Der Stadttrommler von Schäßburg

Manchmal verbergen sich die Helden des Alltags auch in historischen Kostümen...

Perfekte Kulisse – der Stundturm

Dorin Stanciu: Schauspieler, Pädagoge – und Stadttrommler aus Leidenschaft

ProEtnica 2016: Der Stadtrommler führt die tägliche Trachtenparade an.
Fotos: George Dumitriu

Zum Bild der Festung gehört er längst, wie der Stundturm, das venezianische Haus oder die Schülertreppe. Kaum ein Tourist, der ihn erblickt und nicht erfreut auf den Auslöser drückt. Die Gruppe Japaner begrüßt er in ihrer Landessprache – sie scheinen es verstanden zu haben, denn es folgen minutenlange Erwiderungen und Verbeugungen. Kurios und doch selbstverständlich wirkt er in der Burg, jeder kennt ihn, doch kaum einer kennt seinen Namen. „Uns unterrichtet der Stadttrommler von Schäßburg”, erzählen seine Schüler manchmal stolz. „Habt Vertrauen in Gott, in euch und in alles, was ihr euch vornehmt, und sicher werdet ihr Erfolg haben”, sagt er ihnen stets – einer seiner Lieblingssprüche auch für die Touristen.

„Die Worte stammen nicht von mir” bekennt Dorin Stanciu, sondern von Maia Morgenstern, seiner Schauspielkollegin vom Theater im Turm der Festung aus den Jahren 1997 bis 1998. Das Theater ist längst aufgelöst, doch ein Relikt aus der Zeit dieser Zusammenarbeit ist die Figur, die heute Touristen in allen Sprachen in Schäßburg willkommen heißt: der Stadttrommler. Sein historisches Vorbild, das Stanciu über zwei Jahre studierte, lebte im 17. Jahrhundert und war natürlich Sachse. Mit Fackeln in der Hand lief er durch die dunklen Gassen und mahnte die Bürger auf Lateinisch zur Ruhe. „Silentium!” ruft der Mann mit der roten Samtmütze, dem kurzen Röckchen über stämmigen Männerbeinen und den ledernen Sandalen theatralisch, bevor er weiter erklärt: „Er hatte vier Funktionen: Burgwächter, Feuerwehrmann, Herold und Trommler. Mit der Trommel wurden auch öffentliche Prozesse auf dem Burgplatz angekündigt. „Etwa, wenn jemand den sechs Kilo schweren Schandstein um den Hals tragen musste, weil er ein lokales Gesetz oder eines der zehn Gebote verletzt hatte. Der Stein ist heute nicht mehr in Gebrauch, man kann ihn in der Folterkammer im Stundturm bestaunen, doch Stanciu verkündet weiterhin Neuigkeiten: „Ich werbe für Schäßburg durch den Gruß und kündige wie im Mittelalter eine Kulturveranstaltung an!” beschreibt er seine Tätigkeit, mit der er über eine Firma Verträge mit dem Lokalrat, Hotels und Restaurants innehält.

„Ich habe eine Geschichte kreiert”, sagt er stolz über die Figur, die er seit elf Jahren verkörpert, und die nicht nur zu seinem Alter Ego wurde, sondern sogar bei OSIM als Marke eingetragen ist. „Es gibt nur einen, der etwas Ähnliches macht, ein alter Mann in einem Dorf in Alba - aber wenn ich den anzeige, verhaut mich der liebe Gott!” scherzt Stanciu. Die Rolle als Stadttrommler ist für den studierten Schauspieler und Pädagogen, der am theoretischen Lyzeum in Dumbraveni Kunst unterrichtet, viel mehr  als nur ein Job: „Es ist Vergnügen - und Leidenschaft! Es ist ein anderes Leben als Unterhaltung, Fernsehen und Bars - ich hab gar keine Zeit mehr, Nachrichten zu gucken.”

Immer nur gute Worte

 „Ich habe ein kleines Gehalt im Schulwesen - aber Geld interessiert mich nicht”, bekräftigt Dorin Stanciu. Dann schon eher die vielen Erlebnisse, die ihm das Herz erwärmen. Und die Genugtuung, seine Stadt, in der er geboren und aufgewachsen ist, bekannt zu machen. Längst kennt er alle Fremdenführer, weiß, mit welchen Gruppen sie kommen und in welcher Sprache er sie begrüßen muss. „Ich sage einfach alles, was ich weiß” lacht der Stadttrommler. Die Aussprache der Grußformeln aus aller Welt hat er sich auf der Rückseite seines Instruments notiert. Bei 59 Sprachen gibt es mittlerweile auch mehrere Trommeln... 

