Das Phantastische ging ihm von der Hand wie im Schlaf

Zum 200. Todestag des romantischen Dichters E.T.A. Hoffmann

Selbstportrait E.T.A. Hoffmanns, aus „E.T.A. Hoffmanns Werke in 15 Teilen, Teil 1. Auf Grund der Hempelschen Ausgabe neu hrsg. von Georg Ellinger“, Berlin etc. 1920

Seine sieben letzten Lebensjahre – 1815 bis 1822 – verbrachte E.T.A. Hoffmann in einer komfortablen Wohnung am Gendarmenmarkt in Berlin-Mitte. Auf einer skurrilen Stadtplan-Skizze – als „Kunzischer Riss“ wurde sie später bezeichnet – hat der „Gespenster-Hoffmann“, wie er in den Literaturgeschichten des 19. Jahrhunderts genannt wurde, dem Bamberger Freund und Verleger Carl Friedrich Kunz 1815 seine neue Wohngegend vorgestellt. Dabei geht ihm die Phantasie durch, er schaut über das Gewirr von Straßen und Plätzen, erblickt erfundene wie reale Gestalten, Figuren auch aus seiner eigenen Dichtung – der Zeichner wird zum Erzähler wirklicher wie unwirklicher Begebenheiten und Geschichten.

Da streckt aus dem Fenster seines Arbeitszimmers E.T.A. Hoffmann seinen Kopf heraus und bläst eine Qualmwolke in Richtung seines Freundes und liebsten Zechkumpans, des Schauspielers Ludwig Devrient, der gleich nebenan wohnte. Auf dem Gendarmenmarkt tratschen ihre Waren feil haltende Gemüseweiber. Von der Taubenstraße nähert sich ein Gefährt mit dem Baron Fouqué, dem Verfasser des „Undine“-Märchens, das Hoffmann vertonte und das als Oper ein Jahr später im Nationaltheater am Gendarmenmarkt uraufgeführt wurde.

Ganz rechts oben verrichtet ein „Anymus“ mit herabgelassener Hose sein Geschäft vor dem Kammergericht, in dem Hoffmann lustlos, aber gewissenhaft seinen Amtsgeschäften nachging. Weiter links sieht man drei andere Romantiker-Kollegen Clemens Brentano, Ludwig Tieck und August Ferdinand Bernhardi die Markgrafenstraße entlang gehend.

Unter den Gestalten links kann man zwei Figuren aus Hoffmanns Berliner Erzählung „Die Abenteuer der Sylvester-Nacht“ ausmachen, und zwar an der Ecke Jägerstraße, wo sich einer ihrer Schauplätze, die Kellerkneipe, befindet, in der die Figuren sich begegnen: Peter Schlemihl, den Hoffmann aus der gleichnamigen Erzählung seines Freundes Adelbert von Chamisso entlehnt hat, und Spikher, eine Eigenschöpfung, die ebenfalls einen Identitätsverlust erleidet. Den verlorenen Schatten des einen und das Spiegelbild des anderen benutzt der Teufel, um ihrer Seele habhaft zu werden.

Links vom Glöckner auf der Französischen Kirche windet sich die Schlange Serpentina um einen Zweig, unbeachtet von dem Pfeife rauchenden Studenten Anselmus und dem biederen Konrektor Paulmann. Alle drei Figuren hat der Zeichner aus dem in Dresden spielenden Märchen „Der goldene Topf“ nach Berlin versetzt. Am linken Rand der Zeichnung zechen in der Restauration Lutter & Wegner zwei Gäste, die man als Hoffmann und Devrient identifizieren könnte. Sie haben mit ihren Späßen und Maskeraden das ganze Lokal unterhalten. Unweit davon sieht man den höllischen Doktor Dapertutto mit der Kurtisane Giulietta aus dem „Abenteuer der Sylvester-Nacht“.

Im Gebäude des Nationaltheaters, das die obere Mitte der Zeichnung einnimmt – es brannte 1817 ab –, wird geprobt, der beleibte Kapellmeister Weber hat die Arme voller Spezereien, neben ihm – spindeldürr – der Musiker Kreisler, das dichterische Spiegelbild von Hoffmanns eigenem Ich, aus dem erst 1819 begonnenen Roman „Lebensansichten des Katers Murr“. Kreislers parodierendes Gegenstück, der dichtende Kater Murr, ein Philister, hinter dem sich moralische und künstlerische Korruption verbirgt, fehlt noch in der Zeichnung. Nebenan im Direktionszimmer bieten vier Dichter untertänigst dem Theaterintendanten Graf Brühl ihre Manuskripte dar.

