Deutsche Sprachräume im Wandel der Zeiten

Von der nationalistisch inspirierten Standardsprache zu staatsungebundenen sprachlichen Raummustern

Gruppenfoto mit den Gastvortragenden Prof. Dr. Hermann Scheuringer (2.v.li) und Prof. Marianne Gruber (4.v.li), im Rahmen der Feierlichkeiten zum 25. Jubiläum der Österreich-Bibliothek, hier in den prachtvollen Räumen der Zentralbibliothek „Carol I.“ Mit im Bild: Prof. Dr. Mariana Lăzărescu (Univ. Bukarest), Leiterin der Österreich-Bibliothek Bukarest (3.v.li), Prof. Dr. Ioan Lăzărescu (Univ. Bukarest, 2.v.re), Elisabeth Marinkovic, Leiterin des Österreichischen Kulturforums (Mitte).
Foto: Natalia Andronachi

Erstmals wurden im Rumäniendeutschen vorkommende österreichische Wörter im Wörterbuch „Limba german˛ din Austria. Un dic]ionar German-Român / Österreichisches Deutsch. Ein deutsch-rumänisches Wörterbuch“, von Ioan L˛z˛rescu und Hermann Scheuringer, Verlage Stutz/Passau und Niculescu/Bukarest 2007/2008, ISBN 978-3-88849-982-1 und ISBN 978-973-748-180-1, besonders gekennzeichnet.

Unsere Sprache lebt. Doch was lebt, entwickelt sich weiter, passt sich an neue Bedürfnisse, an neue Lebensräume an. Man kennt dies aus dem rumänischen Alltag: Auch wenn wir in der Redaktion Deutsch miteinander sprechen, kann es vorkommen, dass auf einmal ein rumänisches Wort eingeflochten wird – das niemand korrigiert, weil es im Deutschen keinen wirklich treffenden Begriff dafür gibt oder weil es jeder versteht. Manchmal wird das Wort ein wenig eingedeutscht – ein „kompensiertes“ Medikament statt „compensat“ – oder zumindest deutsch ausgesprochen. Das Beispiel soll vor Augen führen, wie ein Wandel von Sprache in Abhängigkeit ihres Lebensraums vonstatten gehen kann.
Dass sich selbst die deutsche Hochsprache wandelt, welche Varianten heute bekannt sind – und dass wir uns in Rumänien einer eigenen deutschen Sprachvariante rühmen dürfen, erläutert der Philologe Prof. Dr. Hermann Scheuringer, Sprachwissenschaftler an der Universität Regensburg, der im Rahmen der Feierlichkeiten zum 25. Jubiläum der Österreich-Bibliothek am 31. März einen Gastvortrag in der Bukarester Zentralbibliothek „Carol I“ hielt.

Was ist überhaupt   „D/deutsch“?

Weil es unabhängig vom Dialekt tatsächlich Varianten im Hochdeutschen gibt – z. B. im österreichischen, schweizerischen, südtirolerischen, liechtensteinischen, luxemburgischen, ostbelgischen oder Deutsch in Rumänien, ja sogar innerhalb der Bundesrepublik von Nord nach Süd, in Bayern oder im Raum der ehemaligen DDR – wird oft großer Wert auf das Adjektiv „deutschsprachig“ anstelle von „deutsch“ gelegt. Einerseits, um dieser Diversität Rechnung zu tragen, aber auch, um die Sprache von der Landesbezeichnung zu trennen. Vor etwa 1000 Jahren beschrieb „D/deutsch“ eine Volkszugehörigkeit zur Unterscheidung vom Lateinischen, keine Sprach- oder Landesbezeichnung, wie der Vortragende erklärt. Heute hingegen ist das Wort „D/deutsch“ von dem versuchten Kampf geprägt, Sprache und Staatsgebiet in Übereinstimmung zu bringen und eine einheitliche „Standardsprache“ zu definieren.

Die Koexistenz paralleler „Standarde“ – im englischen Sprachraum, wo es nie Diskussionen über den vergleichenden Wert des britischen, kanadischen oder amerikanischen Englisch gab, eine Selbstverständlichkeit – schien deutschen Wissenschaftlern undenkbar. Im 19. Jahrhundert geriet die deutsche Rechtschreibung dann in die Idealisierung des Nationalstaates hinein, erklärt Scheuringer. 1876 gab es eine orthografische Konferenz in Berlin, vom preußischen Kultusminister Adalbert Falk einberufen, um eine einheitliche Rechtschreibung im Zweiten Deutschen Reich – gemeint ist das deutsche Kaiserreich von 1871 bis 1918, das nicht mehr römisches genannt wurde – herzustellen. Die Konferenz galt zwar als gescheitert, weil die Basis der Diskussion – ein Entwurf des Germanisten Rudolf von Raumer – wegen der als zu weitgehend kritisierten Änderungen nicht umgesetzt wurde. Dennoch gab im Zweiten Reich Preußen den Ton an und fixierte eine Rechtschreibnorm, die, wie Scheuringer es ausdrückt, „die Leute jahrhundertelang in ihrer Erhöhung plagte.“

