Der Glaube, der Bäume versetzt

In einem abgelegenen Dorf hauste eine alte Frau in großer Armut. Mit dem Hungern kam sie irgendwie zurecht, aber das Frieren in den kalten Wintern kam ihr von Jahr zu Jahr immer saurer. Da kam der neue Pfarrer zu ihr auf Besuch. Dem klagte sie ihre Not. „Habt Ihr denn niemanden, der Euch ein wenig unterstützen könnte?“, fragte der Geistliche. „Freilich, mein Jüngster“, antwortete die Frau. „Er ist der Einzige, der mir geblieben ist. Aber der Bub ist weit fort von hier, ist seit vielen Jahren Kaufmann in Australien.“ Verwundert fragte der Pfarrer: „Schickt der Bub nichts?“ „Oh, doch!“, erwiderte die Frau, „an jedem Heiligen Abend kommt ein langer Brief und jedes Mal sind in dem Brief auch Bilder drin.“ „Bilder? Was für Bilder? Darf ich sie sehen?“ fragte voller Neugierde der Seelsorger. Die Greisin brachte ein ganzes Bündel Briefe. Der Pfarrer sah sich die Briefe und die „Bilder“ an. Er machte große Augen. Dann lachte er laut und rief: „Mutter, wisst Ihr, was das für Bilder sind? Es sind Banknoten, australische Banknoten mit Bildern berühmter Männer. Ein ganzes Kapital besitzt Ihr und wusstet es nicht. Ihr seid so reich, dass Ihr nie mehr zu hungern und zu frieren braucht!“


Diese Frau hungerte und fror und wusste nicht, dass die Mittel, um dieses Übel zu beheben, ungenützt in ihrer Kommode lagen. Sie war eben eine unwissende Frau. Aber ergeht es vielen von uns nicht ähnlich, nicht auf der materiellen, sondern vielmehr auf der geistigen Ebene?

So manche Leute beklagen sich, dass sie es schwer im Leben haben. Sie leiden nicht nur an körperlichen Gebrechen, sondern oft mehr an Unverständnis und an der Lieblosigkeit ihrer Umgebung. So sind viele ihrer Tage mit Bitterkeit erfüllt. Sie hungern nach Freundschaft und Liebe, nach einem guten Wort. Sie frieren an der Gleichgültigkeit und Kälte der nächsten Verwandten und Nachbarn. Man könnte ihnen die Worte, die Doktor Faust in Goethes Werk spricht, in den Mund legen: „Nur mit Entsetzen wach‘ ich morgens auf, ich möchte bittre Tränen weinen, den Tag zu seh‘n, der mir in seinem Lauf nicht einen Wunsch erfüllen wird, nicht einen!“

Der Chor, der solche oder ähnliche Klagelieder anstimmt, ist sehr groß. Muss das so sein? Hat uns Gott nur als orientalische Klageweiber geschaffen? Auf keinen Fall. Jeder von uns hat doch mit der Taufe einen wertvollen geistigen Schatz erhalten, der ihn vor dem seelischen Hungern und Frieren bewahren soll. Es ist die Frohe Botschaft unseres christlichen Glaubens. Nur geht es damit vielen so, wie es der alten Frau mit den australischen Banknoten ergangen ist: Sie kennen weder den Wert des Glaubensschatzes, noch werden sie seiner Lebensmut spendenden Kraft zuteil. Er liegt seit der Taufe als totes Kapital ungenützt in der Truhe des Herzens. Ein Mensch, dem sein christlicher Glaube zum Bewusstsein gebracht hat, dass er so, wie er leibt und lebt, ein Kind und Erbe Gottes ist, dass sein Wohl und Wehe in der Hand eines nicht nur allmächtigen Herrn, sondern auch eines liebenden Vaters liegt, der von der Überzeugung getragen wird, dass sein irdischer Lebensweg ein Weg zur ewigen Heimat ist, wird doch nicht nur Klagelieder über die Beschwernisse dieses Weges anstimmen, sondern frohe, aufmunternde Wanderlieder über die Schönheit und das zu erwartende Glück in der künftigen Heimat singen.

Der Mensch wird durch den lebendigen Glauben geistig so stark, dass er den Maulbeerbaum der alltäglichen Sorgen und Leiden, der Kleinmütigkeit und Verdrießlichkeit mit den Wurzeln aus seinem Herzen reißt und ihn einfach in das Meer der Vorsehung Gottes verpflanzt. Kein vom Glauben erfüllter Christ wird wie Faust in Goethes Werk jammern: „Nur mit Entsetzen wach‘ ich auf!“ Der lebendige Glaube macht den Christen so stark und lebenstüchtig, dass er allen Schwierigkeiten die Stirn bietet. Er fühlt sich nicht als Wanderer ohne Ziel, sondern als Heimkehrer aus der Verbannung. Jeder, der die Heimkehr aus Russland am eigenen Leib erlebt hat, begreift diese Seelenstimmung. Mit einer solchen Einstellung lässt sich das Leben in allen Lagen meistern. Wer den christlichen Glauben nicht als totes Kapital mit sich herumschleppt, sondern sich auf ihn wie auf einen Wanderstab stützt, bleibt lebenstüchtig und allen Schwierigkeiten gewachsen. Das Geheimnis des Erfolges liegt darin: Der glaubensstarke Christ steht mit den Füßen fest auf dieser Welt, aber mit dem Herzen ist er in der anderen Welt. Er ist ein Bürger zweier Welten! Seien auch wir „Bürger zweier Welten“. Dazu verhilft uns unser Glaube. Lassen wir ihn nicht als totes Kapital in der Truhe unseres Herzens liegen. Es muss ein Glaube sein, der Bäume versetzen kann! Beten wir wie die Apostel: „Herr, stärke unseren Glauben!“