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E. T.A. Hoffmann sah eines der entscheidenden Kriterien echter Dichtung darin, dass die hier dargestellten Gestalten, Geschehnisse und Umstände als wirklich erscheinen. Dabei kam ihm eine ungewöhnlich sichere Beobachtungsgabe zu Hilfe.

Sowohl als Dichter wie als Zeichner gelang es ihm, die Besonderheiten seiner Mitmenschen schnell zu erfassen und einprägsam wiederzugeben. Ob irritierend oder nicht, das Wunderbare passiert bei Hoffmann nicht jenseits geläufiger Wirklichkeit, sondern mittendrin. Die eigene Stadt, das eigene Haus und Zimmer werden zum Schauplatz für Ereignisse, die nicht von dieser Welt sind. Ein gewöhnlicher Türklopfer verwandelt sich plötzlich zur Hexenfratze und markiert zugleich den Eingang in ein Gebäude, wo es unheimlich zugeht („Der goldene Topf“).

Aus einem Tintenklecks fährt ein Blitz, und ein Salamander spuckt Feuer, das zur gläsernen Flasche erstarrt, in die der naive Märchenheld Anselmus verbannt wird. Ein ungeliebter Hauslehrer schwirrt unversehens wie ein brummendes Insekt im Milchtopf herum („Das fremde Kind“).

Aber hinter der ungewöhnlichen Liebesgeschichte zwischen dem Studenten Anselmus und dem Schlänglein Serpentina, der Tochter des Salamanderfürsten Lindhorst, der in kümmerlicher Menschengestalt, als Geheimer Hofrat und Archivarius in Dresden, sein Leben fristen muss, steht die Utopie einer ästhetischen Existenz. Anselmus verzichtet auf die Hofrat-Karriere und die hausbackene Veronika, er eskapiert mit Serpentina, die ja nichts anderes als eine Allegorie der romantischen Poesie ist, nach „Atlantis“, in den narzisshaften Selbstgenuss im Reich des Schönen.

Der Verfasser, der sich selbst mit unerfreulichen Amtsgeschäften abplagen muss, beneidet seinen Helden ob seines Lebens in der Poesie, doch dann will er doch lieber mit den sinnlichen Freuden des irdischen Lebens vorliebnehmen, wobei der Alkohol eine nicht unerhebliche Rolle spielt. Das ist ein Erzählen aus dem Geist romantischer Ironie, der Kunst des vielfach die Perspektiven wechselnden Erzählens.

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Mythisch überhöhen und ironisch unterlaufen – diese romantische Doppelstrategie ist Hoffmann nachgewiesen worden. Immer haben wir auf die divergierenden Optiken seiner Erzählweise wie die der Figuren zu achten, die mal nüchtern empirisch sein können, dann wieder – gänzlich unvermittelt – phantastisch und bizarr, der Welt des Wunderbaren zugehörig, erscheinen. Hoffmann kann wohl auch als der erste deutsche Dichter bezeichnet werden, der das großstädtische Leben eindrucksvoll gestaltete. Mit Bedacht nutzte er die örtlichen Eigentümlichkeiten der Städte, in denen sich die Geschehnisse seiner Erzählungen zutragen, um seiner Darstellung Lebendigkeit und lokales Kolorit zu geben.

Die Stadt und die städtischen Menschen erscheinen bei Hoffmann in gespenstischer Verzerrung. Angesehene Bürger sind in Wahrheit unheimliche Wesen, die eigentlich schon seit Jahrhunderten unter der Erde liegen müssten. Ein armseliger Bierkeller wird zum Treffpunkt von Spukgestalten. Harmlose Besucher einer Silvestergesellschaft erhalten nahezu teuflische Züge. Das Knarren der Turmfahne gleicht dem ewig furchtbaren Räderwerk der Zeit, und inmitten dieser gespenstischen Umwelt taumelt geängstigt der Mensch.

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1814 war Hoffmann reumütig nach Berlin in den Justizdienst zurückgekehrt. 1808 bis 1813 hatte er als freier Künstler, Kapellmeister, Bühnenbildner, Theaterkomponist und Musiklehrer in Bamberg gelebt. Diese „Lehr- und Marterjahre“ beendete er als gescheiterte Existenz. Aber nach Berlin hatte er nicht nur das Märchen „Der goldene Topf“, sondern auch die Oper „Undine“ – sie gilt als erste romantische Oper – mitgebracht. Bei dem 1796 berufenen Intendanten des Nationaltheaters August Wilhelm Iffland fand er kein Gehör. Erst dessen Nachfolger, Carl Reichsgraf von Brühl, fand Gefallen an Hoffmanns Oper „Undine“.

