Die Muttersprache als grundlegendes Ärgernis

Emil Cioran im Spannungsfeld der Sprachen Rumänisch, Deutsch und Französisch

Dass George Gutu im Österreichischen Literaturarchiv 158 von Cioran in deutscher Sprache verfasste Briefe entdeckte, diese ins Rumänische übersetzte und dann die von ihm mit einem Vorwort versehene und sorgfältig adnotierte rumänische Fassung 2009 im Bukarester Humanitas Verlag veröffentlichte, machte mit gutem Grund Schlagzeilen. Vieles dreht sich in Rumäniens anspruchsvolleren Kreisen um „unseren“ Cioran, wiewohl dieser für seine Landsleute strenggenommen gar nicht so viel übrig hatte, nachdem er sich sozusagen zum waschechten Franzosen entwickelte. Als wichtigen Fund, mehr, als wahrhaften Schatz weist der Klappentext der Humanitas-Ausgabe die an Wolfgang Kraus addressierten Briefe aus, und Professor Gutu wurde in den Medien geradezu als literarischer Detektiv gehandelt, nachdem die geretteten Briefe in jener Sprache erschienen, der ihr Verfasser eigentlich entsagen, ja entkommen wollte.

Zwei Jahre später, zu seinem Hundertsten, sollten in Deutschland Ciorans „braune“ Texte erscheinen, die bisher selten zur Diskussion rund um den großen Stilisten der französischen Sprache herangezogen wurden. Seine Bewunderung für Hitler, seine enthusiastische Bejahung der Nacht der langen Messer, ja der faschistischen und NAZI-Propaganda überhaupt und sein damaliges unbedingtes Engagement für die antisemitische Eiserne Garde waren zwar auch bisher an sich bekannt, wurden jedoch weitgehend als eine längst überwundene frühe Phase abgetan, die nur derjenige angemessen nachvollziehen kann, der in jenen Jahren rechtsradikaler Verführung mit dabei war. Kritische Hinterfragung? Unerwünscht.

Anders als in Rumänien wird der frühe Cioran jetzt im deuschen Sprachraum zunehmend zum Thema. „Hurra, wir sind eine Diktatur. Wie der Schriftsteller und Philosoph Emil M. Cioran die Nazis feierte“, schreibt etwa Adam Soboczynski im Feuilleton der ZEIT, wobei es Karl-Markus Gauß in der „Neuen Zürcher Zeitung“ („Düstere Verzückung. Vor hundert Jahren wurde der Philosoph und Schriftsteller Emil Cioran geboren”) nicht so sehr auf Cioran selbst, sondern auf dessen Anhänger abgesehen hat: auf die „zahlreichen schwätzenden Misanthropen”. Die Cioran-Frage bei Gauß: Spricht im alten Cioran nicht etwa doch noch der junge mit? Und: Wie weit gehen Cioran und das oft einseitig vermarktete Cioran-Bild auseinander? „Seine Adepten orientierten sich an dem, was sie für seine düstere Lebenslehre hielten; an seiner Sprache, die ihnen abging, konnten sie sich nicht orientieren.“

Im Folgenden soll aus dieser Überelegung heraus und unter impliziter Berücksichtigung der Cioran-Rezeption (beziehungsweise der Gestaltung der Cioran-Rezeption) in erster Linie das Sprachliche erörtert werden, genauer: Ciorans Verhältnis zur deutschen Sprache – und das heißt wohl auch: Ciorans Verhältnis zur rumänischen Sprache bzw. zur französischen Sprache. Anders als bei Elias Canetti, als dessen Gegenbild Emil Cioran machmal aufgefasst wird, gibt es nämlich bei diesem keine gerettete Zunge als Metapher schmerzhaft erworbener kommunikativer Kompetenz, sondern vielmehr ein verhängnisvolles linguistisches Risiko, eine Störung, einen Nachteil, ein grundlegendes Ärgernis: die Muttersprache. Das übergeordnete Ärgernis? Auf die Welt gekommen zu sein.

„Rumänisch zu sprechen ist für mich eine literarische Todesgefahr. Ich kenne niemanden, der so vollständig mit seiner Muttersprache (ab)gebrochen hat wie ich. Ein totaler Bruch mit der Vergangenheit.“ (Brief Nr. 62/14.9.1975) Die Hinwendung vom Rumänischen zum Französischen, der „totale Bruch“ mit dem Alten, die vorzügliche Meisterung des Neuen machen mehr als nur ein wesentliches Merkmal seines Selbstverständnisses als Schriftsteller und Denker aus. Und doch: Der aufbegehrende Pfarrerssohn aus Rãsinari, einem Kaff am Rande der verfallenden Doppelmonarchie (und dann inmitten eines groß gewordenen Königreichs mit einer klein anmutenden Kultur), der aus seiner sprachlichen Umgebung Reißaus nimmt, bleibt letztendlich in ihr gefangen. Emil Cioran war im Deutschen sehr viel rumänischer, als ihm wohl lieb war: So bringt es Gu]u in seiner Einleitung zu den im Österreichischen Literaturarchiv aufgefundenen Briefen treffend auf den Punkt.

