Die Vorherrschaft nationaler Identitäten

Dr. Edit Szegedi über Minderheiten in Rumänien und Nationen in Europa

Siebenbürgen ist eine historisch entwickelte Region in Europa, die sich trotz verschiedener Homogenisierungsbemühungen durch große ethnische Vielfalt auszeichnet. Gerade deswegen ruft sie, im Zusammenhang mit der Untersuchung von Identitätsbewusstsein, bei einigen Wissenschaftlern großes Interesse hervor. Ethnische Herkunft und Identität spielen nicht zuletzt für friedliches Zusammenleben in einer durch Globalisierung und Heterogenität geprägten modernen Gesellschaft eine entscheidende Rolle. 

Eine Wissenschaftlerin, die sich der Erforschung dieses Themenkomplexes verschrieben hat, ist Dr. Edit Szegedi an der Fakultät für Europäische Studien der Babes-Bolyai Universität Klausenburg/Cluj-Napoca. Sie wuchs dreisprachig, als Tochter einer ungarischen Mutter und eines sächsischen Vaters, in Siebenbürgen auf. Nach dem Besuch der Honterus-Schule in Kronstadt studierte sie Geschichte und Philosophie in Klausenburg. Ihre Dissertation im Jahr 2001, wie auch ihre wissenschaftliche Arbeit in den Folgejahren drehten sich um ihre Heimat Siebenbürgen. Edit Szegedi gilt als Kennerin siebenbürgischer Historiografie und Landeskunde und gab durch ihre Antworten interessante Einblicke in das Zusammenspiel von Region und Nation. Die Fragen stellte Johann Wolfschwenger.


Frau Szegedi, woran forschen Sie gerade?

Mein „großes Thema“ ist seit einigen Jahren die Herausbildung konfessioneller Identitäten in Siebenbürgen. Weil dieses Thema für die Fakultät jedoch zu speziell ist, habe ich einen „Nebenweg“ eröffnet und ein Thema vertieft, das sich gut mit Studenten behandeln lässt und zugleich meinen Forschungshorizont erweitert, und zwar die Jakobinerdiktatur. Dieses eine Jahr der Französischen Revolution hat die Diktaturen des 20. Jahrhunderts vorweggenommen, während der Jakobinismus die Staats- und Nationsauffassung bis auf den heutigen Tag prägt.


Sie haben sich in ihrer akademischen Laufbahn intensiv mit den Siebenbürger Sachsen beschäftigt. Die bezeichnen sich als rumänische Staatsbürger deutscher Ethnie. Anders gesagt, als Deutsche mit rumänischer Staatsbürgerschaft. Worin liegt der Unterschied zwischen Ethnie und Staatsbürgerschaft?

Siebenbürgisch-Sächsisch konnte im Laufe der Geschichte verschiedenartiges bezeichnen. Wenn ich zynisch sein wollte, würde ich sagen, dass es heute vor allem deutsche Staatsbürger deutscher Ethnie bedeutet. Ursprünglich ging es um einen Landstand, in Siebenbürgen „natio“/Natio genannt, erst mit der Auflösung des Ständesystems werden die Siebenbürger Sachsen zu einer Nationalität, d. h. zu einer Minderheit. Das Problem besteht darin, dass das Verständnis des 19. Jahrhunderts in das Mittelalter und in die Frühneuzeit rückprojiziert wird, sodass der Landstand der Sachsen immer noch als Ethnie begriffen wird. Das Ethnische hat zweifellos eine Rolle gespielt, doch gab es eine andere Priorität der Kriterien.

Jenseits der Definitionen, die in jedem Lexikon zu finden sind, haben Ethnie und Staatsbürgerschaft eines gemeinsam: Sie sind Konstruktionen. Auch wenn man die Staatsbürgerschaft von Geburt aus erhält, ist sie nichts „Natürliches“, wie etwa das biologische Geschlecht, abgesehen davon, dass sie in vielen Fällen erworben wird, d. h. sie ist das Ergebnis einer individuellen Entscheidung. Staatsbürgerschaft kann entzogen werden, man kann sie verlieren, und das ohne den eigenen Beitrag. Ethnie ist in viel größerem Maße eine Konstruktion – man wird nicht mit einer Ethnie geboren, man erwirbt sie infolge der Erziehung, d. h. man wird sich ihrer bewusst und bekennt sich zu ihr oder auch nicht.


Was ist die Identität? Die Zusammensetzung aus beiden?

Über Identität wurde sehr viel geschrieben und es gibt nicht nur eine Definition der Identität. Vereinfachend kann Identität die Gesamtheit aller Kennzeichen bezeichnen, die ein Individuum oder eine Gruppe von anderen unterscheidet und gleichzeitig dem Individuum aufgrund der Ähnlichkeit die Integration in die Gruppe und der Gruppe ihrerseits den inneren Zusammenhalt ermöglicht. Identität ist deshalb komplexer als das Zusammenspiel zweier Elemente. Ethnie und Staatsbürgerschaft können Elemente einer Identität sein, die sich überlagern, ausschließen oder fast beziehungslos nebeneinander bestehen können. Im Idealfall bestehen sie nebeneinander, weil sie verschiedene Dimensionen bezeichnen und das Ergebnis freier Entscheidung sind. Im schlimmsten Fall schließen sich Ethnie und Staatsbürgerschaft infolge politischer Entscheidungen aus – das bekannteste Beispiel ist das der Juden im nationalsozialistischen Deutschland.


