Die jungen Jahre der Alten Meister

Werke von Baselitz, Kiefer, Polke und Richter in der Staatsgalerie Stuttgart

Im 1985 erschienenen und vom Verfasser selbst als Komödie bezeichneten Roman „Alte Meister“ aus der Feder des österreichischen Schriftstellers Thomas Bernhard steht der paradox anmutende Satz: „Alle diese sogenannten Alten Meister sind ja Gescheiterte, ohne Ausnahme sind sie alle zum Scheitern verurteilt gewesen und in jeder Einzelheit ihrer Arbeiten kann der Betrachter dieses Scheitern feststellen, in jedem Pinselstrich.“ Mit ihrer Ausstellung über die weltberühmten deutschen Künstler Georg Baselitz, Anselm Kiefer, Sigmar Polke und Gerhard Richter, die von dem renommierten Kunsthistoriker Götz Adriani als Gastkurator betreut wird und noch bis zum 11. August besichtigt werden kann, stellt die Stuttgarter Staatsgalerie jedoch nicht die Frage nach dem Vermächtnis dieser Alten Meister der Gegenwartskunst, sondern vielmehr die Frage nach deren künstlerischem Aufbruch in der zeitgeschichtlichen Epoche der „zornigen jungen Männer“.

Rund 100 frühe Arbeiten der genannten deutschen Maler, Grafiker, Bildhauer und Fotografen vor allem aus den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts gewähren einen künstlerischen Einblick in die Dekade der Studentenbewegung mit ihren Herausforderungen und Umbrüchen, ihren Utopien und Neuorientierungen, ihren Widersprüchen und Protesten. Auch wenn sich Baselitz, Kiefer, Polke und Richter damals nicht explizit als politische Künstler verstanden, so besitzen ihre in jungen Jahren entstandenen Werke doch deutlich politische Implikationen. Außerdem forderten ihre figurativen Bilder aus den sechziger Jahren die abstrakten künstlerischen Strömungen heraus, welche die Malerei jener Zeit dominierten.

Ein provokantes Beispiel für die politische Stoßrichtung der Kunst in den jungen Jahren dieser Alten Meister ist etwa Anselm Kiefers künstlerische Auseinandersetzung mit dem nach dem Ende des Dritten Reiches unter Strafe gestellten Hitlergruß. Gemälde und Fotografien des kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs geborenen Künstlers zeigen ihn, wie er in freier Landschaft, am Gestade des Meeres, auf Alleen, vor Gebäuden, Denkmälern und Standbildern in Deutschland wie im Ausland den Deutschen Gruß, der eigentlich ein Römischer Gruß ist, ausführt, bekleidet mit Teilen der Uniform (Reithose, Reitstiefel, Militärmantel) seines Vaters, welche dieser als Offizier an der Front getragen hatte. Das Ölgemälde „Heroisches Sinnbild VIII“ aus dem Jahre 1970, das den Künstler im Ganzkörperselbstporträt zeigt, wie er im Militärmantel dem unter einem Baldachin sitzenden Papst den Hitlergruß entbietet, spielt deutlich genug auf Rolf Hochhuths Dokumentartheaterstück „Der Stellvertreter“ aus dem Jahre 1963 an, das Papst Pius XII. der Mitschuld am Holocaust bezichtigte und das bei der Uraufführung in Berlin wie auch bei den bald folgenden Erstaufführungen in Deutschland wie im Ausland veritable Theaterskandale mit Tumulten und Handgreiflichkeiten auslöste. Weitere Gemälde von Anselm Kiefer haben einen religiösem Bezug, darunter das im Besitz der Staatsgalerie Stuttgart befindliche Werk „Glaube, Hoffnung, Liebe“ aus dem Jahre 1973 (Kohle und Collage mit Hasenblut auf Rupfen), oder beschäftigen sich mit historischen Themen, darunter die Holzschnitte aus Kiefers Buch „Die Hermanns-Schlacht“ aus den Jahren 1977/1979, die allesamt vom weit gespannten geistes- und kulturgeschichtlichen Bewusstsein des heute vierundsiebzigjährigen Künstlers zeugen.