Diversifizierung des deutschen Sprachraums

Erste Schrammen erhielt das sprachliche Einheitsgebäude nach dem Zweiten Weltkrieg: Die deutsche Schweiz und Österreich, die beide beim Nazismus „nicht dabei gewesen sein wollten“, so Scheuringer, begannen sich abzugrenzen durch Besinnung auf „identitätsstiftenden Dialektgebrauch“. Erstes offizielles Machwerk dieses Rückzugs seitens Österreich ist ein 1938 verfasstes, 1948 veröffentlichtes Buch über die Sprache des Österreichers. 1949, nach der Teilung Deutschlands, nahm auch die DDR eine staatspolitische Haltung zur Hervorkehrung einer eigenen deutschen Hochsprache ein. In den 1970er Jahren erlebte die Sprache dann eine Renaissance des Regionalen: „Weg mit den alten Zöpfen“, hieß es – gemeint war damit die Idee einer monozentrischen, einheitlichen Hochsprache. Neue Zauberwörter der Variationslinguistik wurden „plurizentrisch“ und „pluriarial“. Letzteres sollte andeuten, dass es staatsungebundene sprachliche Raummuster gibt. Das größte umfasst den gesamten deutschsprachigen Raum. „In diesem herrscht zu 95 bis 99 Prozent Übereinstimmung hinsichtlich der Wörter, Aussprache und Grammatik. Den Rest brauchen wir, um zu sagen, wir sind nicht die Gesamtmasse“, unkt der Philologe.

„Nur schlimmste politische Verrenkungen können aus einer Sprache mehrere machen“, fügt er an. Beispiele sind etwa Rumänisch und Moldawisch oder die aus politischen Gründen nach dem Zerfall Jugoslawiens entstandenen Sprachen Serbisch, Kroatisch, Montenegrinisch und Bosnisch, die demselben Sprachsystem angehören. Sprachräume innerhalb des deutschen Gesamtraums sind etwa Norddeutsch und Süddeutsch mit hochsprachlichen Unterschieden in der Verwendung gewisser Wörter: etwa Junge statt Bub oder Sonnabend statt Samstag. Der österreichisch-bayrische Sprachraum grenzt sich durch die gemeinsame Verwendung des Wörtchens „heuer“ statt „dieses Jahr“ vom übrigen Deutschen ab. Auch diesen Raum kennzeichnet eine weitere Spaltung: In Österreich heißt es z. B. „Schularbeit“, in Bayern „Schulaufgabe“.  Des Weiteren gibt es staatsgebundene Wörter, Spezialbegriffe im Handels- oder Amtsdeutsch: In Deutschland heißt es „Lehrmittelfreiheit“ und „Wehrpflichtiger“, in Österreich „Schulbuchaktion“ und „Präsenzdiener“. Mit der Flüchtlingskrise kamen neue Begriffe hinzu: „Asylwerber“ in Österreich, „Asylbewerber“ in Deutschland. „Alles Hochsprache-Wörter, die man nicht auf Dialekt zurückführen kann“, präzisiert Prof. Scheuringer.

Eng verwandt: österreichisches und Deutsch in Rumänien

Seit 1951 steht das österreichische Wörterbuch, eine Initiative des österreichischen Unterrichtsministeriums, als amtliches Regelwerk in Österreich über dem Duden. Auch im öffentlichen Bewusstsein ist österreichisches Deutsch eine starke Größe geworden. Bekannte typische Wörter sind „Paradeiser“ statt Tomaten, „Erdäpfel“ statt Kartoffeln, „Karfiol“ statt Blumenkohl – oder die „Trafik“, eine Verkaufsstelle für Tabak- und Papierwaren. Das Wort kommt zwar auch im Tschechischen und Südslawischen vor, im Deutschen jedoch ausschließlich in Österreich. Dem österreichischen Deutsch steht das Rumäniendeutsche sehr nahe, erklärt der Sprachforscher weiter. Einige Wörter der rumäniendeutschen Sprache sind dem österreichischen Deutsch entlehnt: wie „Fleischhauer“ (Metzger), „sich tummeln“ (beeilen), „Rauchfangkehrer“ (Schornsteinfeger), „Gelse“ (Mücke), „Spital“ (Krankenhaus), „Jause“ (kalte Zwischenmahlzeit),  „Kassa“, der „Gegenstand“ (das Unterrichtsfach in der Schule). „Die Siebenbürger Sachsen hatten seinerzeit keine Hochsprache mit ins Land gebracht. Diese kam erst später aus Österreich daher und sie haben sie aufgenommen“, erklärt der Philologe.

