Der Magyarvellist

Seit zwölf Jahren verunstalten Viktor Orbán und seine Fidesz-Partei den ungarischen Rechtsstaat, sodass man sich unter anderem fragt: wie und wie lange noch?

Viktor Orbán während des Besuchs des ebenso umstrittenen brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro im Februar 2022.
Foto: Alan Santos/PR/Wikimeda

Wohl in keinem EU-Land driftet die Politik zurzeit derartig weit nach rechts wie in Ungarn. Eine „illiberale Demokratie“ möchte der seit 2010 amtierende Ministerpräsident Viktor Orbán, dessen Partei „Fidesz“ sich bei den vergangenen Wahlen im April in Allianz mit der christlich konservativen KDNP erneut zwei Drittel der Sitze im Parlament des Staates sicherte, etablieren und vielleicht hat er das sogar schon. Wie und warum funktioniert sie nun, diese „illiberale Demokratie“, und kann man sie wieder loswerden?

Dubiose Wahlstrategien

Der erneute Wahlerfolg von Orbán 2022 wirkt auf den ersten Blick demokratisch und unverdächtig. Sein Parteienbündnis erreichte 53 Prozent der Stimmen, also die Mehrheit. Wenn mehr als die Hälfte der Wähler für ihn und damit für seine „illiberale Demokratie“ stimmen, hat sich dieses politische System demokratisch wohl selbst legitimiert, was kann man da einwenden? Sollte man sich fragen, wie man mit knapp der Hälfte der Stimmen zwei Drittel der Sitze bekommt? Das lässt sich unter anderem damit erklären, dass 2011 ein Wahlgesetz verabschiedet wurde, das vorsieht, dass bei den Wahlen Direktmandate aus Wahlkreisen wesentlich begünstigter sind als Listenmandate. Zugleich wurden die Grenzen für die Wahlkreise neu gezogen. Wer war 2011 nochmal in der Regierung?

Diese auch als „Gerrymandering“ bekannte Maßnahme der Wahlmanipulation, auch in den USA zu finden, ist schon mal eines der Glieder einer Kette von Aktionen, die die Existenz des Orbánismus auch für die Zukunft sichern sollen, beginnend mit der neuen Verfassung von 2010, deren die Demokratie und den Rechtsstaat schmälernder Einfluss in Ungarn in Teilen vielleicht nur streitbar, angewendet auf Orbáns System für dessen Machterhalt aber definitiv zuträglich ist. Das Wahlsystem zeigt zudem, dass die Unterstützung durch die Bevölkerung eben doch nicht so groß ist, wie eine Zweidrittelmehrheit vermuten lässt. Berücksichtigt werden muss auch die Wahlbeteiligung. Nur 58 Prozent der Wahlberechtigten gaben ihre Stimme ab, also stimmten weniger als 30 Prozent von allen für den Fidesz. Schätzungsweise vier Prozent davon kamen aus dem Ausland, von Mitgliedern ungarischer Minderheiten (ihnen gehören ca. zwei Millionen Menschen an), die seit 2014 die ungarische Staatsbürgerschaft bekommen können.

Orbáns dortige „Wahlwerbung“ geschieht in Form der großzügigen „Béthlen Gábor Stiftung“ und besonders aber der Möglichkeit, ungarische Rente zu beziehen. Von den ungefähr 250.000 Stimmabgaben aus diesen Diasporen gingen fast alle an ihn. Vier Prozent sind zwar nicht viele Stimmen, können zum Erhalt einer Zweidrittelmehrheit aber entscheidend sein. Das Engagement für die ungarischen Minderheiten außerhalb der heutigen Grenzen im Gebiet des ehemaligen Großungarn kann außerdem gut bei nationalistischen Wählern im Inland ankommen.

Diese Wähler für sich zu gewinnen ist Teil der Choreographie, die Orbán auf seinem zwischen Diplomatie und Populismus gespannten Drahtseil tanzt. Zwar kann er, um in Brüssel nicht für so viel Unmut zu sorgen, dass es für ihn nachteilig werden könnte, nicht offen äußern, dass er einen Wiederanschluss der Gebiete anstrebt, die Ungarn nach dem ersten Weltkrieg verloren hatte, es ist auch unwahrscheinlich, dass so eine halbe Kriegserklärung eines seiner politischen Ziele ist.

Da am rechten Rand in Ungarn viele Trianon-Revisionisten zu finden sind, hilft es aber anzudeuten, dass man grundsätzlich eine Art von Interesse an den Gebieten hat, indem man sich für deren ungarischsprachigen Bewohner einsetzt.

Die „Umgestaltung“ der Medienlandschaft

Einem guten Wahlergebnis auf die Sprünge hilft auch die Kontrolle der Medien. Nützlich ist für Orbán, dass der ungarische Sprachraum relativ klein ist und dass viele Ungarn besonders in ländlichen Gebieten keine Fremdsprachen sprechen, zumindest nicht so gut, dass sie sich mithilfe ausländischer Medien informieren könnten. In Ungarn ein Medienmonopol aufzubauen ist also möglich, wenn man die richtigen Leute kennt.

