Der Ameisendoktor von Hodisu

Der Bauer Ioan Lazea befreit Kranke mit seinen Händen von Schmerzen

In diesem Haufen wuseln abertausende kleine Apothekerinnen, die den Ameisendoktor mit wertvoller Säure beliefern

Hinterm Hof beginnt das Paradies - Frau Lazea bei der täglichen Feldarbeit.

Der Dorfheiler vor seinem Haus, im Hintergrund wartende Patienten

 

Fast täglich erklimmen Fahrzeuge die steile Schotterstraße nach Hodi{u, einem malerischen Dorf in den Apuseni-Bergen, wenige Kilometer von Huedin entfernt, und halten vor dem roten Haus von Ioan Lazea. An manchen Tagen kommt der Bauer vor lauter Patienten kaum zum arbeiten. Seine Frau zieht mit Strohhut und Rechen bewappnet am Stall vorbei aufs Feld, während er sich um ein aus Baia Mare angereistes Paar kümmert. Fotograf George Dumitriu folgt ihr, um die idyllische Kulisse in den Kasten zu bannen. Durch die offene Stalltür grüßt ihn ein weißes Pferd mit sanftem Schnauben, davor wuseln Küken in einem Drahtverschlag im Gras. Hinter dem Anwesen erstrecken sich endlose Blumenwiesen bis zu dem von Bergen gesäumten Horizont. Rundum Bienengesumm, blauer Himmel, Wattewölkchen - ein Flecken Paradies auf Erden.

 

Von Kind an fühlte sich er sich berufen, Menschen und Tieren zu helfen, erzählt der Mann mit den derben Arbeitshänden, die in seltsamem Kontrast zu seinen sanften, wasserblauen Augen stehen. Mit kristallklarem Blick ergründet er forschend den Neuankömmling, den er gleich behandeln soll. "Gott hat uns eine Natur voller Heilmittel geschenkt", doziert Ioan Lazea, während er uns durchs hohe Gras zum Ameisenhaufen führt. "Hier! Schachtelhalm für die Prostata". Ein paar Schritte weiter bückt er sich und hält einen Samenstand hoch: "Wilder Kümmel, für Lungenleiden".

Ameisensäure gegen Muskelblockaden

Beim Ameisenhaufen angekommen, weist er uns an, ein Ästchen vom Apfelbaum zu pflücken, gut einzuspeicheln und in ein Loch zu stecken. Zuerst ist keine einzige Ameise zu sehen, doch bald wuseln die kleinen braunen Soldatinnen hervor und stürzen sich mit geballter Kraft auf den vermeintlichen Feind. "So, und nun ablecken" ordert er, nachdem wir die Ameisen abschütteln durften. Die Säure, die sie auf dem Stäbchen zurückließen, schmeckt nach Essig. Mit diesem Gift, das vielfältige therapeutische Wirkungen hat, verteidigen sie ihr Reich. Es ist so stark, dass Ioan Lazea den Haufen bald versetzen muss, damit der in einem Meter Entfernung stehende Apfelbaum nicht abstirbt. Im Winter sammelt sich das Gift in den Hinterleiben der Gliederfüßer so stark an, dass sie es beim ersten Frühlingsausflug gezielt im Freien ausstoßen. Das ist genau der Moment, auf den der Ameisendoktor wartet! Mit Honigwasser lockt er die Tierchen in ein Gefäß, wo sie gierig trinken und sich ihrer Säure entledigen. Dann wird die gesamte Flüssigkeit gefiltert, luftdicht verschlossen und zehn Tage der Fermentation überlassen. Das Ergebnis ist eine starke Lösung, die er mit dem entzündungshemmenden Wurzelsaft der Schmerwurz mischt und zur Deblockierung von Hexenschüssen verwendet. Mit Blick auf das geschwollene Knie unseres Mitreisenden rät er ihm, einen Haufen mit den winzigen roten Waldameisen zu suchen, deren Biß besonders schmerzhaft ist. Das Bein solle er gut mit Dieselöl einreiben, nur das Gelenk freilassen und sich in den Ameisenhaufen knien. Nach drei Tagen Wiederholung sei die Entzündung verschwunden. Mit Umschlägen aus Kleie und Salz kann man anschließend die Knorpelneubildung anregen.

