Die bildgewordenen Traum- und Magiekabinette der Surrealisten

Das Museum Barberini in Potsdam präsentiert eine überwältigende Werkschau, die das Interesse der Surrealisten an Magie, Mythos und Okkultismus in den Blick nimmt

Brauner: „Surrealist“ Fotos: museum-barberini.de/presse

Carrington: „The Necromancer“

Ernst: „Einkleidung der Braut“

Magritte: „Schwarze Magie“

Varo: „Himmlischer Brei“

Fini: „Ends of the Earth“

Der Surrealismus, seit den 1920er Jahren sich entwickelnd, war von dem Wunsch nach absoluter Freiheit beseelt. Nach den Schrecken und Zwängen des Ersten Weltkrieges wollte er die Menschen befreien, sie erretten, versprach Erlösung, wenn man nur an sie glaubte. Was hier verkündet wurde, war nicht der Glaube an die Moderne oder gar an die Technik. Die Kunst und das Leben konnten sich nur erneuern, wenn sie in verbotene Bereiche des Geistes eindrangen – das Unterbewusstsein. Das Unterbewusstsein würde unser Weltgefühl dadurch erneuern, dass es ein Netzwerk von verborgenen Beziehungen offenbare, das sich unter der Oberfläche des Bewusstseins verbirgt. Zufall und Erinnerung, Geheimnisse und Sehnsüchte, Melancholie und Angst, Begierde und Koinzidenz würden in einer neuen Realität – der Sur-Realität, der Überwirklichkeit – zusammenkommen. Das Instrument dazu bot der Traum als eine Metapher für das Unbewusste, das Irreale, aber auch das Magische, Okkulte – sie waren das Tor zur Kunst. In den Träumen sprach das Es, der träumende Geist war für die Surrealisten uneingeschränkte Wahrheit.

In Kooperation mit der Peggy Guggenheim Collection in Venedig zeigt das Museum Barberini in Potsdam eine erste umfassende Werkschau der Welt des Traums, der Magie, des Mythos und Okkultismus, wie sie die Surrealisten Bild und Objekt werden ließen. Mehr als 90 Arbeiten von ungefähr 90 Künstlern, Schlüsselwerke, aber auch weitgehend Unbekanntes, neu zu Entdeckendes sind mit Bedacht aus internationalen öffentlichen wie auch Privatsammlungen zusammengetragen worden. Schreitet man durch die Potsdamer Ausstellungsräume, dann entfaltet sich der ganze magische Zauber surrealistischer Darstellungsweise: Die Figuren sind in ständiger Verwandlung begriffen, ein Spiel mit den Identitäten findet statt, in denen der Künstler ebenso als Geschöpf und Schöpfer in Erscheinung tritt. Es geschehen unzählige Metamorphosen und überraschende Begegnungen an ungewöhnlichen Orten, poetische Traumbilder wie auch die Ungeheuer des Unbewussten werden beschworen, die prekäre Erstarrung der konvulsivischen Schönheit und das Wunderbare bleiben keineswegs außen vor. Zufall und Kontrolle mischen sich; aus dem Unbewussten geschaffen, sind gleichsam absichtsvoll gestaltete Formen herausgekommen.

Die Surrealisten diskutierten das Versagen der europäischen Zivilisation. Chiricos „Beängstigender Vormittag“ (1912): Erstarrt, leblos, sogar tonlos liegt eine Stadtlandschaft, auf der ein Schatten liegt und die Komposition noch weiter verdüstert. Dagegen „Gehirn des Kindes“ (1914): Ein Mann brütet geschlossenen Auges vor sich hin: Was verschließt er in seinem Innern? Chirico spricht im Unterbewusstsein archetypische, längst vergessene oder verdrängte Erinnerungen an und sucht sie wieder ans Licht zu bringen. Während in Paul Delvaux‘ „Anbruch des Tages“ (1937) weibliche Mischwesen als heidnische Priesterinnen ihre mythischen Kräfte für die Natur aufwenden, erhebt René Magritte in dem Zyklus „Schwarze Magie“ (1945) die Frau auf andere Weise ins Sakrale: ihre versteinerte obere Hälfte taucht er in das Blau des Himmels und des Meeres, was visuell einen Fernblick schafft, der das Gesicht durchscheinend und „unwirklich“ anmuten lässt, und ihren Unterkörper gibt er realistisch in ihrem Inkarnat wieder. Yves Tanguys okkulte Landschaftsdarstellungen widerspiegeln eine unheilvolle Welt und auch Dalis „Melancholische Atom- und Uranidylle“ (1945) ist erstaunlich, stellt sie doch eine Reaktion auf den Einsatz der Atombombe bei den US-amerikanischen Angriffen auf Hiroshima und Nagasaki dar.

