Der größte Konzertsaal der Welt

Das Hauskonzert im 21. Jahrhundert

Der Pianist Igor Levit blickt trotz seiner jungen Jahre auf eine beeindruckende musikalische Karriere zurück – wer sich für klassische Musik interessiert, weiß, von wem die Rede ist. Aber gerade seit er keine öffentlichen Konzerte mehr geben kann, wurde er auch einem Publikum bekannt, das diese kaum besucht hätte: Seit der Corona-Krise setzt sich der Musiker jeden Abend an seinen Flügel, und bis zu 100.000 Menschen lauschen seinem Spiel auf Twitter. Für viele Zuhörer waren diese Konzerte ein Moment der Schönheit und Ruhe inmitten von Isolation, Virusangst und finanziellen Sorgen. Sein erstes Konzert begann er mit den Worten: „Es ist eine traurige Zeit, es ist eine seltsame Zeit, aber zu handeln ist besser als nichts zu tun. Bringen wir das Hauskonzert ins 21. Jahrhundert!“

Eine gewisse Intimität stellt sich ein, wenn der Pianist von Weltrang seine Pantoffeln neben dem Flügel abstellt, bevor er sich an diesen setzt. Dagegen versuchen Zahlreiche Konzert- und Opernhäuser, dem Publikum das Erlebnis einer öffentlichen Aufführung möglichst nahe zu bringen: Die Konzerte in der Berliner Philharmonie etwa werden weiter in Frack und Lackschuh gespielt, wenn auch in reduzierter Besetzung – sie werden live in die „Digitale Konzerthalle“ (digitalconcerthall.com/de) übertragen. Das Angebot ist, wie auch die „echten“ Konzerte, nicht gratis: Zwischen 9,90 Euro für sieben Tage und 149 Euro für zwölf Monate kostet ein Abo. Dieses bietet darüber hinaus auch Zugang zum wohlsortierten Archiv der Seite: Wen es gelüstet, im Mai 2020 das Silvesterkonzert 2013 nachzuhören, oder wer wissen möchte, wie die Solistin Anna Malavasi aus Mantua klingt, wird hier schnell fündig. Gratis zur Verfügung  stehen die Porträts von Musikern und ihren Instrumenten: Dabei erzählt etwa der aus Bukarest stammende Erste Violinist Laurențiu Dincă von seiner italienischen Geige aus dem 17. Jahrhundert und seinem Leben als Orchestermusiker. Andere Videos zeigen Einführungen der Dirigenten in bestimmte Stücke oder sogenannte „Pausengespräche“ mit Musikern.

Die Elbphilharmonie Hamburg dagegen stellt ihr komplettes Angebot kostenlos auf ihrer Homepage elbphilharmonie.de zur Verfügung: Unter dem Motto #ELPHIATHOME (also „Elhpie zuhause“) gibt es Konzerte aus Klassik und Jazz, die Architektin führt digital durch das spektakuläre Gebäude, und einzelne Musiker und kleine Ensembles spielen exklusive Sessions, von spanischem Akkordeon bis zum DJ-Set. Außerdem hat man sich in Hamburg mit anderen europäischen Konzerthäusern zusammengetan: Abends werden ausgesuchte Konzerte verschiedener europäischer Orchester dargeboten.

Dieses Abendprogramm hat Konkurrenz: Die Wiener Staatsoper zeigt jeden Abend die Aufzeichnung einer Opern- oder Ballettproduktion und folgt dabei teilweise sogar dem Spielplan für dieses Frühjahr. Unter www.staatsoperlive.com kann man sich kostenlos registrieren und hat so jeden Abend Eintritt zu einer Vorführung. Diese beginnen zwischen sechs und neun Uhr und stehen anschließend für 24 Stunden zur Verfügung – samt Synopsis, Besetzung und deutschen Untertiteln. Der Samstagmittag ist dem kleinen Publikum gewidmet: Da wird eine Kinderoper gegeben – von modernen Stücken wie „Patchwork“ bis Klassikern wie „Cinderella“. Breiter aufgestellt ist das Kinderprogramm der Volksoper Wien (volksoper.at): Unter JungeVolksoper@Home gibt es nicht nur Videoausschnitte aus Kinderproduktionen, sondern auch Rätsel, Bastelbögen und Gewinnspiele.

Dann gibt es noch die Jubiläen, die dieses Jahr online begangen werden müssen: Die Internationalen Händel-Festspiele etwa, die am 26. Juni feiern sollten, dass vor 100 Jahren in Göttingen mit der Aufführung der „Roselinde“ die Händel-Renaissance eingeläutet wurde. Die Organisatoren haben umdisponiert und ein digitales Festival zusammengestellt: Täglich gibt es musikalische Beiträge – die Künstler und Künstlerinnen, die auf der Bühne stehen sollten, schicken Aufnahmen ihrer Kunst von Zuhause – und Gespräche mit Musikern und Expertinnen, unter haendel-festspiele.de.

Wäre Ludwig van Beethoven 250 Jahre alt geworden, würde er diesen Geburtstag im Laufe dieses Jahres feiern (wann genau, ist nicht bekannt). Zahlreiche Festivals und Veranstaltung waren zu diesem Jubiläum geplant – die meisten sind nun gezwungen, ins Internet umzuziehen. Aber: „Beethoven hat uns gezeigt, dass man mit Mut neue Wege gehen kann“ – so heißt es auf der Seite des Festivals Beethoven Frühling 2020. Geplant war ein dezentralisiertes Festival mit Konzerten an für Beethoven bedeutungsvollen Orten, von Baden bis Wiener Neustadt – jetzt muss als Aufführungsort die Homepage (beethovenfruehling.at) dienen. Das Programm ist frei bzw. gegen freie Spende zugänglich und recht vielseitig – Kammermusik, Liederabende oder Crossover.

Kein eigentliches Konzerthaus, aber ein guter Tipp ist die Mediathek des deutsch-französischen Kultursenders Arte: Im Gegensatz zu den genannten Beispielen werden hier Mitschnitte nicht nur klassischer Konzerte, sondern aus der ganzen Musikgeschichte angeboten. Zu Ehren des Geburtstagskindes wurde der „Ludwig van“-Kanon erstellt: Mit diesem Label hat Arte alle möglichen Sendungen der Vergangenheit versehen, die mit dem Komponisten zu tun haben. Dazu zählen natürlich Mitschnitte zahlreicher Konzerte (von „Beethovens 1. Sinfonie, dirigiert von Georg Solti, 1978 in der Royal Albert Hall“ bis „Beethovens Schottische Lieder bei La Folle Journée de Nantes, 1. Februar 2020“). Dazu kommen originelle Arte-Produktionen: Unter dem Titel „Echt jetzt?“ werden in drei höchst vergnüglichen Minuten Hintergründe zu Beethovens Schaffen vorgestellt – hier erfährt man zum Beispiel, was seine wohl berühmteste Ouvertüre mit dem Verzehr von Chorizo auf der Brüsseler Grande Place zu tun hat.

Dies soll nur einen kleinen Eindruck dessen vermitteln, welch enormes Angebot an Mitschnitten, Live-Konzerten, Gesprächen und Dokus zu Musik online zur Verfügung steht. Von Igor Levits Wohnzimmer bis zur Metropolitan Opera New York: Das Internet ist ein Konzertsaal schier unermesslichen Ausmaßes.