Die Bühnenbilder von Schinkel haben wesentlich zu dem Erfolg der Uraufführung 1816 beigetragen. Doch das Theatergebäude brannte ein Jahr später ab und Schinkel schuf einen neuen repräsentativen Bau, dessen Wachsen Hoffmann von seinem Fenster aus miterleben konnte. Doch zu der von ihm erhofften Wiederaufführung der Oper „Undine“ kam es nicht mehr, 1821 wurde Carl Maria von Webers „Freischütz“ uraufgeführt und Hoffmann befand sich – wohl mit gemischten Gefühlen – unter den Premierengästen.

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Der Dichterjurist Hoffmann war – ohne sein Zutun – 1819 Mitglied einer Kommission geworden, die auf Veranlassung des Staatskanzler Metternich gegen politische „Aufwiegler“, so genannte „De-magogen“, vorgehen sollte. Mit viel Zivilcourage setzte sich Hoffmann für die Betroffenen ein, u.a. für den „Turnvater“ Friedrich Ludwig Jahn, weswegen ein Disziplinarverfahren gegen ihn eingeleitet wurde. Aber er wurde selbst Opfer der preußischen Zensur, die sein Märchen „Meister Floh“ (1822), in dem er eine Satire auf die Demagogenverfolgung eingebracht hatte, nur in einer verharmlosten Fassung zum Druck freigab. In dieser Lage, seine Existenz von zwei Seiten bedroht sehend, sollte Hoffmann dann krank und vereinsamt sterben.

Dieses Märchen zwischen Zensur und Staatsaffäre muss ebenso genannt werden wie auch „Klein Zaches“ (1818), in dem Hoffmann mit dem Spott der Romantiker einen engstirnigen, alles „Unbegreifliche“ verbannenden Rationalismus karikiert, dessen Repressalien die erlauchten Vermittler des Wunderbaren – Zauberer und Fee – ins tarnende Inkognito zwangen: Der Magus Prosper wurde ein nützlicher Doktor der Medizin und die Fee Rosabelverde zog sich als Fräulein von Rosenschön ins Damenstift zurück.

Noch wichtiger aber war Hoffmann hier die Satire auf den Behörden- und Beamtenapparat. Klein Zaches, einer misswüchsigen Groteskfigur, hatte die Fee Rosabelverde einst die Gabe verliehen, dass alles Gute, was in seiner Gegenwart getan, gesagt und gedacht wird, ihm zugeschrieben werde. So gilt er als der Vortrefflichste unter seinen Mitmenschen – und so wird nun aus dem armseligen Geschöpf Klein Zaches der allmächtige Minister Zinnober, der Karrieremacher und selbstgefällige Günstling, dem alle in unkon-trollierter Massensuggestion erliegen, auch und nicht zuletzt die „Aufgeklärten“.

Erst der Doktor Alpanus vermag es, den dämonischen Zauber zu brechen – und damit wird der Weg frei für die diesseitsfreudige Candida und den empfindsam-träumerischen Balthasar, ein ungleiches Paar, das aber in der Enge eines kleinbürgerlichen Familienidylls ihr Glück findet. Während der Student Anselmus und seine Serpentina in „Der goldene Topf“ in ein ätherisches Atlantis entfliehen, ist dagegen ein Scheitern der Herzensallianz von Candida und Balthasar an den Widersprüchen des Alltäglichen kaum auszuschließen.

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Der Fensterblick auf den Gendarmenmarkt wurde Grundlage für eine der letzten Erzählungen Hoffmanns, „Des Vetters Eckfenster“ (1821). Der schon gelähmte Dichter blickt aus dem Fenster seines Eckhauses auf den Gendarmenmarkt und das Gewimmel der Menschen. Aus dem unerschöpflichen Erfahrungsschatz eines reichen Daseins deutet er das auf den ersten Blick unentwirrbare Durcheinander der ihren Geschäften nachgehenden Menschen. Hinter jedem von ihnen verbirgt sich ein Schicksal, lehrt er seinen jungen Anverwandten.

An dem vielleicht letzten Vormittag, den er seinem Vetter schenkt, beweist der todkranke Dichter nicht nur die Kraft dichterischen Schauens, sondern gibt ein Beispiel zutiefst menschlicher Gesinnung.

Am 25. Juni jährt sich zum 200. Mal der Todestag des „Gespenster“-Hoffmann.