Eine wahre Ikone des Surrealismus ist Max Ernsts „Einkleidung der Braut“ (1939): Die Maske der Eule mit ihrem starren Blick und ein purpurrotes Gewand verbergen einen makellosen Frauenkörper, der sich – als Bild im Bild – magisch im Hintergrund widerspiegelt. Es ist eine Dedikation an die damalige Partnerin des Künstlers, die englische Surrealistin Leonora Carrington, die er als schöne Hexe darstellte und die damit den Zustand des Surrealen schlechthin verkörperte. Der grüne Schwan an ihrer Seite, dient er seiner Herrin oder bedroht er sie mit einem gebrochenen Pfeil? Mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges 1939 war Max Ernsts optimistischer Glaube an die menschliche Vernunft gebrochen worden, und so mischen sich hier Motive, Gefühle und Gedanken, Obsessionen und Ängste, seine Beziehung zu Frauen, die Aggressionen des Mannes, die poetische Vorausschau der furchtbaren Nacht, die über Europa hereinbrach und ihn zur Flucht in die USA zwang. Ein Bild also, in dem sich Prophezeiung, Erotik und Surrealismus vereinen. Zeigte die Landschaft vorher bei Max Ernst noch lebenstrotzendes Wuchern, so ist sie jetzt von selten schöner Trockenheit der Malweise, dominieren scharf kristalline Formen, zu denen Vegetation und Tiere erstarrt  zu sein scheinen („Europa nach dem Regen II“, 1940-42). Seine unheilvollen Naturszenerien sollten das Grauen des Zweiten Weltkrieges versinnbildlichen.

Auch der Schweizer Kurt Seligmann, der dann auch aus Paris in die USA emigrierte – ihm ist ein ganzer großer Raum gewidmet – hat sich immer wieder mit dem Trauma von Krieg und faschistischem Terror auseinandergesetzt. „Teufel und Narr“ (1940-43) geht auf das Tarot-Spiel zurück, ihren Figuren gibt er eine neue, keineswegs okkulte Deutung, denn sie appelliert an die Verantwortlichkeit des Individuums: Sorglos schaut der Narr in den Himmel, während ihm der Teufel förmlich schon im Nacken sitzt. Durch ein besonderes automatisches Verfahren erzeugte der Künstler Zufallsformen, die den Eindruck von durch das Bild peitschenden Stürmen erzeugen und so eine Metapher für irrationale Triebkräfte sind, die dem menschlichen Handeln zugrunde liegen. In „Die ungebetenen Gäste“ (1943) ziehen gesichtslose, skelettierte Groteskfiguren - einem Totentanz gleich - durch das Bild, den Einmarsch der deutschen Truppen in Frankreich versinnbildlichend.

Victor Brauners „Der Surrealist“ (1947), Sinnbild aktiver Willenskraft und Schaffensdranges, mit rituellen Gegenständen ausgestattet, mag wohl auch als Selbstermutigung des Künstlers angesehen werden, denn er hatte sich als Jude im von den Deutschen besetzten Paris unter Lebensgefahr befunden  und musste vor ihnen flüchten. Dagegen sind seine „Liebenden“ (1947), den Tarot-Karten zufolge Magier und Priesterin, zu einer Einheit der Gegensätze, zu einem Zustand perfekter Harmonie vereinigt worden.  

Die männlichen Repräsentanten des Surrealismus sind uns eigentlich wohlvertraut. Dass aber Leonor Fini, Leonora Carrington, Remedios Varo, Kay Sage – doch fehlt die Berlinerin Unica Zürn – ein beeindruckendes surrealistisches Werk hinterlassen haben, macht uns diese Ausstellung erst so richtig bewusst. Die Surrealistinnen gingen von der Selbstvergewisserung der eigenen weiblichen Identität und des eigenen Körpers (Selbstbespiegelung) zum Spiel mit den Identitäten über. Sie verwandelten sich – keineswegs nur, um dem Wunschbild ihrer männlichen Kollegen zu entsprechen - in schöne Hexen und geheimnisvolle Magierinnen, die den Schlüssel zum Unbewussten und zum Traum in ihren Händen halten. Aber die Frau wird nicht zum Fetisch-Objekt des männlichen Blicks, sie entzieht sich seiner Vereinnahmung, präsentiert nur ihre wunderschöne Hülle. „Spannung“ (1936) von Dorothea Tanning: Der anonyme nackte Frauenkörper wehrt die voyeurhaft nur durch ein Augenpaar auf ihn gerichteten männlichen Blicke ab.

