„...denn das Lachen weist auf die Gegenwart der Engel hin“

Lieblingspassagen aus Eginald Schlattners Roman „Schattenspiele toter Mädchen“

Die evangelische Kirche in Rothberg

Rundgang durch gelebte Geschichte

Blick aus dem Pfarrhaus in Rothberg | Fotos: privat

Gabriela C. Sonnenberg | www.la-gamba.net

Statt einer Einleitung: Das Leben wirft einem manchmal seltsame Bälle zu. Einer ist dieser Artikel. Was mich mit der Autorin verbindet? Vordergründig: die Bekanntschaft mit und die Bewunderung für Eginald Schlattner. Im Hintergrund: eine seltsame, spiegelverkehrte Lebensgeschichte. Ich, aus Deutschland nach Rumänien eingewandert, aber mein Elternhaus steht in Spanien. Sie: eine Rumänin, in Siebenbürgen geboren, dort deutsch aufgewachsen, ihrem bundesdeutschen Ehemann nach Spanien gefolgt. Wir beide: fast gleich alt, schreiben für ein deutsches Blatt, sie in Spanien; wir wurden vom selben rumänischen Schriftstellerverband prämiert. Gehäufte Zufälle sind für mich immer Anker zum Hingucken: Wie die Eselsohren, die man in die Lieblingsseiten von Lieblingsbüchern knickt, der Blattrand vollgekritzelt mit Gedanken. Ach ja, auch das haben wir gemeinsam: Wir lesen Bücher auf dieselbe, ebendiese Art! Vielleicht hat mich deshalb ihr Artikel, trotz Überlänge, gleich gefesselt. Versuch zu kürzen – (fast) vergeblich. Gabriela Calu]iu Sonnenbergs Lieblingspassagen aus Eginald Schlattners Roman „Schattenspiele toter Mädchen“ muss man unbedingt im Ganzen lesen… Nina May


In Eginald Schlattners Bücher muss man sich langsam hineinlesen. Erst nach vorsichtigem Herantasten kann man sich dem Fluss der Geschichte hingeben. Verwoben und gewunden schlängeln sich die Gedanken von Geschichte zu Geschichte und bilden zusammen ein Universum, welches in sich stimmig bleibt, jedoch sich nach allen Seiten hin öffnet. Eins steht fest: wenn er uns erst einmal für sich gewonnen hat, dann lässt uns der Autor nicht mehr los. Und man genießt seine Bücher immer wieder aufs Neue …

Bei seinem jüngst erschienenen Roman „Schattenspiele toter Mädchen“ habe ich mir ein Experiment erlaubt: Ich wollte die Seiten diesmal partout nicht „beschmutzen“. Bei den wunderbar gebundenen und einwandfrei gestalteten POP-Verlag-Werken fühlt man sich sowieso versucht, das gesamte Buch als Kunstwerk zu betrachten und es entsprechend zu respektieren. Die herrliche Jungfräulichkeit der Drucksache an sich zu bewahren, dürfte mir nicht so schwerfallen, dachte ich.

Und siehe da, es gelang mir ganz gut! Zumindest für eine Weile. Genauer gesagt, bis ich bei Seite 63 ankam. Dort fand ich eine Passage, der ich nicht widerstehen konnte. Schon kribbelte es in meinen Fingern … Ich musste zum Bleistift greifen! Ich unterstrich die besagte Stelle und machte dort ein klitzekleines Papierfetzchen fest. 

Ich mache es kurz: Bald ließ ich den Bleistift nicht mehr aus der Hand. Nun steht das von mir verschlungene Werk meines siebenbürgischen Lieblingsautors im entsprechenden Bücherregal, ordentlich an ihre „Schwestern in Leid“ angeschmiegt, natürlich zerzaust, mitgenommen und von meinem „lebendigen“ Lesestil deutlich gezeichnet. Ab und zu wandert meine Hand dorthin und sucht die Seiten mit den vorgemerkten Stellen, um mir grenz-überschreitende „Gespräche“ mit dem befreundeten Autor zu erlauben. 

