Der Underground von Temeswar

Ein neues Buch stellt die unsichtbare Seite der Stadt vor

„Underground TM“ – ein Band über eine Stadt, die man gewöhnlich nicht sieht. Herausgeber: Cristian Vicol, Coverdesign: Ana Popescu Brumar Verlag, 302 Seiten, 55 Lei, ISBN 978-606-726-271-1

Mit der Innenstadt mit ihren schönen Plätzen, ihrer geschichtsträchtigen Architektur und ihren emblematischen Orten – wie auf dem Cover eines neuen Buches gezeigt – versucht Temeswar/Timișoara, genau wie jede andere Stadt, alle Blicke auf sich zu ziehen. Doch das, was eine Stadt lebendig macht – Geschichten, Geschehnisse und Legenden –  kommt erst weiter von der Stadtmitte entfernt ans Licht. 

Davon überzeugt ist Cristian Vicol, ein junger Temeswarer Schriftsteller, der weitere 18 Autoren aus der Bega-Stadt aufgefordert hat, die „unsichtbare Seite von Temeswar“ vorzustellen. Erzählungen aus dem Studentenleben vor Ort, über Kneipen und Leute, die nur den Bewohnern bestimmter Stadtteile bekannt sind oder von denen man nur flüchtig etwas gehört hat – so ist 2022 der gemeinsame Band „Underground TM – Ora{ul care nu se vede“ (zu Deutsch: Underground TM – die Stadt, die man nicht sieht) entstanden und vom Brumar-Verlag veröffentlicht worden. Der Band wurde Ende Januar 2023 in Temeswar lanciert und soll sowohl bei den hier Lebenden als auch bei den Stadtbesuchern, die eine andere, eigenartige Seite der Stadt entdecken wollen, für Interesse sorgen.

Der Temeswarer „Underground“ wird in diesem Band durch drei Generationen repräsentiert. Es gibt den Untergrund von vor 1990, der sich damals als Widerstand gegen den Kommunismus und als Suche nach Freiheit manifestierte, und es gibt den Übergangs-Untergrund der 90er und Anfang der 2000er Jahre, mit vielen Bars und Partys, der sich als Freiheit zu entfalten beginnt. Und dann ist da noch die Alternativszene von heute, die etwas raffinierter ist und sich aus dem städtischen Raum in den virtuellen Raum bewegt. Genauso wie die Texte sind auch die Schriftsteller verschiedenen Alters und man unternimmt zusammen mit ihnen, von einem Text zum anderen, unerwartete und überraschende Reisen durch eine Stadt, die uns offenbar allein oberflächlich bekannt ist. 

„Wie in einem Multiversum hat jede Stadt mehrere Identitäten, die sich manchmal überschneiden, sich aber meistens konzentrisch ausbreiten, von der Stadtmitte bis zum Stadtrand, jede mit ihrer eigenen Besonderheit. Im Allgemeinen handelt es sich um ein verblassendes Bild, dessen Farbe an Intensität zunimmt, je weiter man sich vom Kern entfernt. Der Kern liegt eher an der Peripherie, am geografischen, sozialen und kulturellen Rand, dem Teil, der auf den Fotos oder in den Werbespots nicht sichtbar ist. Da ist die Altstadt mit ihren vielen Terrassen, die gut beleuchtet sind, mit teuren Geschäften in alten Gebäuden, die von Menschen bevölkert sind, die auf den attraktivsten, aber immer gleichen Wegen spazieren gehen. In der Landschaft fehlen meist die widersprüchlichen, extravaganten und ehrlichen Persönlichkeiten, die der Gemeinschaft Originalität verleihen und die auf dem Weg nach draußen sind“, sagt der Schriftsteller und Herausgeber des Bandes, Cristian Vicol. 

Vicols eigener Text im Buch erzählt von der Undergroundszene Anfang der 2000er-Jahre und lässt den Domplatz in den Vordergrund rücken. „Viele Menschen erinnern sich noch daran, dass bis vor einigen Jahren der Domplatz nicht als Stadtzentrum betrachtet wurde, so wie wir ihn heute kennen, sondern ein Treffpunkt für viele junge Menschen war. Früher traf man sich – Rocker, Punker, Emos u.a. – am Brunnen vor der Domkirche. Mein Text spielt in der Papillion-Bar – für die meisten einfach ‚Papi‘ genannt. Diese Orte, wie viele andere im Buch, existieren nicht mehr, aber sie bleiben in der Erinnerung als Orte, die Geschichten und Ereignisse hervorbringen“, erzählt der Autor. 

Von der Innenstadt ausgehend kommt man in die Stadtviertel von Temeswar – von der Lippaer-Straße bis zum Dacia-Viertel, am Ufer des Bega-Kanals oder im Uni-Campus an.  In engen Wohnungen in Plattenbauten oder in gemeinsamen Höfen in der Fabrikstadt/Cartierul Fabric bilden die Leute, die sie bewohnen, Mikrogemeinschaften und lassen einzigartige Verhaltensweisen und Energien hervorbringen. Denn hinter diesen Plattenbauten gibt es noch urbane Helden, hier gibt es noch, improvisiert, in irgendeinem Hinterhof oder Keller, Bars für Rocker, Punker, Houser oder Manelisten. 

„Hier gibt es noch die rund um die Uhr geöffneten Kneipen, die Floh-, Drogen- und Sexmärkte. Hier schlafen die Bettler und verstecken sich die Verbrecher. Es ist das Rohmaterial, aus dem Geschichten entstehen – in schlecht beleuchteten Seitenstraßen, in Hinterhöfen und Ecken, in Treppenhäusern, zwischen Garagen, in schlecht eingerichteten Wohnungen, die von Vermietern für viel zu viel Geld vermietet werden. Es ist eine ständige Verhandlung zwischen den Machern und den Willigen“, so Cristi Vicol in seinem Vorwort zum Buch. 

Über all das und vieles mehr, haben also 19 Autoren, die in Temeswar geboren und aufgewachsen sind oder für die Temeswar eine Wahlheimat wurde, geschrieben: Sorin Băiaș, Emil Biebel, Adriana Cârcu, Tudor Crețu, Borco Ilin, Mugur Ioniță, Cosmin Leucuța, Alexandru Maniu, Goran Mrakic, Bogdan Munteanu, Daniela Rațiu, Lucian-Vasile Szabo, Adrian Petru Stepan, Traian Șoimu, Daniel Timariu, Marcel Tolcea, Vlad Marko Tollea, Andrei Ursu und Cristian Vicol. Jeder verwendet seine eigene Stimme, sein eigenes Verständnis und seine eigene Reaktion auf die Geschichten, Ereignisse, Orte und Figuren der unsichtbaren Stadt.

Die Buchvorstellung fand am 26. Januar, in der Buchhandlung „Esotera“, statt. Das Band ist in Buchhandlungen der Stadt erhältlich, kann aber auch online auf der Webseite des Herausgebers „Brumar“ (brumar.ro) bestellt werden.