Deportationen und „Kollateralschäden“

Die Bărăgan-Aktion und eine Ausreise aus dem Banat vor 70 Jahren / Beginn der legalen Familienzusammenführungen

Gruppenbild mit sechs Kindern in der Zigeunergasse, alle bei Großeltern, Verwandten oder Fremden untergebracht, darunter Seppi Jauch, als Zweiter von links, damals 6 Jahre alt, und die drei Schmidt-Geschwister Franz (ganz links), Katharina und Sepp (ganz rechts).

Rückkehr-Genehmigung für Anna Jauch, geborene Pfleger, nach Rumänien, erteilt von der Repatriierungsmission in Deutschland im Jahr 1947.

Erinnerungsfoto an Käthes Erstkommunion, im Heimatdorf Jahrmarkt am 30. Mai 1946.

Zur Zeit der Deportationen aus dem Banater und Mehedinzer Grenzgebiet zum damaligen Tito-Jugoslawien in die rumänische Bărăgan-Steppe im Frühsommer 1951 (an den orthodoxen Rusalii) war Käthe 14 Jahre alt. Sie lebte seit der „Russlanddeportation“ ihrer Mutter im Januar 1945 „angenommen“, aber gut aufgenommen bei der ehemals wohlhabenden Wendling-Familie in der Jahrmarkter (rum. Giarmata) Hauptgasse, wo sie in der Wirtschaft und im Haushalt fleißig mitarbeitete. Der sechs Jahre jüngere Bruder hatte bei einer kinderlosen Verwandten-Familie (Rosar-Urgroßmutter) in der Zigeunergasse ein geborgenes Zuhause gefunden.

Der Vater war zu Kriegsende in englische Gefangenschaft geraten und lebte (polizeilich gemeldet) im norddeutschen Oedelum in der damaligen englischen Besatzungszone. Die Mutter war aus der Deportation in die sowjetisch besetzte Ostzone entlassen worden und suchte von der Ziehten-Kaserne in Torgau (Auffanglager in Nordsachsen) aus ihren Ehemann. Wann genau die beiden sich über die damaligen Suchdienste gefunden haben, ist heute schwer nachvollziehbar. Desgleichen wissen wir nicht, ob der Bruder bzw. Schwager Josef Pfleger dabei eine Rolle spielte und wie dieser ehemalige Angehörige der Prinz-Eugen-Division vom Balkan in die englische Besatzungszone gelangt war.
Über wahrscheinliche Spannungen in der Ehe wegen Bleiben oder Heimkehren ist nichts gesichert. Jedenfalls ist belegt, dass die Mutter zu den Kindern wollte und dafür im Sommer 1947 von Immendorf aus das Repatriierungs-Zertifikat (siehe Reproduktion) bei der Repatriierungsmission des Königreichs Rumänien erworben hatte. Was zu der endgültigen Entscheidung geführt hatte, in Westdeutschland zu bleiben, ist den Kindern bis heute nicht bekannt. Vermutet wird, dass es der Briefwechsel mit Angehörigen in Jahrmarkt war.

Ab 1948 lag somit für die Kinder und die betreuenden Familien in Jahrmarkt die Frage im Raum, auswandern oder nicht. Käthe war entschieden dagegen und wurde von den „Pflege-Großeltern“ nicht dazu gedrängt. Der kleinere Bruder, inzwischen schon Schulkind, hatte noch kein „Mitspracherecht“ diesbezüglich.

Unvorstellbares für Banater

Dann geschah im Banat 1951 etwas Unvorstellbares, so kurz nach der unheilvollen Deportation in die Sowjetunion, die für viele erst 1949 bzw. 1950 ein Ende gefunden hatte: Die Verschleppung von tausenden Familien – nicht nur Deutsche – in die unwirtliche B²r²gan-Steppe durch die rumänische, die eigene Landesregierung. Obwohl Jahrmarkt außerhalb der festgelegten 25-km-Grenzzone lag und nur zwei Familien mitgenommen wurden (Arzt- und Anwaltsfamilien, in der Grenzzone gebürtig), war die Gemeinschaft so verunsichert und verängstigt, dass die sogenannte „Wendling-Oma“ nicht mehr die Verantwortung für die Kinder und ihre Zukunft übernehmen wollte – zumal der damalige Gemeindebürgermeister eine große Feier angekündigt hatte, wenn die Jahrmarkter Deutschen auch verschleppt würden. Bevor so etwas in Rumänien noch mal geschehen würde, wollte das Ehepaar Wendling – sie waren inzwischen längst als „chiaburen“ (Ausbeuter) enteignet worden – die Geschwister in sichere Obhut nach Deutschland bringen. Anscheinend hatte in diesem Sinne auch der Vater ein Machtwort geschrieben, denn die Kinder kamen zu anderen Familien, Käthe zur Tante mütterlicherseits in die Kleegärten (Gasse) und Seppi zum Jauch-Onkel in die Altgasse. Käthe begann ab dann in der Gärtnerei der Jahrmarkter Staatswirtschaft ihr erstes Geld zu verdienen. Dort war ihr dank einer Gulaschkanone das sogenannte Mittagessen und in der Kantine das Abendessen gesichert.
Über das Rote Kreuz in Wien und Bukarest wurden die Anträge gestellt, Volksschullehrer Franz Hartmann half bei der Erledigung der Formalitäten. Es dauerte – Monate vergingen. Im Spätherbst kam die Ausreisegenehmigung in Verbindung mit der Zusammenstellung eines Kindertransports (Sonderwaggon) aus dem Banat. In vier Wochen mussten die Geschwister das Land verlassen.