Ich nenne hier ein paar meiner Lieblingspassagen, in der Absicht, geteilte Freude zu wecken. Zunächst die Passage von Seite 63, die mich alle meine guten Vorsätze vergessen ließ: „Diesem Goethe entgeht keiner, auf Schritt und Tritt, überall stellt er einem ein Bein (…). Und auch bei uns zu Hause: Goethe in der Küche! Die Großmutter sagte beim Mayonnaise-Anrühren den Erlkönig auf. Wa-rum? Das sei das rechte Maß. Verflixt!

Und dann, gleich zwei Seiten weiter, noch eine Liebeserklärung an die Literatur, Reaktion des jungen Eginald auf den Vorwurf seines jüngeren Bruders, der noch nicht lesen kann. Eginald sagt: „Ich bin einfach traurig.“ Der Bruder antwortet: „Traurig! Du hast wieder ein Buch gelesen? Da kann man nichts machen!“ Machen, nein!

Natürlich geht es in erster Linie in diesem Buch um die Liebe, die Zeit und den Tod überwindet. Dies wird in einem Gespräch mit einer einstigen Geliebten, die dem Autor als alte Frau erneut begegnet und ihn mit unbequemen Tatsachen konfrontiert, sichtbar (Seite 84) : Was wir sagten? Wie es sagen: Es ging um die Bilanz eines Daseins. „Du fragst nach dem Fazit meines Lebens?“ Das hätte ich bleiben lassen sollen. Doch ihr altes Gesicht hatte die Frage nachgeholt.

Und dann Seite 102: Gemeinsame Erlebnisse, die nie zur Sprache kommen – ist das so? -, sie werden vergessen, von beiden Seiten. Dagegen: Getrennte Erinnerungen, legte man sie zusammen, sie könnten das Bild der Freundschaft ausmachen (…)  Ich meine, dass es in jeder Geschichte einen Angelpunkt geben muss, wo sich erinnerte Wahrheit und wahre Geschichte in den Armen liegen. (Seite 150)

Und dann: Wie weh es tat! Was weh tut, ist wie gestern. (Seite 173)

Das bittere Fazit, die Wahrheit, die erst nach Auslöschen der brennenden Leidenschaft sichtbar wird: Eine große Liebe, dosiert für ein Leben– „mit dir will ich alt werden“ -, kann sich, übermäßig strapaziert im Anfang, mit einem Mal verausgaben. (Seite 208)

Für mich sind es drei Bereiche, die meine Gedanken nach dem Beenden der Lektüre nicht loslassen: Der Ort des Entstehens des Buches, idyllisch und zeitlos, der Pfarrhof von Rothberg/Ro{ia, den ich kenne und liebe. Die Heimatstadt des Autors, Fogarasch/Făgăraș und deren siebenbürgische Umgebung, phantastische Kulisse und Zeitzeuge einer Welt, die magische Begegnungen möglich macht. An dritter Stelle, die heikelste von allen, steht die Parallelwelt des Krieges, damals wie heute, aktueller denn je. Was für eine unglaubliche Ähnlichkeit zwischen der Grausamkeit, die sich Ende des Zweiten Weltkrieges über Europa ausbreitete und heute! 

Doch fangen wir bei dem Ort an, in dem sich die Schreibstube befindet. Mir kommt der Pfarrhof von Rothberg wie eine Insel der Ruhe, inmitten einer durchwühlten Gesellschaft vor: Massive Stille und kompakte Finsternis bedecken den alleinstehenden Pfarrhof. Wo allein ein Fenster erleuchtet ist, das Fenster der Schreibstube.

Die halbe Welt leidet unter den Nachbarn. Ich gehöre zur andren Hälfte, lautet ein knappes Urteil auf Seite 102.

