Das tatarische Hochzeitszimmer

Eine Geschichte um Traditionen und Brauchtum in der Dobrudscha

Neriman Ibrahim erzählt Fotos: George Dumitriu

Tracht der Braut

Plafond oder Baldachin aus Taschentüchern

Filigrane Arbeit eines Frauenlebens – für eine einzige Nacht

Tatarisches Hochzeitszimmer

Wandbehang

Wandbehang

Wandbehang

Zierkissen

Typisch tatarisch: florale und geometrische Ornamente

Am Sitz der demokratischen Union der Tataren in Konstanza kann man sich als tatarischer Reiter fotografieren lassen: einfach von hinten den Kopf durch das Loch im Bildnis stecken, wie es hier der Fotograf George Dumitriu tat. Foto: Nina May

Ihre flinken Hände fliegen durch die hauchzarten Gewebe. Feiza erinnert sich an jedes einzelne Stück: Das blaue Taschentuch, mit rosa Nelken bestickt. Den seidenen Schleier. Das Kissen aus Spitze, auf dem nie ein Kopf ruhte. Wieviele Stunden ihres Lebens hatte sie damit verbracht, diese Dinge für ihre jüngste Tochter Neslihan zu sammeln? Jede Woche, jeden Monat, jedes Halbjahr, je nachdem wie kompliziert die Handarbeit war, wanderte eine neue Kostbarkeit in die Truhe. Und in weitere drei  für die anderen Töchter. 15 Seidenraupenkokons ergeben einen Faden, denkt  Feiza. Wieviele Fäden braucht man für ein einfaches Taschentuch? Wie viele Taschentücher für einen Baldachin? Wieviele Maulbeerblätter sind darin aufgegangen - oder sind es ganze Bäume? Morgen werden die Schwestern von Neslihan das Hochzeitszimmer schmücken. Im Haus von Aidun, dem Bräutigam. Weit weg, in einem fremden Dorf.

Neriman Ibrahim erzählt mit Inbrunst. Umgeben von Kameras und Aufzeichnungsgeräten sitzt sie im improvisierten „Hochzeitszimmer“ im zentralen Sitz der Demokratischen Union der muslimischen Tataren in Konstanza/Constanța. Hinter den Geräten: die Teilnehmer der sechsten vom Departement für Interethnische Beziehungen an der Rumänischen Regierung (DRI) organisierten Journalistenreise in die südliche Dobrudascha, auf der Suche nach dem touristischen Potenzial der nationalen Minderheiten. Die modernen Termopane-Fenster, die Klimaanlage, die blonde Schaufensterpuppe, sie mögen nicht so recht zu den filigranen Handarbeiten im orientalischen Stil passen, die Wände, Betten, ja sogar den Plafond zieren. Und doch schafft sie es, vor unseren Augen ein lebendiges Bild von einem alten tatarischen Brauch entstehen zu lassen: das Hochzeitszimmer.

Die Worte, die so lebhaft aus Neriman Ibrahims Mund purzeln, verflechten sich mit meinen Gedanken. Ein Phantasiegewebe aus authentischem Brauchtum und inneren Bildern entsteht. Löst sich los, erhebt sich in die Lüfte, fliegt davon in seine eigene Welt. Die Hauptheldin darin, Neslihan, trägt ein nachtblaues, mit Silberfäden besticktes Samtkleid und eine ebensolche Kappe auf dem – natürlich schwarzen - Zopf. Ähnelt sie nicht der glutäugigen Schaufensterpuppe neben der Tür? Natürlich muss es auch eine Brautmutter geben: Feiza. Gleicht sie nicht ein wenig Neriman Ibrahim?

