Der Fall und die Fallen

„Denn im allgemeinen heißt der Mensch lieber ein Bösewicht, aber gescheit, als ein Dummkopf, wenn auch anständig; des einen schämt er sich, mit dem anderen brüstet er sich.“ Thukydides, der Ex-Stratege und Historiker Athens, in dessen Alterswerk „Der Peloponnesische Krieg“ das steht, sollte vor Herodot „Vater der Geschichte“ heißen. Denn bei ihm gibt es neben Objektivität der Darstellung der selbst erlebten Ereignisse auch viel Einzel- und Massenpsychologie, sowie, mit der Apologie des Perikles, ein Idealporträt des Herrschers (dem er allerdings Hermokrates und Themistokles so ziemlich gleichstellt, den in heutigen Geschichtsbüchern verklärten Alkibiades aber wegschiebt wegen Egozentrik und der Unfähigkeit, auf Dauer das Vertrauen des Volkes zu fesseln).

„Das erste Blatt des Thukydides ist der einzige Anfang aller wahren Geschichte“ kann, wortgleich übereinstimmend, bei Immanuel Kant und David Hume nachgelesen werden. Thukydides kam durch Graham Allison von der Harvard-Universität mit dessen Buch „Für Krieg bestimmt: Können Amerika und China der Thukydides-Falle entkommen?“ ins Gegenwartsgespräch. Die „Thukydides-Falle“ (der Krieg zwischen Athen und Sparta war unausweichlich) definiert Allison auf Basis einer Analyse von sechzehn ähnlichen Rivalitäten in 500 Jahren. Außer vier endeten alle mit Krieg. Fazit: Allison hält einen militärischen Konflikt zwischen den USA und China in den kommenden Jahrzehnten für höchstwahrscheinlich. Spätestens 2050, wenn China die USA nach 180 Jahren an der Weltspitze von Wirtschaft und Macht ablösen wird...

Doch die „Thukydides-Falle“ kann – wirft man einen Blick zurück auf die 1920er und 1930er Jahre – auch in der gegenwärtigen Antisemitismusdebatte in Rumänien ausgemacht werden, wenn man die jüngsten antisemitischen Ausfälle gegen die Schauspielerin und Theaterintendantin Maia Morgenstern nicht als „Unfall“, sondern als „Symptom“ sieht. Die beiden Begriffe wurden oft und gern in den Kommentaren der bewährten Meinungsmacher Rumäniens benutzt, sodass man – in Anlehnung an Allison – einigen Grund hat, von einer „Antisemitismus-Falle“ zu reden. Auch, dass die Todesdrohung („Verbrennen in einem Ofen“) gegen die wohl prominenteste Jüdin Rumäniens gerade vor dem Pessach-Fest kam und mit „Partidul AUR“ unterschrieben war, passt zu unserer „Antisemitismus-Falle“. Dagegen hilft keinerlei Auf-Distanz-Gehen dieser parlamentarisch vertretenen Extremistenpartei: Zu viele Zitate ihrer prominenten Mitglieder – allen voran Aussagen von Senator Sorin Lavric, ihrem Chefideologen – passen ins Schema.

Am 7. Juli 2020, bevor er Senator war, veröffentlichte Lavric den Beitrag „A fi liber în Berlin“ auf R3media. Es ist die reinste Apologie des Nazitums, die sich dieser missbräuchliche Nutzer der Freiheit des Wortes leistet. Er spricht von „Ariern, die ihre pejorative Vergangenheit abgeschüttelt haben und eine Revolte starteten“ gegen die Restriktionen der Angela Merkel, gegen die „Allogenen aus dem Orient“, in deren Augen in Deutschland zu viele Protestler leben, die „blond“ sind, „sämtlich mit weißer Haut bedeckt, ja sogar die Welt aus blauen Augen wahrnehmend“, er schreibt von „mystischem Enthusiasmus“, „offensichtlichem Christentum und deutlichem Konservatismus“ (dies im Beitrag: „Drainage des Sumpfs“) und ist (im Gespräch) für eine „Entfesselung der Sprache“ von den „Zwängen der politischen Correctness“. Der Rechtsextreme, der nach wie vor regelmäßig in der Zentralzeitschrift des Schriftstellerverbands veröffentlicht, zählt nicht mehr zum „latenten Antisemitismus in der Gesellschaft Rumäniens“. Dieser Antisemitismus ist manifest.

Lobenswert das deutliche Auf-Distanz-Gehen des DFDR angesichts der gegenwärtigen Antisemitismuswelle. Es fehlte allerdings das Wort zur (latenten?) „Chauvinismus-Falle“ in einer sich zunehmend nationalistisch aufheizenden Gesellschaft Rumäniens.