Und weiter: Ich schreibe nocturn. Die massive Stille um den Pfarrhof lässt jede kleinste Erinnerung laut werden. (Seite 199)

Das warme Pfarrhaus wartet. Der hintere Teil, 1516, ist vorreformatorisch. Sieben Zimmer allein für mich. Die Küche riesig: sechs Türen. Zu Ostern und zu Weihnachten gilt es, zweihundertvierundsiebzig Fensterscheiben zu putzen. (Seite 312) Und so alt war das Gedächtnis der Küche im Pfarrhaus, dass man sich in dieser Küche an die Sensation der ersten Kartoffeln erinnerte wie die ersten Kukuruzstrünke nach der Entdeckung Amerikas. (Seite 275) Damals war es Sitte und Brauch, in der Pflicht des Burghüters, dass um Mitternacht die drei Glocken im Wehrturm sechzig Minuten lang geläutet wurden. Nach dieser Rosskur standen die Glöckner mit dreifach geschwollenem Kopf da und waren eine Woche lang stocktaub. (Seite 360)

Ich fixiere den Wehrturm (…) Mein innerer Blick wird eng wie eine der Schießscharten. Nichts bleibt als der schmale Spalt der Erinnerung. (Seite 313)

Fogarasch hingegen gestaltet sich als Gegenpol unseres ruhigen Pfarrhofes. Bewohnt von einem quirligen Durcheinander von Nationen, die zwar jede für sich lebt, jedoch ohne die anderen nicht überleben kann (und eigentlich auch nicht will, denn man verträgt sich gut), wirkten sie wie ein überdimensionales Kaleidoskop. Es gehörte zu den Selbstverständlichkeiten seit Jahrhunderten, als guter Ton, als Verhaltenskodex, dass sich unsereins mit fremdem Volk keineswegs zu tun machte, geschweige für immer und ewig, bis der Tod einen schied. (Seite 103) So kommt es trotzdem immer wieder vor, dass man sich über die Nationen quer hinweg verliebt. Selbst wenn man nicht einmal die Sprache des anderen beherrscht, kann man sich durchaus nicht nur gut verstehen, sondern sich sogar bedingungslos ineinander verlieben. Wunderschön!

Zurück zu Fogarasch. Gespickt mit Worten, die mir aus meinem eigenen Geburtsort, unweit von Fogarasch bekannt sind, beschreibt Eginald Schlattner die Heimat, in der man Mitte des letzten Jahrhunderts noch deutlich den Atem der geradezu aufgeweichten k. u. k. Monarchie spürt: All diese Theaterbauten paradierten mit ähnlichen Fassaden, Neubarock bis Jugendstil, waren innen betresst mit einer doppelt erhabenen Kaiserloge, vernetzten von Wien aus die ganze Monarchie, wogten darüber hinaus.

Darin irrt ziellos das bunte Volksgemisch, welches sich Ende des Zweiten Weltkrieges ums eigene Überleben Sorgen machen muss. Die Russen marschieren ein und die reichstreuen Siebenbürger-Sachsen wissen, dass sie nicht ungeschoren davonkommen. Am Anfang des Krieges hatten sie Partei ergriffen. Wie es sich herausstellte, war es die des Verlierers. Plötzlich wollten unsre Sachsen groß Deutsche sein, ja, Großdeutsche sein, bemerkt der Autor (Seite 73).

Im Gespräch mit der Mutter beschreibt der Hausarzt die Situation schonungslos: „Die Russen in Stadt und Land, in Haus und Hof, ja, in jeder… jeder… weiblichen Schlafkammer, dort wahllos, wie man hört… Das ist ein memento mori, gnädige Frau“ (Seite 72).

Die Lage ist ernst, weil niemand genau sagen konnte, wer nun neuerdings Fogarasch bombardieren würde: die Deutschen, die Amerikaner, die Russen. (Seite 75) Wo der Führer hier seine eigenen Leute beschoss, die führertreuen Sachsen, Sieg Heil! (…) dann würde unsereins geteert und gefedert, geviertelt und gerädert.

Ungeachtet aller Gefahren trifft sich die Mutter des Autors immer wieder mit ihrer Chorfreundin: Zwei befreundete Damen, eine Jüdin und eine Deutsche, auf einer Bank im Park: saßen frank und frei auf ein und derselben Parkbank. Vor dem Kommen der Russen. Und taten das auch nach dem Kommen der Russen. Wobei jeweils die andere Dame gegenwärtig sein musste, dass eine fremde Hand sie von der Bank wegholen und abführen könnte. (Seite 216)

Doch vorerst ist die Welt noch in Ordnung. Die Schlattner-Kinder unternehmen Rad- und Bootausflüge, schwimmen im nahegelegenen Fluss und genießen den Spätsommer, wohlwissend, dass er ihr letzter sein könnte.

