Die Sonne wird verspielt

Aus: „Schach historisch. Abenteuer rund ums Schachbrett vor langer Zeit“

Aztekisches Schachbrett | Foto: der Verfasser

Südamerika, 16. Jahrhundert, nach den Tagebuchaufzeichnungen eines katholischen Geistlichen, ins Deutsche übersetzt von Peter Krystufek: Der Sonnentempel von Cuzco war das größte Heiligtum der Peruaner. Er stand mitten in der Stadt, war umgeben von zahlreichen Gebäuden und eingeschlossen von Quadermauern, deren Steine fugenlos (!) aneinandergefügt waren. Die Westwand des riesigen Tempelsaales wurde vom Abbild der höchsten Gottheit eingenommen: der Mutter Sonne. Dieses Sonnenbildnis war das schönste und größte im Lande gewesen. Die Scheibe aus massivem Gold maß mehrere Meter im Durchmesser und hatte ein Gewicht, dass sechs Männer nötig gewesen wären, um sie zu heben! Die Scheibe war mit Smaragden und anderen Edelsteinen besetzt. Detailliertere Beschreibungen lassen sich in den Büchern des Schweizer Bestseller-Autors Erich von Däniken finden. Das Ende des goldenen Sonnentempels „Coricancha“ kam 1534: die spanischen Eroberer stürzten die mächtige Sonnenscheibe.

Mit der Sonnenfigur lag sie auf dem Schutt des Bodens. Viele Kunstwerke wurden einfach zertrampelt. Nicht so ein silbernes Schachbrett mit Figuren aus Halbedelsteinen – denn dieses erschien den spanischen Soldaten noch als brauchbar.

Angetrunken trugen die Spanier die Sonnenscheibe auf den Marktplatz und warfen sie dort nach oben auf einen Haufen Kunstwerke, der aus goldenen Schüsseln, Tellern, Bechern, Platten, Ringen usw. bestand.

Unter dem Deckmantel einer Feier fand die Verteilung der Beute statt. Wie immer erhielt die Reiterei doppelt so viel wie das Fußvolk. Der Goldschatz (oder besser gesagt: einer der Schätze) der Inkas zerfloss – kostbarste Stücke wurden nach Gewicht und Gutdünken den Soldaten zugeschlagen. Der Reiter Leguizano erhielt die große Sonnenscheibe, Léon (unter anderem) das herrliche Schachbrett mit den 32 Figuren. Pizarro bestätigte diese Verteilung.

Kameraden halfen Leguizano beim „Wegtragen“ der Sonnenscheibe: sie stellten die Riesenscheibe auf die Kante und rollten sie mitten durch die Volksmenge! Allein das Gold dieser höchsten „Gottheit“ entsprach einem Riesenvermögen. Ihr wirklicher Wert konnte bis heute nicht exakt eingeschätzt werden. Das einfache Volk hatte sie nie zu Gesicht bekommen, denn es hatte die Innenräume des Tempels nie betreten dürfen!

Bald darauf ging die bei solchen Anlässen übliche und geduldete Sauferei in den Quartieren - ausgesuchten Fürstenvillen – los: Die unersetzlichen Vicunadecken werden als Teppiche auf dem Boden ausgebreitet, und die Soldaten steigen mit ihren dreckigen Stiefeln da-rauf herum. Man wirft sich die königlichen Federmäntel um die Schultern und ärgert die Inka-Mädchen, die als „Dienerinnen“ zugeteilt worden waren. Wein und Maisbier fließen – und nicht nur den Hals hinunter. Gitarrenklänge aus der Heimat ertönen.

Hart schlagen die Becher mit den Würfeln auf die zarten Marmortischplatten auf... Das Spieler-Glück wogte hin und her. Unermessliche Vermögen wurden rüber und nüber geschoben: Goldbarren, Armbänder, Gewänder, Perlen, Sandalen und Blumen (aus Gold) usw. Vieles fiel zu Boden, kullerte zwischen die Füße der Angetrunkenen...

Blau, wie er war, forderte Léon, der Besitzer des Schmuck-Schachspiels, Leguizano zu einem (später historischen) Duell auf den 64 schwarz-weißen Feldern auf: als Einsatz die Gottheit „Sonnenscheibe“!

Auch Leguizano soll zu diesem Zeitpunkt bereits schwer betrunken gewesen sein.

Aber er bechert weiter und schiebt seine Schachfiguren übers Brett, als sei er ein Großmeister. Eine Notation dieser Partie konnte in diesem Treiben natürlich nicht mitgeschrieben werden. Mit einer einzigen Partie verspielte Leguizano die goldene Sonnenscheibe der Coricancha! Ein paar Schachfiguren und wirre Züge hatten Perus größtes Heiligtum besiegt. Leguizano begriff den Verlust nicht mehr. Er soll so betrunken gewesen sein, dass er nur noch lallen hatte können. Seine Kriegskameraden, sofern sie noch halbnüchtern waren, lachten ihn aus und verspotteten ihn. Nackte Inka-Mädchen wurden auf die heilige Sonnenscheibe gesetzt und mit Wein übergossen.

Und nur, weil ein katholischer Geistlicher in diesem historischen Augenblick fröhlich mitgefeiert und später seinen Bericht darüber verfasst hatte, ging Leguizano in die spanische Geschichte ein als der Soldat, „der die Sonne verspielt habe, ehe sie aufgegangen sei“. (Zitat)

Das dicke Ende kam jedoch noch:

Die Sonnenscheibe selbst blieb seit jenem Gelage verschwunden! Sie kam bis heute nicht mehr zum Vorschein.

Der Konquistador Franzisco Pizarro (1475-1541), dem es sonst gleichgültig war, wie die Soldaten mit ihrem Goldanteil umgingen, musste in diesem Fall doch das Ansehen der spanischen Krone wahren: Ergebnislos wurden die Soldatenquartiere durchsucht, ebenso die Keller angrenzender Paläste, auch die Inka-Mädchen, die bei der Sauferei während der Schachpartie zugeschaut hatten, wurden scharf verhört und gefoltert – aber vergebens: die Sonnenscheibe blieb verschwunden.

Erst spätere Aufzeichnungen sollen ergeben haben, dass die Scheibe von den Inkas in eine Höhle geschleppt worden sei, welche man bis heute nicht hatte wiederentdecken können. Und das berühmte Schachbrett von damals scheint (oder will?) heute auch keiner mehr zu besitzen...