Zierrat ohne praktischen Zweck

Wie die Geschichte wohl weiter geht? Feiza wird zum tausendsten Mal die seidenen Taschentücher zählen, die sie und ihre Tochter an langen Abenden zusammen gewebt und dann bestickt haben. Werden sie wirklich reichen, um den Plafond zu bedecken? Oder nur für einen kleinen Baldachin über dem Hochzeitsbett? Nur arme Leute müssen sich auf einen Baldachin beschränken. Sie seufzt. Bald werden die nackten Füße, der fliegende schwarze Zopf, die neugierigen dunklen Augen und die vertrauten kleinen Hände, die 14 Jahre lang Tag für Tag ihr Leben ausmachten, nur noch Erinnerung sein. Eine andere Neslihan wird in ihr Leben treten, und dies nur von Zeit zu Zeit. Eine schmerzvolle, brüske Transformation – für beide. Ist dies der Grund, warum der erste weibliche Besuch bei der frischgebackenen Ehefrau niemals die Mutter sein darf?
Erst einen Monat nach der Hochzeit wird das junge Paar den Brauteltern eine offizielle Visite abstatten. Dann gibt es ein großes Festmahl mit Verwandten und Nachbarn. Und Feiza wird versuchen, jede Regung im Gesicht ihrer so fremd gewordenen Jüngsten zu deuten. Stimmt es, was die große Schwester berichtet hatte? Oder hatte Aliye mitleidsvoll geschönt, vielleicht sogar ein wenig geflunkert? Geht es Neslihan wirklich gut im neuen Heim? Versteht sich das junge Paar? Hat sie kein Heimweh? Das Milchgeld, das Feiza vom Bräutigam erhielt – eine Art Entschädigung an die Brautmutter für das Stillen seiner späteren Ehefrau – ist ihr ein schwacher Trost. Aber doch ein Trost, es bedeutet immerhin, dass Aidun sich das leisten konnte. Das Sticken der vielen Taschentücher hatte sich gelohnt. Nun konnten sie wieder zurückwandern in die Aussteuertruhe, zusammen mit all den anderen Gegenständen, die niemals für den Gebrauch gedacht waren. Sondern als Beweis für die Kunstfertigkeit der Braut und den Wohlstand ihrer Sippe.
Wenn das erste Mädchen geboren ist, dann wird auch Neslihan beginnen, jede Woche, jeden Monat, jedes halbe Jahr die ein oder andere Kostbarkeit in diese Truhe zu legen.

Tausendundein Taschentuch

Eine Woche vor dem großen Ereignis: Aliye, Imra und Fatma bereiten sich fieberhaft darauf vor, das Hochzeitszimmer für Neslihan einzurichten. Immer wieder studieren die älteren Schwestern den kostbaren Inhalt der Truhe: wollene Decken, Bettzeug aus weißer Atlasseide, bestickte Kissen, ein schwarzer Wandteppich mit roten Rosen, ein ebensolcher für den Boden, gewebte, bestickte und umhäkelte Handtücher, Schleier aus hauchdünner Seide. Leuchtende Farben wechseln mit Pastell; Wolle mit Leinen, Flachs, Baumwolle oder Seide, alles mit Pflanzensäften gefärbt. Das beliebteste Motiv sind Nelken, florale und geometrische Motive,  niemals Tiere. Aliye frohlockt: „Tausendundein Taschentuch – kein armseliger Baldachin!“  

Dann ist es endlich so weit: Die Braut macht sich mit ihrem Gefolge an weiblichen Verwandten auf den Weg. Querfeldein geht es durch die Steppenlandschaft der Dobrudscha, bis am Horizont über dem semmelblonden Gras die Silhouette ihres künftigen Dorfes auftaucht. Vater Mamut steuert seinen Pferdewagen auf die staubige Landstraße. Neslihan hält gespannt den Atem an. Werden sie die ersten Häuser unbehelligt passieren? Da! Ein Seil spannt sich quer über den Weg...

Neriman Ibrahim schmunzelt vielsagend: „Wenn die Braut mit ihren Verwandten in das Dorf des Bräutigams einzieht, kann es passieren, dass ihnen die Junggesellen den Eintritt verwehren“, erläutert sie. „Vor allem, wenn das Mädchen dort einen Verehrer hatte, ist mit allerlei Schikanen zu rechnen. In manchen Fällen wurden die Wägen sogar über Nacht festgehalten.“  Nach Verhandlungen bezahlt die Familie der Braut dann eine Art Steuer für das Betreten des fremden Dorfs.

Tanz mit dem Tokas

Die Hochzeit beginnt an einem Donnerstag. Vor der traditionellen Vorführung der Pferde kochen die Frauen gemeinsam, mahlen Kaffee, malen sich die Hochzeit in den schillerndsten Farben aus. Die Braut hat keine Zeit, aufgeregt zu sein. Sie lässt sich von den ausgelassenen Schwestern und Cousinen anstecken.

