„ ... denn was gab es hier schon?“

Der Roman „Drei Kilometer“ von Nadine Schneider

In den letzten Jahren sind einige junge Autoren und Autorinnen in Erscheinung getreten, die der zweiten Generation von Einwanderern in Deutschland angehören und diese familiären Erfahrungen zu ziemlich großartiger Literatur verarbeiten – man denke beispielsweise an Saša Stanišic, dem für „Herkunft“ kürzlich der Deutsche Buchpreis verliehen wurde.

Dies trifft auch auf die Nachkommen derjenigen Deutschen aus Rumänien zu, die das Land in den 1980ern/90ern verlassen hatten: Iris Wolff und Thomas Perle beispielsweise, in deren Werken Heimatverlust und -gewinn eine wichtige Rolle spielen, wurden in der ADZ bereits vorgestellt. Dieses Jahr hat nun mit Nadine Schneider eine Autorin mit ähnlichem biografischen Hintergrund und thematischen Fokus ihren Debütroman „Drei Kilometer“ vorgelegt. Es scheint fast ein bisschen, als würde darin der Moment geschildert, der einigen Texten von Perle und Wolff vorausgeht: Die Zeit, in der die Auswanderung zur Möglichkeit und fast Notwendigkeit wird, aber die Entscheidung noch nicht gefallen ist.

Die Geschichte erzählt ein knappes halbes Jahr aus dem Leben der Protagonistin Anna, ihrer Jugendliebe Hans und dem gemeinsamen Freund Misch. Sie leben in einem kleinen Dorf nahe der Grenze im Banat, es ist Spätsommer, und sie wissen: Sobald der schützende Mais geerntet ist, ist die Möglichkeit zur Landesflucht nach Jugoslawien vertan.

Der Text bleibt vage bezüglich der genauen zeitlichen und räumlichen Verortung des Geschehens, aber anhand von Gesprächsthemen der Figuren oder Details aus dem Alltag, wie Bezeichnungen von Gegenständen und Speisen, wird die Geschichte historisch und kulturell eingebettet, ohne dass das Lokalkolorit aufdringlich würde. Mit der Darstellung dieser multikulturellen dörflichen Welt und der Geborgenheit, die Anna darin verspürt, stellt der Text auch eine Art Korrektiv zum im Westen geläufigen Bild vom grauen Osten dar, in dem Flüchtlinge nichts von Bedeutung zurückgelassen hätten.

Dabei ist der Text weit entfernt von jeder Heimatliteratur-Idylle: Die brutalen Seiten des Dorflebens (es lassen einige Tiere im Laufe der Handlung ihr Leben) sowie die Auswirkungen von Mangelwirtschaft und politischer Repression sind ständig präsent. Dafür bedarf es keiner spektakulären Szenen; bedrückend ist eher, wie das Politische sich in alles Private drängt, jedes Gespräch, jede Handlung der Figuren davon überschattet scheint. Selbst die engsten Vertrauten könnten jederzeit ohne Abschied verschwinden oder gar als Spitzel für die Securitate arbeiten, freiwillig oder nicht. Vertrauen gibt es nirgends, und Beziehungen scheinen eher unausweichlich denn freudvoll – die Sprachlosigkeit der Eltern schleicht sich bereits in die Beziehung zwischen Anna und Hans ein, die ihrer Jugend zum Trotz wirken wie ein müdes altes Ehepaar. 
Bei aller Ruhe der Erzählform ist die so erwartungsvolle wie beängstigende Spannung ständig spürbar, die in allem steckt – in der Menage à trois der Hauptfiguren, in der Frage ob Gehen oder Bleiben, in der immer weniger versteckten Wut auf das Regime.

So deprimierend, wie das klingen mag, gestaltet sich die Lektüre aber nicht: Anna, Hans und Misch sind immer noch jung, manchmal übermütig und lebenslustig, kämpfen mit Liebeswirren und allgemeinen Problemen des Erwachsenwerdens. „Wenn man jung ist, ist alles immer so wichtig. (…) ich meine, dass das, was euch drei passiert ist, viel weniger wichtig ist, als ihr jetzt denkt. In zehn Jahren lacht ihr darüber“, sagt die Nachbarin Ioana zu Anna gegen Ende des Romans, und hat damit recht wie unrecht – denn das Pathos, mit dem die Protagonistin manche Ereignisse des Erwachsenwerdens betrachtet, ist ihrem Alter geschuldet; aber gleichzeitig geschieht dies im Kontext politischer Umbrüche, die tatsächlich das Leben von Millionen Menschen grundlegend veränderten.

Eine gewisse Ironie des Textes liegt darin, dass man als Leserin im Gegensatz zu den Figuren weiß, was bald geschehen wird, dass der Grenzübertritt bald ohne Lebensgefahr möglich sein wird, aber auch, wie hart das Leben für Immigranten in Deutschland oft war. So wird der aktuell vorherrschende Diskurs über die Gefahren von Einwanderung konterkariert durch diese Geschichte über die Gründe für Migration und die Hoffnungen, mit denen Migranten ihre Zukunft in die Hand nehmen.

Mit genauem Blick auf einen Augenblick der Weltgeschichte und ihrer unaufgeregten Erzählstimme gelingt der Autorin ein literarisches Zeitdokument, aber auch eine glaubhafte Geschichte über die Verflechtung persönlicher und politischer Umbrüche. Eine Lektüre, die durchaus zu empfehlen ist.