Fini und Carrington malen sich selbst, inszenieren sich als mit dunklen Urgründen und geheimnisvollen Kräften im Bunde, mit dem Magischen, Irrationalen, Okkulten. Dabei beharren sie, anders als die männlichen Surrealisten, auf der Integrität des weiblichen Körpers, denn eine Zerstückelung oder Fragmentierung wäre einer Selbstzerstörung gleichgekommen. Die Künstlerin ist hier Subjekt und Objekt, Betrachterin und Zu-Betrachtende, Ak-teurin und Regisseurin zugleich. Leonor Finis wie „eingefrorene“ Szenarien entsprechen genau dem konvulsivischen Schönheitsideal der Surrealisten. In der Spanierin Remedios Varos Bild „Himmlischer Brei“ (1958) sitzt eine Frau als magisches Wesen eingeschlossen  in einem über den Wolken schwebenden Gehäuse und versorgt den in einen Käfig gesperrten kranken Mond mit Sternenbrei – Ausdruck nicht nur für die kosmische Verbundenheit des Menschen, sondern zugleich der Willkür der unkontrollierbaren höheren Kräfte  des Universums, denen der Mensch ausgesetzt ist.

Die beiden Amerikanerinnen Kay Sage und Dorothea Tanning waren über eine Liebesbeziehung zu bekannten Surrealisten – zu Yves Tanguy die eine und zu Max Ernst die andere – in deren Kreise gekommen. Es sind Chiricos isolierte Formen, seine harten Schlagschatten, die illusionistischen Perspektiven, die die surrealistischen Gemälde von Kay Sage prägen. Aber in ihrer auffälligen Monumentalisierung weisen sie eine eigene, sehr konstruktive Bildsprache voraus, bei der sich die Magie ausschließlich aus den Gegenständen selbst entfaltet. So auch in „Morgen ist nie“ (1955), in der trostlos windende, an Leichentücher erinnernde Stoffe in hölzernen Turmgerüsten wie in einem magischen Gefängnis verschlossen sind. Nicht nur Tod und Vergänglichkeit werden hier beschworen (Kay Sages Ehepartner Yves Tanguy war unerwartet an Hirnschlag verstorben), sondern auch das lähmende Gefühl jeder freien individuellen Entfaltung. Mit der klaus-trophobischen Szenerie ihrer perspektivisch verzerrten Chirico-Räume fand Dorothea Tanning das alle Stilphasen prägende Thema: Gewalt und Geschlecht, Zivilisation und Rebellion.

Obwohl der Surrealismus als Kunstbewegung schon lange vor 1966, dem Todesjahr André Bretons, des Begründers der Bewegung, zu Ende gegangen war, hinterließ er einen reichen Schatz an Ideen für die Künstler der folgenden Jahrzehnte. In dieser so facettenreichen Ausstellung kann man überraschende Entdeckungen machen, ungewöhnliche Assoziationen herstellen, einen imaginären Dialog zwischen den Zeiten und Welten führen, aber auch Verunsicherungen, Unstimmigkeiten, Befreiungen und Verwirrungen im Leben und Schaffen der Surrealisten nacherleben. Ihr „Schönheitsideal“ war eine Schönheit des Seltsamen, des lustvollen Spiels wie auch des Bösen, der Schreckgesichte, in jedem Fall aber der Selbstbehauptung und des fragmentarischen modernen Ichbewusstseins, die aus unerwarteten Zusammenstellungen von Worten, Klängen, Bildern, Zeichen, Dingen und Personen entstanden war – entsprechend dem Leitwort des französischen Dichters Lautréamont: „Schön wie die zufällige Begegnung einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch“.

Surrealismus und Magie. Verzauberte Moderne. Museum Barberini, Potsdam, Alter Markt. Bis 29. Januar 2023. Katalog (Prestel Verlag) 34 Euro, im Buchhandel 42 Euro.