Inzwischen hat auch Aidun sein Geschenk von Neslihan erhalten. Stolz wirft er sich den prächtigen Tokas über die Schultern, bindet ihn mit den Ärmeln fest. Neun Objekte sind auf dem übergroßen Leinenhemd angenäht, die der Brauch genau vorschreibt: darunter eine weite Hose, ein Gürtel, mit Gold- oder Silberfäden bestickt, ein spitzenbesetztes Taschentuch, eine Börse für Tabak und ein Säckel für Geld, eine Kappe, zylindrisch, aus schwarzem Fell, charakteristisch für die Krim-Tataren, und ein Schleier - alles von der Braut gefertigt. Übermütig beginnt er zu tanzen. Die anderen Junggesellen tun es ihm gleich, jeder darf den Tokas einmal auf den Schultern tragen. Mal fliegt er hierhin, mal dorthin! Und alle freuen sich auf den Moment, wenn das begehrte Objekt nach der Hochzeit verkauft, der Erlös unter den Junggesellen aufgeteilt und für eine neue Feier verwendet wird. „Der Brauch des Tokas war eine Weile in Vergessenheit geraten – bis er in letzter Zeit wieder sehr beliebt wurde“, erzählt Neriman Ibrahim.

Was aber hat der Schleier unter all den männlichen Gegenständen dort zu suchen? „Den trägt der frischgebackene Ehemann am Tag nach der Hochzeit um die Schultern, wenn er zum Mittagsgebet zur Moschee geht“, klärt die Tatarin auf.

Die geraubte Braut

Man kann sich nicht sattsehen an den Kostbarkeiten in dem improvisierten Hochzeitszimmer. Und sich dem Gedanken nicht entziehen: Eine Tochter zu verheiraten muss ein Vermögen kosten! Doch auch der Bräutigam hat zum neuen Heim eine Menge beizusteuern, erklärt Neriman Ibrahim. Nicht nur das Haus,auch eine genau festgelegte Mindestausstattung an Bettzeug, die im Gegensatz zu den Dingen in der Aussteuertruhe tatsächlich zum Einsatz kommt: eine Matratze, eine Bettdecke, mehrere Kissen und Überzüge. Für die Hochzeit muss er das Brautkleid, den Schleier und einen Hammel bezahlen. Hinzu kommt das Milchgeld an die Schwiegermutter, dessen Höhe vom Einkommen abhängt. „Einige zahlen auch nichts“, fügt Neriman Ibrahim an. „Und wem das Ganze zu teuer schien, der entführte die Braut kurzerhand, dann kam er billiger davon“, überrascht sie. In den 1950- und 60er Jahren sei dies recht üblich gewesen, manchmal sogar ohne das Einverständnis der Braut. Ihre eigene Mutter sei auf diese Weise geraubt worden.
 
Feiza studiert das Gesicht ihrer Tochter. Ist sie glücklich? Wenigstens zufrieden? Manchmal geht das Glück seltsame Wege, erinnert sie sich zurück. Sie war 15 und längst versprochen, als sie mit anderen Mädchen am Dorfbrunnen stand. Ein fremder junger Mann ritt heran. „Gibst du mir eine Kelle Wasser, ich bin durstig“, spricht er sie an. Feiza reckt den Kopf stolz in die Höhe: „Willst du nicht absteigen und mir Wasser schöpfen?“ Verdutzt folgt ihr der Junge. Rasselnd sinkt der Eimer in die Tiefe. Mit kräftigen Armen zieht Mamut ihn hoch, drückt ihn Feiza in die Arme, steigt wieder auf. Ihre Blicke treffen sich. Da packt er sie kurz entschlossen um die Mitte, reißt sie hoch und galoppiert in wildem Ritt davon. „Wenn wir aus dem Dorf sind, gebt Signal zur Hochzeit!“ ruft er übermütig.

Nachtrag: Wenn Feiza und Mamut, Neslihan und Aidun nicht gestorben sind, dann leben sie weiter im Reich der Phantasie, glücklich und zufrieden, und erinnern sich jederzeit gerne an das tatarische Hochzeitszimmer zurück. Wie auch wir an Neriman Ibrahim, die sich die Mühe machte, uns dieses Brauchtum so lebhaft und detailgetreu zu vermitteln. Gerechterweise sei jedoch erwähnt, dass die letzte Szene der Geschichte nicht von ihr stammt. Sie kursiert in der Familie meines rumänischen Ehemannes, der Stein auf Bein schwört, dass sich genau so der Raub seiner tatarischen Urgroßmutter zugetragen hat...