Baden und Schwimmen und Tauchen und Kahnfahren waren von Kind auf mein Lebenselement. Auch hatte der Fluss eine religiöse Dimension mit seinen unglaublichen Schleifen und dem hinfälligen Fließen der Zeit und dem Reinigungsbad an Leib und Seele. (Seite 202)

Zwei halbstarke Burschen – der Autor und sein bester Freund – nehmen sich einen Tschinakel-Ausflug vor (Tschinakel,  Paddelboot in der Fogarascher Gegend). Dabei überschätzen sie ihre Kräfte gewaltig, denn der gewundene Lauf des Flusses erweist sich viel länger als gedacht und die Strömung aufwärts steuert gegen. Die trockene Bemerkung eines Onkels bringt es auf dem Punkt. Dieser ist einer meiner Lieblingssätze aus dem ganzen Buch, weil er geradezu vor Lokalkolorit strotzt: „Eine Kateridee“, hatte der Onkel befunden, Inhaber der Steinburgischen Apotheke in Schirkanyen, im weißen Kittel, eine Schlange mit dem Giftbecher im Knopfloch, unverheiratet und todernst. Ein Herr, der sonst kein Wort sprach. (Seite 175)

Wie dem auch sei, die Buben erreichen ihr fernes Ziel spät in der Nacht und werden dort notgedrungen beherbergt, in einem ehrwürdigen alten Sachsenhaus: Familienbesitz. In der Obhut des zweiten Bruders. Den ich zwei Mal zu Gesicht bekommen hatte, eine Erscheinung von antiker Düsternis. (…) Mit einem Blick erfasste die kundige Dame die vertrackte Situation, bestimmte ohne viel Federlesen: „Gewiss seid ihr hungrig, hungrig wie ein Igel!“ (Seite 177) Und weiter: Der Gang war zum Hof hin offen (…) Ein Vorzug des überdachten Gangs war, dass man unbeschadet von Wetter und Wind an seinem Ende das Klo erreichen konnte, ein WC, bitte, im Sinne von Windklo. (177)

Von dort aus betrachtet, erscheint die Welt einem als weit entfernt, als ob sie im Ägrisch sei“ (so in Fogarasch, wenn etwas abseits lag). Hochdeutsch sind das Stachelbeeren.

Der Fahrradausflug mit dem kleinen Bruder verläuft weniger holprig, findet aber auch kein klares Ende. Die Erfahrungen, die sich entlang des Weges zum Pflücken bereit anbieten, überdauern umso mehr die Jahrzehnte.

Dem Autor gehört ein Drei-Gang-Adler-Rad. Das die Russen mir klauten. Ich rechnete mit ihnen ab, indem ich auf kopfhohen Stelzen durch die Stadt stakte, höher als jeder rote Offizier. (Seite 95) Durch mein Bett, hatte ich berechnet, ging der 25. Längengrad. Dann kamen die Russen und alles war zu Ende. (Seite 97)

Verfrachtet in ein wahrhaftiges Rattenloch, von jeglichem Besitz „befreit“, Vater zur Zwangsarbeit rekrutiert und nach Russland deportiert, muss sich die Familie bald allein über Wasser halten. Sogar in der Schule gibt es politisch motivierte Auseinandersetzungen. Schon in der Volksschule führte Marianne Siegmund in den großen Pausen die Kinder an, die sich mit Fettbroten begnügen mussten, gegen jene mit Schinkensemmeln. (Seite 200)

Die Juden, die am Leben geblieben sind, werden rehabilitiert. Es gibt ein Konzert in der vom Krieg gezeichneten Synagoge: Auf der improvisierten Bühne vor dem Altar hatten die Musiker ihre Notenständer aufgebaut und die Instrumente um die plombierten Rattenlöcher im verbliebenen Parkett platziert. (Seite 374) Wie sehr dies an die Konzerte in den ukrainischen Kellern von heute erinnert! Und die rumänischen Gehöfte, die so weit auseinander liegen, dass die Bauer ihre Toten daheim begruben, beim Eingang, rechts vom Hoftor...