Erstmals wurden im Rumäniendeutschen vorkommende österreichische Wörter im Wörterbuch „Limba germană din Austria/Österreichisches Deutsch“ von Prof. Dr. Ioan Lăzărescu vom Institut für Germanistik der Universität Bukarest und Prof. Dr. Hermann Scheuringer speziell gekennzeichnet. Die erste Auflage war 2007 in Kooperation zwischen dem Karl Stutz Verlag in Passau und dem Niculescu Verlag in Bukarest erschienen, 2008 folgte eine unveränderte Neuauflage, weil die erste schnell vergriffen war. Darin wird spezifiziert, dass die meisten deutschsprachigen Gebiete Rumäniens – Siebenbürgen, das Banat, das Sathmar-Gebiet, die Maramuresch und auch die Bukowina – bis Ende des Ersten Weltkrieges zur Habsburgermonarchie gehörten. So stand auch die siebenbürgische Verwaltungssprache – trotz Reformation – vor allem nach der Einführung der Theresianischen Reform unter dem Einfluss der Wiener Kanzlei. Jahrhundertelangen österreichischen Einflüssen war auch die „Schulsprache“ ausgesetzt, zumal die siebenbürgische und die Banater Intelligenz vorwiegend an österreichischen Universitäten studierte.

Rumäniendeutsch –  mehr als Süddeutsch-Österreichisch

„Allerdings ist rumänisches Deutsch deutlich mehr als Süddeutsch-Österreichisch“ betont Scheuringer. Spezifische Begriffe sind etwa „Aufboden“ statt Dachboden, „Akademiker“ statt Akademiemitglied, „Programm“ statt Öffnungszeiten, „Amphitheater“ statt Hörsaal, „Autobahnhof“ statt Busbahnhof, „Bakkalaureat“ statt Abitur/Matura, „Kontrollarbeit“ statt Klassenarbeit, „Kabinett“ statt Praxis, „kompensiert“ für staatlich subventionierte Medikamente oder Sachrumänismen wie das „Märzchen“ (mărţişor). Weitere Beispiele sind „Lyzeum“, „Mikrobus“, „Bierfabrik“, „Muskelfieber“ (Muskelkater), „Schmutzkorb“ (Mülleimer), „planifizieren“ oder „ultrazentral“. Im Ganzen soll es etwa 150 typisch rumäniendeutsche Wörter geben. Die Verwendung derselben sei also völlig korrekt. Doch wie tragfähig ist das Rumäniendeutsche? Scheuriger gibt zu bedenken: „Was hier seit dem Exodus (der Rumäniendeutschen) fehlt, ist die gesellschaftliche Position des rumänischen Deutschen“. Denn trotz großer historischer Tiefe – ca. 900 Jahre Siebenbürger Sachsen und 300 Jahre Banater Schwaben – fehlt die demografische und geografische Basis. Keine einzige Region Rumäniens ist heute mehrheitlich von deutschen Muttersprachlern besiedelt.

Auch hat für die Deutschen in Rumänien – im Gegensatz zu vielen Ungarn – Rumänisch längst den Status einer Muttersprache erlangt, weswegen es einer gewissen Anstrengung bedarf, das Deutsche beizubehalten. Was zudem fehlt, ist ein eigener Kodex. Allerdings gibt es in Deutschland ein Variantenwörterbuch, in dem seit 2016 zumindest 100 Wörter aus dem rumänischen Hochdeutsch vertreten sind. Explizit lobt der Vortragende die hervorragenden infrastrukturellen Komponenten in Rumänien: das muttersprachliche deutsche Schulwesen, auch wenn mehrheitlich von Rumänen besucht; die ADZ als Tageszeitung, die vorwiegend für Einheimische und nicht nur für Expats gemacht ist – „wichtig ist, dass sie weiterbesteht“, wirft er ein; ein reges Verlagswesen mit Publikationen in deutscher Sprache und staat-licherseits eine hohe Toleranz den Minderheiten gegenüber. „Insofern wächst hier eine neue Bildungsschicht heran, mit neuen Einflüssen“, erklärt der Philologe. So ist auch das Hochdeutsch in Rumänien zumindest bis auf Weiteres ein entwicklungsfähiges, lebendiges Gebilde.