Ein Schock, oder doch wenig-stens eine Überraschung: Cioran, von dem es immer geheißen hatte, er sei des Deutschen mächtig gewesen, war in Wirklichkeit offensichtlich in Goethes (und Heideggers) Sprache keinswegs zu Hause. In der Vorstellung seines berühmten, kurz nach der Wende geführten und ausgestrahlten Cioran-Interviews gibt Liiceanu an, er habe sich mit Cioran vorher auf Deutsch unterhalten und habe sich dabei von dessen überaus niveauvollen Sprachkenntnissen überzeugen können (worin freilich auch ein klein bisschen Selbstlob mitschwingt). Denn das Interview selbst erfolgte zwar auf Rumänisch, war jedoch im Zeichen einer unbescheiden angedeuteten, gleichsam nur so in den Raum gestellten Dreisprachigkeit inszeniert worden, die in Rumänien in Intellektuellenkreisen zum guten Ton gehört. Rumänisch-Deutsch-Französich (und ein bisschen Ungarisch kann auch nicht schaden).

Zwischen dem – allerdings nicht von Cioran selbst – jahrzehntelang nachhaltig projizierten Bild seiner angeblich hochgradigen Sprachkompetenz im Deutschen und der durch die hierin angesprochene Entdeckung des Literaturwissenschaftlers George Gutu sichtbar gewordenen Realität geradezu schülerhafter Bemühungen um einen korrekten Satzbau, um Deklination und Konjugation, ja manchmal um den Sinn der in den Briefen verwendeten deutschen Begriffe, wird nun ein Cioran in den Mittelpunkt der öffentlichen Betrachtungen gerückt, bei dem schon die reine Formulierung eines einfachen Satzes in deutscher Sprache eine wahrhafte Zumutung darstellt. „Es gibt viele Jahre, seitdem wir uns nicht mehr geschrieben haben.” (Brief Nr. 158/27.10.1990) Hinter dieser Formulierung steckt offensichtlich der Franzose. Und hinter anderen derartigen Rutschstellen steckt eben der Rumäne. Eine geplante Suhrkamp-Ausgabe der Korrespondenz soll in dieser Hinsicht bald – über die paar unter www.e-scoala.ro/germana/gutu_briefe.html abrufbaren Briefe und die in Bergels Rezension vorliegenden Originalzitate hinaus – Aufschluss geben.

Die exzellente Beherrschung des Deutschen? Das erhabene, auf gut Deutsch geführte Gespräch mit Liiceanu? Die (von Cioran jedenfalls verkündete, doch kaum geglückte) totale Abwendung vom Rumänischen? Das aus philisophischem Gedankengut abgeleitete, unmittelbare, authentische Spracherlebnis rund um die zentralen Begriffe in der „Zirkulation der Ideen”? Lauter Mythen? Für diese einfachen Fragen gibt es bestimmt recht komplizierte Antworten.

Mit großzügiger Nachsicht bedankt sich Gutu bei den Mitarbeitern des Humanitas Verlags für das, was er aufmerksame Lektüre seiner Übersetzung und angebrachte Verbesserungsvorschläge nennt. Auf der allerersten Seite seiner Einleitung hat sich freilich der auf einer Liste angeführte Name Max Brod versehentlich schon auf der nächsten Zeile ein zweites Mal in dieselbe Liste eingeschlichen – irgendwann während des langen Weges vom Übersetzer zur Druckerei. Und auch sonst hätte der Verlag bisweilen ruhig wachsamer sein können.

Lost and found: Im Jahre 2009, als Gutu die von ihm übersetzten Briefe des Stilisten veröffentlichte, erschien bei der Indiana University Press in Bloomington Ilinca Zarifopol-Johnstons „Searching for Cioran“. Da ist er ja! scheint der Bukarester Germanist mit Detektivlupe zu sagen. Hinter den Zeilen. Gleich da. Und Cioran steckt in der Tat wenigstens zum Teil gewiss in seiner Post an den umstrittenen Gründer der Österreichischen Gesellschaft für Literatur. Die Suche hört aber nicht bei den geretteten Briefen auf, sondern zeitigt irgendwie erneut – aus halben Tönen und schalkhaftem Kichern und mal dreistem, mal verlegenem Umformulieren des Unsagbaren – einst noch so durch und durch zeitgemäße Fragen, die heutzutage freilich ein bisschen abgestaubt werden müssen: Wozu ist der Mensch da? Wieviel wiegt sein Stil? Was vermag seine Sprache?