Für eine Gruppe jüdischer Besucher sang er einmal spontan „Hava nagila”. „Die haben mich danach gar nicht mehr gehen lassen!” ruft er vergnügt. So etwas muss man aus Leidenschaft tun, bekräftigt Dorin Stanciu immer wieder. „Wenn du im Tourismus distanziert  bist oder durchblicken lässt, dass du es nur für Geld machst, bist du augenblicklich unten durch!” Fotografieren darf man den schmucken Burgwächter daher jederzeit und gratis.
Seine Sprüche formuliert er bewusst stets positiv: „Wenn ihr an euch glaubt, und an den lieben Gott, dann werdet ihr Erfolg haben mit allem, was ihr euch vornehmt”, gehört zu seinen Favoriten. Leise fügt er an: „Das ist es doch wert, mal gesagt zu werden.“ Ein anderer lautet: „Gute Worte schaden weder dem Gedächtnis noch den Zähnen. Wir danken Ihnen, dass Sie unsere mittelalterliche Perle Rumäniens besuchen, Schäßburg, ein Ziel, das entdeckt zu werden lohnt. Schönen Dank, ich habe gesprochen.“ Manchmal darfs auch ein wenig hintersinnig sein: „Wenn die Vögelchen über den Dächern zwitschern, dann zwitschert es nach zwei-drei Minuten auch in den schmalen Gässchen.” Theatralisch senkt er die Stimme: „Habt acht, was ihr redet – die Burg ist bewohnt!” „Ich habe unzählige Sprüche, witzige, freche, nachdenklich stimmende – aber alle wohldurchdacht”, freut sich Stanciu. 

Auch Legenden kennt er zur Genüge - manche historisch, wie die der Witwe aus der Unterstadt, die 1676 Wasser zum Wäschewaschen erwärmte und auf das Feuer nicht achtgab; der Wind blies die Flammen in die Oberstadt, die daraufhin vollständig abbrannte. Andere kreiiert er selbst, denn „Tourismus geht nicht ohne Geschichten”. Hochzeitspaare führt er gerne an die Schülertreppe, wo er der Braut scherzhaft einen  Treuetest nahelegt: 176 Treppen soll das Paar hinaufsteigen und an jeder innehalten, wobei er sie küsst und ihren Namen sagt. „Jeder Mann, der seine Liebste einmal betrogen hat, wird spätestens an der 69. oder 70. Stufe den falschen Namen erwischen. Wenn er dann nicht schnell eine Ausrede parat hat – etwa: ‘Ich wollte nur wissen, wie du reagierst’ – dann lass ihn lieber”, empfiehlt er der Braut. „Wenn er aber gewitzt reagiert, dann nimm ihn ruhig - denn dann kommt er auch in anderen schwierigen Situationen zurecht!” Vierzig Paare ließen sich bereits vom Stadttrommler trauen. Andere engagieren ihn, um das freudige Ereignis auf der Burg öffentlich zu verkünden.
Sein schönstes Erlebnis bisher? Vielleicht, als ihn seine Tochter Sara, heute acht Jahre alt, erstmals als Stadttrommler entdeckte! Oder aber, wenn mal wieder ein Schüler – immerhin hat er in Schäßburg bereits an 25 Schulen unterrichtet – mit breitem Grinsen stolz verkündet: „Mein Lehrer – das ist der Staaaadttrommler!”

„ProEtnica hilft mir sehr als Pädagoge“

Aus dem Mittelalterfest ist Dorin Stanciu nicht wegzudenken, ebensowenig wie aus dem multiethnischen Kulturfestival ProEtnica, das jeden August in Schäßburg stattfindet und wo er die Veranstaltungen auf der Bühne am Burgplatz moderiert. „ProEtnica ist einzigartig auf der Welt!” lobt er das von dem Deutschen Volker Reiter ins Leben gerufene Festival, das ein friedliches Miteinander der Kulturen fördern soll. „Was passiert sonst auf der Welt - Bomben, nicht wahr? Hierher aber kommen Jugendliche, um zusammen zu sein. Ein einzigartiger Erfolg für Rumänien – für Europa!” Schmunzelnd erinnert er sich an den Überraschungsauftritt des aus Rumänien ausgewanderten 88jährigen Juden, der sich nur zufällig während ProEtnica in Schäßburg befand. Als er mitbekam, um welches Fest es sich handelte, trat er auf den Moderator zu und bat ihn um einen kurzen Auftritt. „Ich hatte zuerst Angst, dass Volker sauer sein würde”, erinnert sich Stanciu.  Mutig und ein wenig anrührend stand der alte Mann dann auf der Festbühne und sprach von Frieden und Liebe. Ein Lied für den Frieden würde er gerne spielen, auf der Mundharmonika. Denn da, wo er herkommt, gibt es keinen Frieden und keine Freundschaft zwischen den Ethnien, wie hier... Erst später erfuhren wir, wer der Unbekannte war: Reuven Moşcovitz aus Israel, bekannter Pazifist und Gründer einer jüdisch-arabischen Dorfgemeinschaft.

