Der Anstandshappen

Wenn mein rumänischer Mann und ich zu Abend essen, fragt er mich stets, ob ich auch noch etwas möchte, bevor er sich einen Nachschlag nimmt. Wenn ich nicke, wird der Rest brüderlich geteilt, wenn ich jedoch ablehne, dann nimmt er sich aus der neben uns stehenden Pfanne genau so viel, dass trotzdem ein winzigkleiner Rest übrig bleibt. Dann spult sich regelmäßig folgender Dialog ab:
Ich: „Du, ich kann nicht mehr – iss das bitte auch noch!”

Er: „Aber ich hab mir schon zweimal genommen – das ist für dich”. 

Ich: „Ich bin rappelvoll”. Dann, anklagend: „...schau mal meine Wampe an.” Kein Kommentar von seiner Seite, also noch ein argumentativer Vorstoß: „...und aufheben kann man den lächerlichen Rest doch auch nicht!” Dann ein letzter, verzweifelter Anlauf: „Außerdem schmeckt das morgen nicht mehr und zum Wegschmeißen ist es zu schade!” 

Er: „Da hast du recht. Dann iss es doch auf!”
Schachmatt. 

So ging dies jeden Abend. Bis ich ihm die Geschichte vom kalten Büffet erzählte. Ich weiß nicht, in welchem Land sie spielt und ob sie überhaupt wahr ist, aber sie passt ganz gut nach Rumänien. Bei einer noblen Einladung stehen mehrere Leute am kalten Büffet, wobei sich eine Platte mit einer besonderen Köstlichkeit viel schneller leert als die anderen, bis zum Schluss nur ein einziger Happen übrig bleibt. Wie die Haie umkreisen die Gäste nun das Büffet, das begehrte Objekt fest im Blick, doch gleichzeitig zu wohlerzogen, um den letzten Bissen vor aller Augen wegzunehmen.

Ich hab mir für solche Situationen – in die ich leider im wirklichen Leben nie geriet – bereits eine Strategie zurechtgelegt: „Ach, euch schmeckt’s nicht?”, würde ich mit Unschuldsmiene ausrufen und das begehrte Stück kokett auf die Gabel spießen. Dies nicht etwa, weil ich so verfressen wäre, sondern rein aus Freude an den zu erwartenden verblüfften Gesichtern.

Die vorliegende Anekdote verläuft jedoch anders. Der Strom fällt aus! Für lange fünf Sekunden herrscht völlige Dunkelheit im Saal. Plötzlich ertönt ein lauter Schrei. Als das Licht wieder angeht, ist der Anstandshappen immer noch da – doch in der Hand, die danach greifen wollte, stecken vier Gabeln...

Wenn mein Mann heute zum Nachschlag ausholt und den Anstandshappen in der Pfanne lässt, brauche ich nur noch zu sagen: „Schatz, soll ich das Licht ausschalten?” Es funktioniert immer!