Alle Kinder in dem Rot-Kreuz-Sonderwaggon bekamen in Temeswar Namensschilder aus Karton um den Hals gehängt, betreut wurden sie unterwegs von einer Frau, die auch eine Ausreisegenehmigung hatte. Für Jahrmarkt standen die Geschwister mit am Anfang der offiziellen Familienzusammenführungen, die dann letztendlich zum Exodus führten. Käthe ist sich nicht mehr ganz sicher, an welchem Grenzbahnhof sie aussteigen mussten, vermutlich Großwardein/Oradea. Bis dorthin durfte eine Jauch-Tante sie begleiten. Ein Bild, das sie von dort aber noch immer vor sich sieht: Auf dem Bahnsteig wurde eine größere Gruppe jüdischer Ausreisender bis auf Hemd und Hose gefilzt, alles aus den Koffern war auf dem Peron ausgelegt, „sehr schöne Sachen“, viel Silberbesteck und Schmuck. Sie wurden vor dem Verlassen des Landes ausgeplündert.

Nach einer längeren Reise wurde die Kinder-Gruppe in Ölsnitz (damalige Ostzone) eine Woche lang in einer Schule in Quarantäne gehalten. Dort im Turnsaal wurden den Kindern neue Propagandafilme gezeigt, erinnert sich Käthe. Danach gelangten sie über das Grenzdurchgangslager Göttingen in den Westen und wurden verteilt. Von der Reise blieb Käthe eine Begegnung mit einem etwa gleichaltrigen Mädchen aus einem Dorf aus der Banater Heide unvergessen. Dieses schenkte ihr ihren Mädchenring zur Erinnerung, die Jugendlichen haben sich nie wieder gesehen. Der Ring wurde bis heute aufbewahrt.

Angekommen?

Die Geschwister Jauch wurden dem Flüchtlingsdurchgangslager Friedland/Leine zugeteilt. Laut erhaltener Zuweisung Nr. 6154 waren sie dort am 16. November 1951 als „A-Fall“ aufgenommen worden, also zu nächsten Angehörigen, Zuzug zu den Eltern. (Die Genehmigung war von der Stadt Einbeck 1950 erteilt worden). Nach der Erledigung der Formalitäten konnten die Geschwister von der Mutter abgeholt werden. Käthe erhielt als nun fast 15-Jährige den Flüchtlings-Meldeschein Nr. 174963. Mit dem erhaltenen Verpflegungs-Taschengeld kaufte sie einen kleinen Koffer, denn in dem riesigen Gepäcklager Friedland waren die mitgebrachten Habseligkeiten, darunter das so „wichtige Bettsach“ (Daunenpolster) und persönlichen Dinge der Kinder „verloren gegangen“. Bei einem Kiosk kauften sie noch eine Konserve, weil sie das Essen im Lager nicht vertrugen. Erst nach dem Kauf merkten sie, dass es eine Fischkonserve war, wieder nichts für ihren „Geschmack“. Gut in Erinnerung ist Käthe das Drängen des Bruders vor einem anderen Kiosk, ihm ein „Bläs’che“ (kleine Mundharmonika) zu kaufen, was dann für Abwechslung im Lager sorgte. Denn die Bilder, die alle Lager-Kinder erleben mussten, waren grausam: Wenn die blechernen Glocken im Türmchen vor dem Lager erklangen – ähnlich wie daheim die „Todeglocke beim Ausleide“ – kamen neue Flüchtlingstransporte an: „schauderhaft“ anzusehen, Männer ohne einen Arm, ohne Beine, mit verbundenen Köpfen… Im Kinderkopf eingebrannte, unauslöschliche Bilder. Die kargen Nachkriegsbedingungen der drei Tage und Nächte im Barackenlager Friedland und das Elend der Heimkehrer hatten sich tief eingeprägt.

Auf der Rückseite von Käthes Meldeschein ist vermerkt: Am 19. November „nach Einbeck abgefertigt“. Ob die Mutter die Kinder erkannt bzw. ob die Geschwister sie nach sechs Jahren gleich erkannt haben, ist offen…
Angekommen waren die Geschwister vor nun 70 Jahren. Aber richtig daheim, wie vorher als Kinder in der Jahrmarkter „Freiheit“, waren sie in Einbeck nicht.