"Die Wirbelsäule ist wie ein Reissverschluß"

Im Hof zurückgekommen, erzählt der Patient aus Baia Mare von seinem ersten Besuch vor einigen Jahren. Der Schultergelenkskopf war ihm aus der Pfanne gesprungen, der Arzt wollte den ganzen Arm wochenlang in Gips legen. Verzweifelt machte er sich auf den Weg nach Hodi{u. Der Bauer steckte ihm nur eine Flasche unter die Achsel, ruckelte ein wenig herum und – klack – sprang der Gelenkskopf zurück in die korrekte Position. Dann bat er ihn, mit einer Hand einen Gartenstuhl hochzuheben. Die Übung gelang schmerzfrei, als sei nie etwas gewesen. Einrenkungen und Deblockierung von Hexenschüssen sind Lazeas Spezialität. Unser Testpatient kann von letzterem ein langes Leidenslied singen. Er hat drei verwachsene Wirbel im Lendenbereich und wiederholte Lumbago, die ihn schon tage- oder wochenlang ans Bett fesselten. Der Heiler führt ihn in die Sommerküche und platziert ihn bäuchlings auf eine Massageliege, die ihm eine dankbare Patientin aus Frankreich gestiftet hat. Dann beginnt er, mit seinen dicken Bauernhänden die Wirbelsäule abzutasten. Klick – klick – klick macht es auf einmal deutlich hörbar, als die Finger an den Brustwirbelfortsätzen ankommen, es klingt, als würde er Nietenknöpfe zudrücken. Der Patient verzieht keine Miene. "Die Wirbelsäule ist wie ein Reissverschluss" erklärt Lazea und bohrt zwei Finger tief in die Schmerzpunkte am Gesäß. Der Patient stöhnt auf, doch Lazea beruhigt ihn: "Erst wenn es hier nicht mehr wehtut, musst du auf den Operationstisch." Dann greift er nach einem Hirschhorn und massiert ihm mit dem stumpfen Ende ausgiebig den Rücken. Nach einer anschließenden Klopftechnik streicht er mehrmals in 15 Zentimetern Abstand durch die Luft, als würde er ein imaginäres Energiefeld glätten. Der Patient sieht nicht, was hinter ihm geschieht, und doch spürt er die berührungsfreie Bewegung. Dann kommt das Ameisensäuremittel zum Einsatz...

Der frischgebackene Masseur übte an Pferden und Schweinen

Wie kommt ein einfacher Bauer dazu, sich als Masseur und Knocheneinrichter einen Namen zu schaffen? "Alles begann mit einem deutschen Oberst, der sich nach dem ersten Weltkrieg in ein Dorf in der Nähe zurückgezogen hatte und sich seinen Lebensunterhalt mit Reparaturen von Motoren verdingte", erklärte Ioan Lazea. "Eines Tages beobachtete ich, wie Menschen mit schmerzverzerrten Gesichtern zu dem Oberst zu Besuch kamen und sichtlich erleichtert wieder weggingen". Der Oberst verdiente sich diskret ein Zubrot - mit einer Massagetechnik, die er im Rahmen seiner Ausbildung fürs Feld erlernt hatte. Der Bauer war sofort fasziniert: das wollte er ebenfalls lernen! Schnell wurde er besser als sein Meister und übte seine neue Kunst an Schweinen, Pferden und Hunden. Wenn der Tierarzt mal nicht mehr weiter wusste, wandte er sich vertrauensvoll an ihn. In seinem ständigen Bestreben zu helfen, sprach er Menschen auf der Straße an: "Warum gehst du so krumm? Hast du Schmerzen? Komm, ich kann dir Erleichterung verschaffen!" Bald sprach sich sein Talent herum und der Kreis an Hilfesuchenden wurde immer größer. Auf der ständigen Suche nach Weiterbildung absolvierte Ioan Lazea später einen zweijährigen Massagekurs in Bukarest und lernte Fußreflexzonentherapie von einem Arzt in Satu Mare. Auf seiner Visitenkarte steht heute schlicht: Masseur. Das ist seine Berufung. Doch wenn man ihn nach seinem Beruf fragt, sagt er: Bauer.