Im sozialistischen Rumänien macht sich bald die Armut breit: Man spart für das Zeitalter des vollendeten Sozialismus, auf den die Weltgeschichte hinauslief, unsereins mit. (Seite 323). Am gefährlichsten war das Oberhemd. Es bestand lediglich aus einem vorderen Teil, der Rücken blieb nackt. Wehe, wenn es heißen würde: „legt alle den Rock ab.“ (Seite 124) Später dazu: Seit Jahren gab es in den staatlichen Fleischläden nur noch Büffelhufe und Kuhschwänze. (Seite 262)

Nicht anders als im heutigen Russland wird die Freiheit während der totalen Diktatur eingeschränkt. Wo Briefe ins Ausland bei der Post mit Personalausweis registriert wurden und nur offen abgegeben werden durften. (Seite 207) Im sozialistischen Rumänien wurde samstags durchgearbeitet. Oft nötigte die Partei einen, den Sonntag anzuhängen. (Seite 315)

Bücher werden verboten. Man versteckt sie so gut wie man nur kann: Ich würde es im Frecker Haus verstecken, im vorderen Sarg der Adeletante. Uralt geworden, war sie in Schüben geschrumpft, so dass sie alle zehn Jahre einen neuen maßgeschneiderten Sarg bestellen musste. (Seite 246)  

Vorher hatte die Schwester Pasternaks Roman in die Dose mit dem Palukesmehl gepfercht. Das Buch hatte einen Knick. Beim Umblättern rieselten Maiskrümel heraus. (Seite 342)

Das freie Denken wird mit Gefängnisstrafen geahndet. Diese schreckliche Erfahrung bleibt dem Autor nicht erspart. Nach zwei Jahren ungeschuldeter Haft, ohne Licht, ohne Ausgang, findet er sogar diese Erfahrung insofern nützlich, als sie ihm ein besseres Verständnis für die armen Inhaftierten, die er im Rahmen seines späteren Berufs als Gefängnispfarrer betreut, beschert: Hinter Gitter sind Jahre das Grundmaß der Zeit. Ein Jahr wie ein Tag. Aber: jeder Tag wie ein Jahr. (Seite 385) Und regelmäßig, später, ab und zu: Nichts wollen wollte ich. Nicht einmal nichts wollte ich. (Seite 291)

Manche fliehen, wie die jüdische Jugendliebe, die nach Israel geht. Doch Sie übersah, dass schon die Auswanderung der Nahen und Nächsten für die Gebliebenen so radikal war – allein der Eiserne Vorhang -, als ob der Tod dazwischengetreten wäre (Seite 197). Und sie nennt Rumänien jetzt „Alte Heimat“. Für den Pfarrer und Schriftsteller ein Ding der Unmöglichkeit. „Alte Heimat? Wie das?“ Gibt es eine neue Heimat?, dachte ich. Heimat ist ein Substantiv ohne Mehrzahl (Seite 197).

Rumänien kämpft mit der eigenen Geschichte, es scheint, als ob sich manchmal das Land selbst im Weg steht. Hierzulande klappt nie etwas von Anfang an, doch am Ende fügt es sich immer. (Seite 318). Nicht jedem gelingt es, „seine sieben Zwetschgen zu packen“ und sich aus dem Land zu stehlen. Zum Beispiel die Jugendliebe, die sich später als Spitzel des Geheimdienstes selbst outet, wartet vergeblich auf den Ausreisepass, nachdem sie einen bundesdeutschen Bürger heiratet. Nicht wenige der enttäuschten, früher geliebten Mädchen, suchen Eginald Jahre später auf, um sich selbst zu erklären, um ein letztes Gespräch mit ihm zu führen. Er hört zu und manchmal hört er auch vorbei. Oder war in dem Zuwenig ein verstecktes Zuviel? (Seite 368)

Oft passiert ihm das, was in einem Gespräch mit der Ehefrau beschrieben wird: Wenn du redest, kommt niemand mehr zu Wort! (...) Und wenn ich schweige? Noch schlimmer! (Seite 339)

Die Suche nach einer neuen Identität in der Fremde gelingt wohl keinem Davongegangenen. Schlattner beschließt, im Land zu bleiben und öffnet die Türen seiner verlassenen evangelischen Kirche allen Gottesgläubigen, ohne auf ihre Konfessionen zu achten. Auf unserem Friedhof in Rothberg, der seit Jahrzehnten erstarrt ist in der konstanten Summe seiner Gräber, wir sind noch zwei hiesige zu begraben, steht auf manchem der Sandsteine der Name eines jungen Menschen mit dem Vermerk: „Begraben in fremder Erde“. (Seite 284) Ich denke für mich: wie heute in Russland …, so sinnlos das Ganze.