„ProEtnica hilft mir auch sehr als Pädagoge“, bekennt der Kunstlehrer, dem es wichtig ist, Menschen zu vereinen, Kinder zu ermutigen und ihnen Vertrauen in die Gesellschjaft von Morgen zu vermitteln. „Habt Vertrauen in Gott, in euch und in alles, was ihr euch vornehmt, und sicher werdet ihr Erfolg haben” - auch im Lehrberuf ist dies sein Leitspruch. „Meine Stunden sind schön, vor allem im Zeichnen. Die Schüler lieben mich. Ich versuche, jedes Kind zu ermutigen und hervorzuheben, egal welcher Ethnie”, sagt Stanciu. „Durch das, was du erlebst, bist du besonders”, vermittelt er ihnen ständig. Und erzählt, dass seine Mutter ihn und die fünf Geschwister  ganz alleine aufgezogen hat. „Ich hab Zwiebel mit Brot gegessen, wie ihr.” - „Es ist egal, ob du Rumäne, Deutscher, Ungar oder Roma bist – ich liebe euch alle!” - „Wenn du an dich glaubst, muss dich nicht kümmern, was andere sagen.” - „Wir müssen positiv denken, das ist gut für die Seele.” So lauten seine Botschaften an die Schüler. „Aber es ist schwierig heutzutage als Lehrer”, bekennt er dann leise. „Viele Lehrer erfüllen ihre Aufgabe nicht, oder kommen erst 25 Minuten später zum Unterricht. Aber alles ist politisiert und man hat Angst, darüber zu sprechen...” Kraftvoll fügt er an: „Wenn ich Schulinspektor wäre, ich wäre sehr streng!”

„Nur der Charakter zählt!“

Auf dem Korridor des technischen Lyzeums sieht es aus wie in einer Kunsthochschule. Eine Ausstellung mit bunten Bildern und Zeichnungen auf zehn Paneelen ziert die Wände. Auch auf Face-book werden die Werke der kleinen Künstler gepostet. „Die Kinder sind motiviert“, freut sich Dorin Stanciu und erzählt, wie er auf eigenes Risiko einen Romajungen förderte, der zwar anfangs ziemlich frech war, aus Mangel an Zuneigung, wie er sagt, weil die Eltern zuhause fehlten. „Er stand erst ein wenig im Abseits, weil er Roma war, doch ich habe ihn ganz nach vorn gesetzt und seine Zeichnungen auch in der Ausstellung hervorgehoben, weil er sehr talentiert war. Da hat mich keine Meinung anderer interessiert” sagt Stanciu und bekräftigt, er habe auch Roma unterichtet, die heute an der Kunsthochschule studieren.

Schon in der Kindheit wurde ihm klar, dass nur der Charakter zählt. Aufgewachsen im multikulturellen Schäßburg – damals waren auch noch viele Sachsen da – beobachtete er aufmerksam und pickte sich von allen das beste Vorbild heraus. „Die Sachsen und die Ungarn machen Siebenbürgen erst ausgeglichen, gesellschaftlich, kulturell und mental”, davon ist er überzeugt. „Ich hatte mal einen achtjährigen ungarischen Schüler, wenn du dem sagtest, sei um drei Uhr hier, dann kam er um halb drei. Von ihm hab ich mir Pünktlichkeit abgeschaut - denn vorher wäre ich, wie alle Rumänen, um Viertel nach drei gekommen.” Auch gemischte Ehen hält er für wichtig. „Der Volker, der hat in Deutschland alles hinter sich gelassen und hat hier neu begonnen”, bemerkt er bewundernd. Mit dessen Frau ist Dorin Stanciu in unmittelbarer Nachbarschaft aufgewachsen.

Wie die Kindheit in Schäßburg war? „Wir haben oft Familie gespielt, Vater-Mutter-Kind, haben Häuschen gebaut und darin gegessen“, erinnert sich der gebürtige Schäßburger. Und lacht: „Viel hat sich nicht geändert, das mache ich heute noch - Spielen!“ Ein Glück, dass Ehefrau Laura seine Burgtrommler-Leidenschaft versteht.  Geschichten - nicht nur im Tourismus, auch zuhause sind sie manchmal wichtig. Zum Beispiel, wenn er das Töchterchen abends mit den Worten zu Bett bringt:  „Es war einmal ein Mädchen namens Sara, das war sooo brav und hat  nie einen Fehler gemacht.“ Dann korrigiert ihn die Kleine manchmal und erzählt... Und der Papa öffnet die Arme. „Jeder Fehler muss am Abend verziehen werden“, sagt er überzeugt. „Nie darf man verärgert ins Bett gehen“. Dann, nachdenklich: „Bosheit -  das ist die schlimmste Krankheit auf der Welt!“