Die vergessenen Erinnerungen unserer deportierten Großeltern

Kranzniederlegung an der Gedenktafel der Russlanddeportierten im Kirchhof im Jahr 2022 | Foto: Gabriela Rist

Russlanddeportierte aus Erdeed. Die Oma von Hanna Miculas in der oberen Reihe die erste von links: Meier Margareta (geb. Braun)

In den vergangenen Tagen fand in Großkarol/Carei die Gedenkfeier der 1945 nach Russland deportierten Schwaben statt. Während ich die öffentliche Einladung zur Veranstaltung für die Facebook-Seite des Deutschen Forums in Großkarol verfasste, habe ich mir sehr viele Gedanken darüber gemacht, wie ich die Kranzniederlegung und das ganze Thema so präsentieren könnte, damit so viele Menschen wie möglich daran teilnehmen. Mich kurz zu fassen, ist es mir nicht gelungen. Denn, wenn man irgendwo „Kranzniederlegung“ liest, scrollt man schnell weiter, denn man findet nichts dabei, was einen interessieren könnte: Menschen, die man kaum kennt, legen zur Erinnerung an andere Menschen, die man gar nicht gekannt hat, Kränze nieder. Jemand sagt ein paar Worte, es werden Lieder gesungen – wieso sollte ich dabei sein, wieso sollte ich mein Kind oder meine Eltern mitnehmen? Ich versuche es aus meiner Sicht zu erklären, warum das wichtig ist.

Ich habe mal gelesen, dass wir in drei Generationen vergessen sein werden. Für mich ist diese Aussage mehr als glaubhaft, denn ich weiß kaum, wie das Leben meiner Großeltern und in etwa überhaupt nicht, wie das von deren Eltern war. Ich kenne zwar kaum jemanden, der nicht über einen alten Verwandten erzählen kann, der damals nach Russland deportiert wurde, aber leider schwinden die Details. Wir wissen noch, dass die Deportation der Sathmarer Schwaben nach dem zweiten Weltkrieg geschah – natürlich, die Zwangsarbeit, die Deutschland der Sowjetunion schuldete – aber wann genau meine Oma als 19-Jährige ins Kulturgebäude in Erdeed/Ardud zur Volkszählung einberufen wurde, und erst wieder nach dreieinhalb Jahren wieder nach Hause durfte, weiß ich nicht mehr... Jetzt, mit fast 40 Jahren treibt es mir Tränen in die Augen, dass ich als Kind und Jugendliche nicht die Tiefe in Omas Erzählungen über Russland erkennen konnte.

Als Kinder fanden wir es immer witzig, dass bei Besuch die ersten Worte der Oma immer waren „Ich war nach Russland deportiert worden“. Wir konnten uns nicht erklären, wieso sie einfach nicht von dem Thema loskommen konnte. Es waren Jahrzehnte seitdem vergangen, wieso erzählte sie immer wieder dieselben Geschichten, die herzzerreißend waren, gegen die wir aber zwischenzeitlich schon „immun“ waren? Immer wieder erzählte sie, wie sie erfuhr dass ihr Bruder gestorben war und der „Lityinant“ sie nicht zu ihm gehen ließ, oder wie sie an Typhus erkrankt war und welche ihrer Bekannten aus Erdeed daran gestorben sind, und noch viele Geschichten, an die sich nur meine Geschwister und Cousinen erinnern, weil sie damals schon älter waren. Ihnen erzählte sie auch persönlichere Geschichten, wie die Wärter den Mädels in der Baracke den Hof machten und, dass einer ihr gesagt hätte, sie habe die schönsten Beine der Welt.

Man denkt nicht oft daran, wie unsere Groß- oder Urgroßeltern gelebt haben. Aber wenn man zum Beispiel zu einer Kranzniederlegung mit dem eigenen Kind, und/oder mit den Eltern geht, ist es sehr wahrscheinlich, dass nachher um den Sonntagstisch ein paar alte „staubige“ Familiengeschichten erzählt werden, wie die des 17-jährigen Mädchens (der Großtante aus Terem), die wegen der zu großen Stiefel des Vaters – die ihre Familie ihr im letzten Moment vor dem Losmaschieren zum Zug, der sie nach Russland bringen sollte, zustecken konnte, damit ihre Füße nicht erfrieren – stehenbleiben musste, um die Schnürsenkel enger zu schnüren. Sie ist dadurch zurückgeblieben, und als sie die Gruppe wieder eingeholt hat, hat einer der russischen Soldaten versucht, sie mit seiner Waffe zu schlagen und zu vertreiben, damit sie sich der Gruppe nicht wieder anschließe. Sie aber, das siebzehnjährige Kind, bestand darauf und beteuerte, dass sie der Gruppe angehöre und dass sie mitgehen müsse. So wurde die Großtante aus Terem deportiert und verbrachte fünf lange Jahre in Russland.

So viele Erinnerungen, so viel Ausdauer, so viel Lebenswille dieser außerordentlichen Menschen, die langsam dahinschwinden und mit denen auch ein wichtiger Teil unserer Vergangenheit verlorengeht. Aus diesem Grund bitte ich, diese Geschichten aufzuschreiben oder diese in der Familie immer wieder zu erzählen, damit sie nicht gänzlich in Vergessenheit geraten, denn die Geschichtsbücher werden unseren Nachkommen die vergessenen Erinnerungen unserer deportierten Großeltern nie erzählen...