dazu sind die postindustriellen Ökonomien und Gesellschaften schon zu weit vorangeschritten auf ihrem globalen Nivellierungsweg, der alle Mauern einreißt.
„Brexit“ bleibt ein Lehrstück für Historiker. Ist Boris Johnson nicht Historiker?