In dem Fall Lörincz Mészáros, Bauunternehmer, bis 2018 Bürgermeister von Orbáns Geburtsort Felcsút, in jüngerer Zeit plötzlich Medienmogul, Kraftwerkbetreiber, Oligarch und möglicherweise der Ungar mit dem größten Vermögen. Der Kindheitsfreund von Viktor Orbán ist eigentlich gelernter Gasinstallateur, nach den Wahlen 2010 wurden plötzlich sehr viele Aufträge, die auch mit EU-Geldern finanziert wurden, an sein neu gegründetes Bauunternehmen vergeben. Mit den Gewinnen gründete er einen Medienkonzern und begann, viele ungarische Zeitungen und auch Fernsehsender zu kaufen.

Auch einige Regierungsbeauftragte Orbáns kauften Medien. Das hatte zur Folge, dass bei den letzten Wahlkämpfen Vertreter gegnerischer Parteien kaum noch in den Medien zu sehen waren. Die wenigen oppositionellen Medien, die von Orbáns Leuten nicht gekauft wurden, können mithilfe des neuen Mediengesetzes von 2010 in Schach gehalten werden. Journalisten können hierdurch zwar nicht ohne weiteres weggesperrt, aber auf Linie gezwungen werden.

Wie es begann...

Es stellt sich aber auch die Frage, wie es passieren konnte, dass das Bündnis Fidesz-KDNP über-haupt in die Position gekommen war, sich diese Vorteile zu verschaffen. Die zwei Drittel-Mehrheit, die es 2010 bei seinem „Erdrutschsieg“ erreichte, musste schließlich ohne die Hilfe der Werkzeuge der „illiberalen Demokratie“ erreicht werden. Hierfür wird in Fachkreisen immer wieder das Versagen der Vorgängerregierung angeführt, konkret eine geleakte Geheimrede von Orbáns Vorgänger Ferenc Gyurcsány, in der er einige während seiner Laufbahn getätigte Lügen zugab und sich sehr vulgär über Ungarn äußerte, außerdem eine Richtungsänderung in der Politik mit der seine Partei anderen sozialdemokratischen Parteien Europas folgen wollte, ohne dabei die Situation des Mittelstandes im eigenen Land zu berücksichtigen. Es muss hier angemerkt werden, dass das Image des damals oppositionellen Fidesz zu der Zeit noch nicht so nationalistisch war wie heute.

… sich auswirkt …

Zu Wahlmanipulation, Oligarchentum, einem Medienmonopol und Propaganda gesellen sich regelmäßig Äußerungen und Aktionen, die sich leicht verharmlosen lassen, indem man sie als xeno-, homo-, oder transphob bezeichnet, aber die „Sicherung“ der Grenze zu Serbien mit einem Stacheldrahtzaun ist nicht nur „xenophob“ im Sinne von Angst vor Fremdem, wenn die Ablehnung von Einwanderung damit begründet wird, dass die Europäer sich nicht „vermischen“ sollen. Sie ist rassistisch, menschenfeindlich und zudem populistisch. Ein Verbot der Berücksichtigung von allem, was nicht heterosexuell ist, im Sexualkundeunterricht sowie ein Verbot der Erwähnung von Homosexualität in Werbung sind nicht homo- und transphob, sondern -feindlich. Eine nationale Plakatkampagne gegen den ungarischstämmigen und jüdischen amerikanischen Multimilliardär George Soros fußt nicht auf Angst vor westlichen Einflüssen, sondern auf dem antisemitischen Märchen der „jüdischen Weltverschwörung“. Eindeutige antisemitische Äußerungen vermeidet der Präsident zwar, wenn man aber welche tätigt und Zsolt Bayer heißt bekommt man in Ungarn einen Orden.

Dennoch konnte Orbán über Jahre EU-Gelder abzweigen, um fragwürdige Denkmäler, die den Vertrag von Trianon thematisieren, zu errichten, oder um dem Platz vor dem ungarischen Parlament wieder das Erscheinungsbild der 1930er Jahre zu verpassen, als Hitlers späterer Verbündeter Miklós Horthy Ungarn regierte – vielleicht um uns daran zu erinnern, dass Orbán bis jetzt immerhin nicht der schlimmste ungarische Autokrat aller Zeiten war. Die Gelder flossen auch weiter, nachdem die Stadtverwaltung von Ózd einer Romasiedlung während der Hitzewelle 2013 das Wasser abdrehte, oder als Obdachlosigkeit in Ungarn zur Straftat erklärt wurde. Die EU reagierte nicht – vor allem, weil der Westen, insbeson-dere Deutschland, wirtschaftliche Interessen in Ungarn hat. Mehrere Firmen verlegten Produktionsorte in das Land, auch weil die durch den Fidesz geschaffenen Arbeitsgesetze für die Unternehmen sehr günstig waren. Orbán ist neben etwa dem Klimawandel also wohl ein weiteres Übel, das man zugunsten der Industrie einfach akzeptiert. Aus Angst, zu viele Sitze im Parlament zu verlieren, wurde zudem lange Jahre von der Europäischen Volkspartei darauf verzichtet, den Fidesz auszuschließen. Hinzu kommt, dass sich die Staaten des Visegrad-Abkommens gegenseitig im EU-Parlament unterstützen und zugunsten ihrer Verbündeten abstimmen, was besonders wirkungsvoll ist, wenn bei Abstimmungen Einstimmigkeit verlangt wird.

