Die Dialektik – Pfeffer und Salz der Dichtung

Zum dreisprachigen neuen Gedichtband von Edith Ottschofski „Clipe, Augenblicke, Clins d´oeil“

Nora Iuga auf dem Cover ihres Bandes „Hörst du das Weinen der Paranthesen“

Der neue Gedichtband „Clipe, Augenblicke, Clins d´oeil“, den Edith Ottschofski diesmal dreisprachig im Verlag „Casa de pariuri literare“ in Bukarest veröffentlichte, ist für mich eine wahrhaftige Überraschung. Die französische Fassung zeichnet Alain Jadot, die rumänische, wie diese Vorstellung, Nora Iuga. 

Obwohl die Gedichte, was deren Auffassung und Sprache anbelangt, von Kopf bis Fuß dem Minimalismus treu bleiben, einer Strömung, die schon seit über einem Jahrzehnt die Bühne der Poesie in Besitz genommen hat, wirkt der neue Band „Clipe, Augenblicke, Clins d`oeil“ auf den Leser äußerst originell, da die Figuren, die im Buch auftauchen, durch die (Fremd-) Sprachen, in denen sie vorgestellt werden, visuell und auditiv neue Valenzen erhalten. 

Wir werden also in ein Panoptikum versetzt, genauer gesagt: in einen Kinosaal. Vielleicht bin ich sehr subjektiv (wie jeder Dichter), aber wenn ich Literaturkritik betreiben würde, könnte ich wegen meines poetischen Subjektivismus fehlschlagen. 

Ich habe Edith Ottschofkis Band nicht nur durchgeblättert – der Übersetzer ist der zweite Autor des Textes –, und in der Folge habe ich mir den Band wie eine Theaterbühne vorgestellt, die aus zwei Räumen besteht. In einem Raum tauchen nur die Gäste auf, in dem anderen nur das lyrische Ich. Hier der Autor – dort die Schauspieler.

Der erste Teil trägt den Titel „flüchtige begegnungen“. Nach „französisch angehaucht“ ist der nächste größere Teil ein Auszug aus Edith Ottschofskis Band „im wohlklang unverhohlen“. Das letzte Gedicht ist ein skeptischer Text, ein Pastiche nach Ernst Jandl, mit dem Titel „oder wer“, ein Hin-und-Her-Pendeln zwischen Ja und Nein.

Im ersten Teil, „flüchtige begegnungen“, der sich auch wie eine Fotoausstellung anfühlt, beginnen plötzlich die Figuren aus den Porträts – meist sind es Frauen – wie auf dem Laufsteg einer Modeparade zu defilieren. Aber die meisten der Models sind unterwegs, immer beschäftigt, immer mit Gepäck, in der Tram, in der S-Bahn, oder weiß der liebe Gott in welchem Verkehrsmittel. Das Leben pulsiert in diesen Porträts. Der Leser wird hier nicht zum bloßen Beobachter einer Fotoausstellung oder einer Modenschau, er wird zum Begleiter dieser Frauen auf ihren täglichen Fahrten. Zunächst werden uns die Frauen, die das Bild beleben, beschrieben: Haare, Augen, Schmuck, Kleidung, Handtasche und Gepäck. 

Der Fotoapparat erfasst nicht die Gedankenwelt dieser Personen. Die Oberfläche ist das, was man sieht. Die Fläche darunter bleibt unsichtbar und ist stets im Gegenlicht. Nur zum Schluss, wenn das Auge des Betrachters alle physiognomischen Einzelheiten des Porträts wahrgenommen hat, kommt das Ungesagte, Ungeahnte, das nichtgezeigte Antlitz des Fotomodels zum Vorschein. Die Schattenseite des Models wird ent-larvt.