Die Kunst Gerhard Richters war erst vor Kurzem in aller Munde, weil der deutsche Regisseur Florian Henckel von Donnersmarck unter dem Titel „Werk ohne Autor“ einen Film über die Lebensgeschichte des 1932 in Dresden geborenen Malers, Bildhauers und Fotografen gedreht hat, der sowohl für den Golden Globe als auch für den Oscar nominiert wurde. In der Stuttgarter Ausstellung sieht man nicht nur Beispiele von Richters fotorealistischen Arbeiten aus den sechziger Jahren, darunter die Ölgemälde „Bomber“, „Phantom Abfangjäger“ oder „Motorboot“, sondern auch malerische Werke, die auf Vorbilder in der Kunstgeschichte verweisen, wie etwa das Ölgemälde „Vögel“, das wie ein schwarz-weißes Negativ von Vincent van Goghs Krähenbildern wirkt. Ölbilder wie „Familie Schmidt“, „Sekretärin“, „Faltbarer Trockner“ oder „Familie am Meer“ zeigen die Lebenswelt der Wirtschaftswunderzeit, über die Hans Magnus Enzensberger in seinem Gedicht „landessprache“ (1960) folgende Verse dichtete: „was habe ich hier? und was habe ich hier zu suchen, / in dieser schlachtschüssel, diesem schlaraffenland, / wo es aufwärts geht, aber nicht vorwärts“. Und Gerhard Richters Ölgemälde mit einer Stadtansicht von Paris aus dem Jahre 1968 evoziert Bilder von im Zweiten Weltkrieg zerbombten Innenstädten, und auch dieses großformatige Gemälde könnte man mit Versen aus dem bereits zitierten Enzensbergerschen Gedicht kommentieren: „hier lasst uns hütten bauen, / auf diesen arischen schrotthaufen, / auf diesem krächzenden parkplatz, / wo aus den ruinen ruinen sprossen, / nagelneu, ruinen auf vorrat, auf raten, / auf abruf, auf widerruf“.

Sigmar Polke, den eine enge Freundschaft mit Gerhard Richter verband und der als einziger der vier in Stuttgart präsentierten Alten Meister bereits verstorben ist, setzte sich ebenfalls mit der Konsum-, Wohlstands- und Wirtschaftswunderwelt im Deutschland der sechziger Jahre kritisch wie ironisch auseinander. Seine Dispersionsbilder tauchen Werte wie Familie oder Freundschaft in ein geisterhaftes Licht; Zerstreuungsphänomene wie Zirkus oder Mode werden von Sigmar Polke künstlerisch verfremdet und bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Auch Alte Meister der Kunstgeschichte werden von dem 1941 in Niederschlesien geborenen Maler und Fotografen beerbt: Dürers berühmter „Feldhase“ (1502) kehrt in Polkes Werk als Dispersionsbild wie auch als Gummibandbild wieder. Von großer künstlerischer Kraft sind ferner Polkes Reiher- und Flamingobilder, von denen in der Stuttgarter Ausstellung einige bewundert werden können.

Die Kraft und die Wucht gegenständlicher Malerei kommen vor allem in den Gemälden von Georg Baselitz, die beherrschend im Eingangsbereich der Stuttgarter Ausstellung platziert sind, zum Ausdruck. Großformatige Ölbilder wie „Große Nacht im Eimer“, „Hommage ŕ Wrubel“ oder „Geschlecht mit Klößen“ rücken neben der Körperlichkeit des männlichen Akts insbesondere dessen Gemächt in den Fokus. Ölgemälde wie „Versperrter Maler“, „Vorwärts Wind“ oder „Der Baum“ zeigen den Künstler in diesen kryptischen Selbstporträts in der Pose des Schmerzensmannes oder eines Märtyrers wie etwa des hl. Sebastian. Auf dem Kopf stehende bzw. umgekehrt hängende großformatige Halbfigurenporträts oder das Ölgemälde „Der Wald auf dem Kopf“ des 1938 in Deutschbaselitz (wovon sich auch sein Künstlername herleitet) geborenen deutschen Malers, Bildhauers und Grafikers faszinieren den Betrachter heute immer noch wie zur Zeit ihrer Vollendung vor exakt fünfzig Jahren.

Die Stuttgarter Ausstellung, die dann von Mitte September bis zum Ende dieses Jahres auch in den Deichtorhallen Hamburg bewundert werden kann, wird von einem lesens- und sehenswerten Katalog begleitet, in dem neben Reproduktionen zahlreicher Bilder außerdem umfangreiche Gespräche des Kurators Götz Adriani mit den noch lebenden Künstlern Baselitz, Kiefer und Richter enthalten sind und in den auch ein persönlich gehaltener Text Adrianis über den vor neun Jahren verstorbenen Sigmar Polke aufgenommen ist.

Wer sich an der Kraft gegenständlicher moderner Kunst weiter erfreuen will, kann in der Stuttgarter Staatsgalerie zudem noch Gemälde, Zeichnungen, Aquarelle und Druckgrafiken der österreichischen Malerin und Medienkünstlerin Maria Lassnig (1919-2014) aus der Sammlung Klewan bewundern (noch bis 28. Juli) sowie dort außerdem das Bild „Love is in the Bin“ von Banksy auf sich wirken lassen, das dadurch berühmt wurde, dass es sich bei einer Auktion im vergangenen Oktober selbst zur Hälfte schredderte und sich in diesem Akt der Selbstzerstörung gleichsam in ein neues Kunstwerk verwandelte.