… und einfach nicht aufhören will

Das könnte sich allerdings tatsächlich bald ändern. Die Äußerung Orbáns, Selenskyj sei sein Feind, kam bei den übrigen Mitgliedern der Visegrad-Gruppe nicht so gut an. Sein prorussischer Kurs und die Weigerung, Antikriegsmaßnahmen mitzutragen, während selbst die meisten anderen rechten Parteien der EU sich von Russland abwenden, könnte dafür sorgen, dass Orbán in der EU alleine dasteht. Innerhalb Ungarns kann außerdem die Inflation seine Macht destabilisieren. Dennoch, die Wahlen 2014 und 2018 haben uns gezeigt, dass der Fidesz durch sein neues Wahlsystem auch dann eine Zweidrittelmehrheit im ungarischen Parlament bekommen kann, wenn er weniger als 50 Prozent der Stimmen bekommt. Zusätzlich muss gesagt werden, dass diese Stimmen nicht automatisch alle an gemäßigte Parteien gingen, wenn der Fidesz Stimmen verlöre. Die rechtsextreme „Jobbik“ zum Beispiel, jetzt Mitglied des Oppositionsbündnisses „Egységben Magyarországért“, bekam 2018 über 19 Prozent der Stimmen und war damit die stärkste Oppositionspartei. Zwar verlor die Partei auch durch Abspaltung einige Wähler, die Unterstützten aber wahrscheinlich die neue von den Abspaltern gegründete Partei „Mi Hazánk Mozgalom“, die 2022 mit knapp sechs Prozent gewählt wurde.

Fraglich ist auch, ob ein Scheitern Orbáns zwangsläufig ein Scheitern des Fidesz bedeuten muss. Das ungarische System ist zwar, beson-ders wenn man an das Medienmonopol denkt, stark an ihn geknüpft, aber nicht über ihn persönlich, sondern über Strohleute, die sich gegen ihn wenden können, wenn die Lage zu brenzlig wird. Denkbar wäre auch, dass er, um dem zuvorzukommen, zurücktritt. Selbst wenn die parlamentarische Vormachtstellung des Fidesz beendet würde, ist die Verwüstung, die er hinterlassen hat, enorm. Das Medienmonopol würde weiter bestehen, es gäbe weiterhin viele Fidesz-Mitglieder in der Kommunalpolitik und im Europaparlament, und die Änderungen der Verfassung und des Wahlsystems wären auch nicht einfach rückgängig zu machen, weil ein Parlament aus etwa gleich starken Parteien des gesamten Spektrums dazu Zweidrittelmehrheiten bilden müssten. Um innerhalb Ungarns aber überhaupt ein Scheitern herbeiführen zu können, bräuchte es irgendeine Form von Opposition, die halbwegs stabil ist. Die gibt es aber weder in der Politik, noch in den Medien, noch in der Verfassung. Diese Vermutung teilt auch der Politikwissenschaftler Sven Leunig von der Friedrich-Schiller-Universität Jena: „Ich fürchte, und die letzten Wahlen haben das ja bestätigt, dass in der Tat Orbáns Herrschaft ziemlich stark zementiert ist – und aufgrund der Verfassungsänderungen er selbst bei einem Machtverlust noch genügend Einfluss ausüben könnte“, schreibt er auf Anfrage.
Höchstwahrscheinlich sind Orbáns Spuren der Verwüstung in Ungarn also tief genug für ihn, um mehrere Rückschläge zu verkraften, und es liegt an der EU, dafür zu sorgen, dass sich die Schäden nicht auf andere Mitglieder ausbreiten. Eine Besserung innerhalb Ungarns ist nicht in Sicht und nicht erst seit den Reden auf dem Tusványos- Festival in Siebenbürgen und danach vor den Republikanern in Texas hat sich abgezeichnet, dass Orbán mit den Ansichten, die er seinen Zuhören zumutet, nicht in die EU passt. Deswegen sollte man Ungarn nicht gleich rauswerfen, aber die Union muss sich besser vor solchen Polit-Hooligans schützen können. Die inzwischen immer mehr diskutierte Abschaffung des Einstimmigkeitsprinzips wäre wohl ein Schritt in die richtige Richtung.