Ein gewisse Dialektik, eine strenge Regel, leitet die Welt, daher auch jede einzelne Person. Deshalb sind wir nicht, was wir zu sein scheinen (wollen), sondern das Gegenteil davon. Die meisten Gedichte im Zyklus „flüchtige begegnungen“ wirken daher vom Anfang an auf uns wie ein Köder – zum Schluss, wenn wir angebissen haben, offenbart sich uns die Wahrheit: Alles ist verkehrt. Die Dame mit den Dauerwellen und Goldkreolen liest eifrig „einen schundroman“, oder sie „schwirren in die späte tram/ eine handvoll mädchen/ setzen sich eine auf den schoß der anderen… chatten, twittern, texten“ und am Ende sind sie in langen Röcken eingekleidet: „den kopf auch keusch/ betucht“ oder „die haare streng gekämmt … die jeanshose ist nur/ an beiden knien eingeritzt/ petite liberté“. Äußerst interessant finde ich den Schlussakkord in jedem Gedicht, der immer das ungeschminkte Gesicht des Schauspielers zeigt.

Die zweite Hälfte des Bandes habe ich als das Zuhause der Autorin empfunden. Dort ist sie bald in Deutschland, bald in Temeswar, der Stadt ihrer Kindheit. Dort lebt Frau Schmidt, wahrscheinlich eine Nachbarin, die das Hendl tranchiert, während die Freundin sich feinmacht für den Kirchgang. Dort ist die Rede von einer schlaflosen Nacht … in Paris brennt Notre Dame, oder aber „in der hängematte unter einem anderen nussbaum/ …das kind spielt im garten/ die mutter fegt den hof… heimelig, trautfremd/ wo jetzt mein zuhause ist“. 

Jedes Bild kann man auf der Vorderseite oder auf der Kehrseite wahrnehmen. Alles zeigt sich hier positiv oder negativ, oder beides gleichzeitig. Und wieder gibt es das Pendeln zwischen dem Hier und dem anderen Hier, „du kuschelst dich in/ deine wahnwelt ein/ jetzt/ willst du gott sein/ …jetzt/ schießen dich die russen tot/ jetzt/ o hybris/ gibt es kein/ beseeligtes zurück“.

Die Alltagssprache, die eher für die Prosa geeignet ist, erweckt das Interesse des Publikums. Man hat den Eindruck, dass jedes Gedicht auf einem Bildschirm wie ein Film abläuft, die Szenen laufen mit. Neugierde und Erwartungen wachsen. Der Leser will sehen, will verstehen, er hat keine Zeit mehr für´s Verstecken-Spielen. Das ist das Geheimnis der gegenwärtigen Poesie, das Edith Ottschofski wunderbar beherrscht… Doch der Dichter hat auch in diesem Fall seine Geheimnisse. Letzten Endes verrät jedes Gedicht seine Botschaft… denn seine Botschaft ist seine Pflicht.

Ich könnte noch viel mehr über die Vielfalt einer solchen Poesie, die auf den ersten Blick einfach scheint, erzählen. Der Dichter bleibt auch hier die Hauptgestalt. Die innere Musik, die ohne Hilfe des Reims und des Rhythmus‘, nur durch das zufällige Aufeinandertreffen wahlverwandter Silben urplötzlich entsteht „und wenn ich dein augenblau blick´/ bläust du es mir/ ein“ oder das Farbenspiel zwischen Augengrün, Augenblau und Augenbraun… die Farben wechseln und spielen miteinander im selben Gedicht. 

Am liebsten schließe ich deshalb mit einem Zitat aus dem kurzen Pastiche nach Ernst Jandl. Es wirkt wie ein Selbstporträt der Dichterin Edith Ottschofski auf uns ein: „ich bin nicht gerne, wer ich bin/ ich wäre nicht gerne, wer ich nicht bin/ ach, wäre ich gerne, wer ich nicht bin/ wäre ich lieber, wer ich bin“.

Diesen Band ins Rumänische zu übersetzen war mir ein „Volksfest“, um es mit den Worten meines früheren Chefs bei der Zeitschrift „Volk und Kultur“, Franz Storch, zu sagen… Ich empfehle diesen Leckerbissen allen Poesieliebhabern!

Nora Iuga, die Grande Dame der rumänischen Poesie und nach wie vor eifrige und scharfsinnige Essayistin, hat diese Vorstellung des dreisprachigen Gedichtbands „Clipe, Augenblicke, Clins d´oeil“ der aus Temeswar stammenden und in Berlin lebenden Lyrikerin Edith Ottschofski im Rahmen der Deutschen Literaturtage von Reschitza – 26.-29. August 2020 – gemacht und der ADZ freundlicherweise zur Veröffentlichung überlassen.