Die sanfte Gewalt

Wort zum Sonntag

Ein Sprichwort sagt: „Des Menschen Wille ist sein Himmel reich!“ Geht alles nach unserem Willen, dann ist der Himmel unseres Gemütes heiter und sonnig. Läuft aber etwas gegen unseren Willen, dann bedecken ihn dunkle Gewitterwolken. Die Blitze unseres Zornes zucken nieder und das Donnergrollen unserer Streitworte nimmt kein Ende.

Natürlich können wir unseren Willen nicht immer durchsetzen. Es stellen sich ihm oft große Hindernisse in den Weg – nicht zuletzt der Wille anderer Menschen. Da greifen viele zur Gewalt, um den eigenen Willen durchzusetzen, sei es in der Gesellschaft, sei es in der eigenen Familie. Rücksichtslos wird versucht, den Widerstand der anderen zu brechen. Wir werden, wenn wir uns stark fühlen, leicht zu Tyrannen. Seien wir aufrichtig: Wir sind lieber Hammer statt Amboss! Wir schlagen lieber zu, als Schläge einzustecken. In der Rolle des Hammers mag es uns manchmal gelingen, den Widerstand der anderen zu brechen, doch der Preis ist hoch. Es werden das gute Einvernehmen und der Friede zertrümmert. Leute, die nur den Hammer schwingen wollen, sind als Friedensstifter ungeeignet. Dazu wird eine ganz andere Qualität verlangt, nämlich die „Sanftmut!“ Christus preist die Sanftmütigen selig: „Selig, die keine Gewalt anwenden!“ Das scheint uns auf den ersten Blick eine Fehleinschätzung zu sein. Aber überlegen wir einmal: Selten brauchen wir im täglichen Leben etwas so notwendig wie diese geistige Qualität. Sie hilft uns, Feindschaften zu vermeiden und erspart uns viele bittere Stunden.
Ein Vergleich veranschaulicht uns diese Wahrheit. In einer Fabrik befinden sich viele Maschinen. Manche haben riesige Räder, die sich mit größter Geschwindigkeit, aber trotzdem lautlos drehen. Die blitzblanken Kolben bewegen sich ohne Lärm auf und nieder. Wieso? Auf den rotierenden Wellen sind kleine Büchsen angebracht, die mit einem Deckel verschlossen sind. Sie haben eine äußerst wichtige Aufgabe. Wenn sie nicht wären, würden in wenigen Minuten die Räder und Wellen zu rauchen beginnen, in Stücke zerspringen und die an der Maschine arbeitenden Menschen gefährden. In diesen Büchsen ist nämlich Öl. Dieses Öl schmiert die Wellen und Räder, dass diese nicht heißlaufen. So unglaublich es scheint, so wahr ist es: Von diesem Öl in den Schmierbüchsen hängt der Bestand der Maschinen, ja der ganzen Fabrik ab.

Genau so ist es mit uns. Wir müssen uns täglich mit den Fehlern und Schwächen unserer Mitmenschen herumbalgen, wir reiben uns so oft aneinander, wir werden heiß, aufgeregt, aufgebracht. Wir werden zum zerstörenden Hammer, der die Freundschaft, das gute Einvernehmen, den Frieden zertrümmert. Das geschieht aber nur dann, wenn uns das Öl der Sanftmut fehlt. Wie für die Maschinen das Schmieröl notwendig ist, so ist für uns – wollen wir miteinander gut auskommen – die Tugend der Sanftmut notwendig.

Mit der Sanftheit sind wir bei anderen Menschen viel erfolgreicher als mit  Gewalt. Rohe Gewalt kann Menschennacken beugen, Sanftheit aber gewinnt Menschenherzen.

Der Frankenkönig Klodwig war ein roher Klotz. Gegen seine Feinde kannte er keine Rücksicht. Mit Schwert und Gift suchte er sie zu beseitigen. Seine Frau war die sanfte Klothilde. Man fragte sie, wie sie es mit diesem rohen Gatten aushalten könne. Sie erwiderte: „Meinen eigenen Willen habe ich im Elternhaus gelassen!“ War sie dadurch die willenlose Sklavin ihres Mannes geworden? Keineswegs. Ihre „sanfte Gewalt“ bezwang den rohen Kraftmenschen. Sie brachte ihn so weit, dass er dem Heidentum abschwor und die Taufe empfing. Zuletzt bekannte der sieggewohnte König: „Klodwig hat alle seine Feinde bezwungen, Klothilde aber hat Klodwig besiegt!“ Er hat seine Feinde mit Waffen niedergerungen, sie hat ihn mit Sanftmut bezwungen.
Auch wir haben diese sanfte Gewalt so notwendig wie das tägliche Brot. Worauf beruht sie? Wenn man gelbe und blaue Farbe miteinander mischt, erhält man grüne Farbe. Auch die Sanftmut ist eine Mischung aus zwei anderen Tugenden: eine Mischung aus Demut und Liebe! Demut heißt, sich nicht überschätzen, sich nicht für einen Besserwisser und Alleskönner halten. Dadurch vermeidet man drei üble Folgen: Man schlüpft nicht in die Rolle des sich für unfehlbar haltenden Lehrmeisters, spielt nicht den Tyrannen mit dem Hammer in der Hand, und auch nicht den Richter, der über die anderen den Stab bricht. Liebe aber sieht im anderen den gleichwertigen Menschen und umgibt ihn mit Sympathie. Die Mischung dieser beiden Tugenden ergibt die für uns so notwendige Sanftmut.

Ein Sprichwort sagt: „Mit einem Tropfen Honig fängt man mehr Fliegen als mit einem Fass Essig“. Mit einem sanften Wort erreichen wir bei anderen Menschen mehr als mit einem Stunden lagen Wortschwall der Streitlust. Nur das Öl der Sanftmut kann die täglichen Reibereien, die zwischen uns entstehen, neutralisieren.

Beherzigen wir das Wort Christi, das diese so ungemein wirksame geistige Kraft beinhaltet: „Selig die Sanftmütigen!“