"Ich sehe einen Menschen und weiß was ihm fehlt"

Nicht nur unermüdlicher Wissensdurst, sondern vor allem seine Intuition machten ihn zu dem, was er heute ist – ein Heiler, eine Art Dorfschamane, der den Hilfesuchenden in die Augen schaut und messerscharf ins Schwarze trifft. "Du bist morgens chronisch müde, nicht wahr?" fragt er unseren Testpatienten. "Und dann tränen dir die Augen?" Dieser nickt betroffen. "Dein zweiter Blutdruckwert ist manchmal zu hoch", fährt Lazea fort und erntet ungläubiges Erstaunen, denn auch dies stimmt. "Und deine Galle ist nicht in Ordnung, deswegen hast du einen aufgeblähten Bauch!" Das ist dem Mann neu, doch in der Tat hatte er in letzter Zeit unspezifische Beschwerden im genannten Bereich. "Warte, ich mach dir das weg!", sagt Lazea mitfühlend und beginnt, die Reflexzonen der Füsse zu bearbeiten. Bei jedem schmerzenden Punkt stellt er weitere Symptome fest, die der Patient alle bestätigt. Zwei Stunden nimmt er sich für die Prozedur, massiert konzentriert und erzählt, dass er Frau und Tochter schon angelernt hat, für den Fall, dass er einmal nicht zuhause sei, wenn ein Hilfesuchender an die Tür klopft.

Doch nicht nur im "Homunculus", der in den Fußsohlen jedes Menschen wohnt und mit dessen inneren Organen kommuniziert, kann Lazea lesen wie in einem Buch. Er hat ein Talent, das weit über das Erklärliche hinausgeht. "Ich sehe einen Menschen an und weiß, was ihm fehlt", sagt der Dorfheiler mit überzeugter Stimme. Dann fügt er bescheiden hinzu, "der liebe Gott hilft mir - er gibt mir dies alles ein!" Denn wie er konkret zu seinen Erkenntnissen kommt, kann er nicht erklären. Er macht keine Irisdiagnosen, sieht keine Chakren oder Auren und hört keine Stimmen. Esoterische Begriffe gehören nicht zu seinem Wortschatz. Er weiß die Dinge einfach und spricht sie aus. Wie ein Ziegelstein fällt ihm die Information von oben zu. Nur wenn er einen Patienten abtastet, dann spürt er "Energie" in seinen Fingern. Auch das Rezept mit dem Ameisenessig ist ihm intuitiv zugeflogen, bei der Beobachtung von Bienen. Die Biene, das wusste der Imkerssohn, unternimmt im Frühling gezielte Selbstreinigungsflüge und entledigt sich der angestauten Giftladung. "Da kam mir die Idee, dass Ameisen dies vielleicht auch tun, denn eine Ameise ist ja wie eine Biene ohne Flügel!", berichtet der 63-jährige mit leuchtenden Äuglein. "Nun musste ich nur noch herausfinden, wie ich sie dazu bringe, das Gift an einem bestimmten Ort abzuladen."

Wir verabschieden uns herzlich und fragen nach den Kosten für die aufwändige Behandlung. Doch der liebenswerte Ameisendoktor nimmt nur, was die Leute geben möchten. Als George ihm zögernd einen Schein zusteckt, erntet er freundlichen Protest: "Die Hälfte ist genug! Ihr seid ja von weither angereist und braucht noch Geld für die Heimfahrt." Unser Testpatient hatte – wie von Lazea prophezeit – noch drei Tage diffuse Knieschmerzen. Im Bauchbereich trat eine spontane Entlastung ein, die Wirbelsäule ist bis heute völlig entspannt. Vor Ameisen hat er seither tiefen Respekt - doch noch mehr vor dem Bauern mit den kristallklaren Augen, der mit klobigen, aber feinfühligen Händen Krankheiten energisch in ihre Schranken verweist.