Letztendlich beschließt der Autor und zugleich Romanfigur Eginald über diese Erfahrungen zu schreiben, sie nicht erlöschen zu lassen. Doch er betont den Abstand, den er unbedingt bewahrt haben möchte: Selbst wenn mein unverwechselbarer Vorname im Text genannt wird, ist das keineswegs zu verwechseln mit dokumentarischer Memorialistik. Sondern der Text hat gewichtet und gewertet zu werden allein als literarisches Produkt. Was es sein sollte, darum mühe ich mich. (Seite 116)

Weil er trotzdem, für den Geschmack einiger Gegner, zu viel der Wahrheit preisgibt, wird ihm oft bis heute noch per Brief gedroht. Aber immer in höflicher Form: Wieder ein Drohbrief, dem Schriftsteller nachgeschleudert? „Sie werden wir töten wie einen räudigen Hund!“ Jedoch; Sie, per Sie. (Seite 182)  

Der beste Rat bezüglich seiner Schriften erreicht ihn auch per Brief, verfasst von einem früheren Schulfreund, der inzwischen in Deutschland lebt: Wiewohl seine Frau Annegret ihn gewarnt habe, auch Ratschläge seien Schläge: „Mach Deine Schreiberei nicht zum öffentlichen Klo, wo jeder hineinkacken kann!“

(…) Ich nannte es Sentenz, durchaus Wahlspruch: deftig, doch zu beherzigen.
(Seite 148)

Was bleibt? Sich Zeit nehmen. Für geliebte Menschen, für vertraute Landschaften. Und Freude verspüren, denn das Lachen weist auf die Gegenwart der Engel hin. (Seite 387). Zeit haben für einen Menschen ist ein Ausdruck der Liebe. (Seite 172). Und an einer vertrauten Umgebung kann man sich festhalten, Wurzeln wachsen lassen, wie der Autor es zulässt, in der Gegend seines Geburtsortes: Rotiert nach der Windrose, bot sich vom Turmzimmer als Augenweide der Ausblick in die ermüdete Banater Heide, austauschbar das Bild, weil in jedem Fenster gleich. (Seite 93)

Überwuchert von der Natur, bleiben die Ruinen der verlassenen Herrenhäuser, in denen einst der junge Eginald seine Jugendlieben besuchte. Das Ende der Zivilisation ist nicht die Revolution, sondern die Vegetation, heißt es auf Seite 355, wo der Roman sich seinem Ende neigt. Keine Erinnerung belebt die verwahrloste Stille. Hier ist die Endgültigkeit voll im Gange. (Seite 392)

Auch ich beende meine Notizen und bin die Erste, die sich freut, sie noch einmal als Ganzes, in einem Stück nachzulesen. Doch vorher muss ich das Dokument speichern. „Ja“, „Nein“ und „Hilfe“ – sind die drei Alternativen, die mir der Computer vorgibt. Heimlich freue ich mich, dass es nicht, wie so oft im Leben, nur zwei sind (schwarz oder weiß, gut oder schlecht, schön oder hässlich).

„Hilfe“ klingt nach Hoffnung. Ich mag diese Wahl. Sie passt zur komplexen Persönlichkeit des Eginald Schlattner, als Pfarrer und Schriftsteller zugleich, uns zu Beistand und Hilfe bestimmt, der Mitteilung wortwörtlich verschrieben.

P.S.: Kommentar des Autors, Eginald Schlattner, zum Text: „Großartig. Mit viel Empathie verfasst.“ Bitte: Mit Liebe zum Text und Autor.