Mehrere Identitäten sollten also nebeneinander bestehen können. Was macht die verschiedenen Identitäten dann zu einer Nation?

Nationen sind ebenfalls Konstruktionen, egal wie man sie definiert. Nation und Staat sind künstliche Gebilde, wie alles Menschliche überhaupt, was nicht abwertend gemeint ist. Die Wahrnehmung macht die Nation zur Nation, zur „imagined community“. Jenseits aller Definitionen funktioniert eine Nation nur dann, wenn sich die Individuen zu ihr bekennen, z. B. durch die Achtung der nationalen Symbole.


Mit welchen Mitteln konstruiert ein Staat diese nationale Wahrnehmung bzw. ein Nationalgefühl?

Wenn wir die Entstehung der modernen Nationen, zumindest in Europa, näher betrachten, dann stellen wir fest, dass Nationen im Laufe der Zeit nicht im Brandtschen Sinn (Willy Brandt, ehemaliger deutscher Bundeskanzler, Anm. d. Red.) „zusammengewachsen“ sind, sondern dass sie ursprünglich Zwangsgemeinschaften waren, die zu Solidargemeinschaften uminterpretiert wurden. Weder in West- noch in Osteuropa sind die Nationen im Zeichen der Geduld und Sanftmut entstanden und Freiwilligkeit war selten gefragt. Die Durchsetzung dieser einen normativen Identität hatte sich auch auf die Vergangenheit erstreckt, das Bild der Vergangenheit wurde von dieser vereinfachenden teleologischen Sicht in Beschlag genommen und diese instrumentalisierte Vergangenheit zur gemeinsamen Erinnerung verklärt. Es ist das, was ich in einer Vorlesung „Nationalgeschichte als kastrierte Geschichte“ genannt habe.

Schule, Armee, oft auch die Kirchen haben mit großem Eifer zur Entstehung der nationalen und staatlichen Identität beigetragen, wobei sich dieser Beitrag oft darin äußerte, dass den Minderheiten das Minderwertigkeitsgefühl vermittelt wurde. Die nationale Identität ist auch heute nicht die Synthese mehrerer Identitäten, sondern die Vorherrschaft einer Identität, die im Laufe der Zeit als die einzig wahre und legitime internalisiert wurde.


In fast allen Ländern Europas gibt und gab es Regionen, in denen sich eine signifikante Anzahl der Bewohner vom Nationalstaat abspalten will. Die Basken in Spanien, die Südtiroler, am Balkan sind vor Kurzem zwei neue Staaten entstanden. Regionale Identitäten: Gefahr oder Bereicherung für den Nationalstaat?

Inwieweit eine Region eine Bereicherung oder Gefährdung für den Nationalstaat ist, hängt nicht von der Region ab. Die meisten Regionen kamen eben nicht infolge von Volksbefragungen an die Nationalstaaten, sondern infolge von Eroberungen, Abtretungen usw. Die Bewohner der Regionen wurden also selten gefragt, es wurde über ihre Köpfe hinweg entschieden. Das Baskenland und Südtirol sind geradezu Schulbeispiele dafür. Dass regionale Identitäten als Gefahren wahrgenommen werden, hat auch mit der immer noch vorhandenen Besessenheit der Homogenität zu tun, mit der Illusion, dass die sprachlich-kulturelle Homogenität die Garantie der Funktionsfähigkeit von Staat und Gesellschaft sei. Wenn eine Region auch Zukunft haben will, und zwar nicht nur als folkloristisches Anhängsel der staatlich genehmigten nationalen Identität, dann gilt das als Gefahr für die Integrität des Staates. Demokratien denken da nicht wesentlich anders als Diktaturen. Gerade an diesem Punkt sieht man, wie kurzfristig die nationale Identität gedacht wurde.


Man spürt die Angst vor Autonomiebestrebungen der ungarischen Minderheit in Rumänien. Ist diese Angst berechtigt?

In Rumänien wird Autonomie mit Separatismus verwechselt. Problematisch ist aber auch der Ansatz der Autonomisten, denn anscheinend wissen sie auch nicht, was sie eigentlich wollen. Außerdem ist der Rückgriff auf die Geschichte auch nicht die intelligenteste Strategie, denn hier wird auf mehrfach gespaltene Erinnerungskulturen Bezug genommen. Solange in Rumänien der Staat um des Staates wegen existiert, solange der einheitliche Nationalstaat wie eine liturgische Formel heruntergeleiert wird, ist die Angst berechtigt, weil die Autonomie, egal in welcher Form, das absolutistisch-jakobinisch-nationalistisch-autoritäre Projekt des 19-20. Jahrhunderts gefährdet. Wird aber der Staat entzaubert und wird ein funktionierender Staat angestrebt, dann sollten die Autonomiebestrebungen als Anlass zur radikalen Dezentralisierung Rumäniens dienen, damit das Land nicht zur Republik Bukarest verkommt.

Andererseits: Warum fürchtet niemand die Abspaltung Olteniens, wo doch diese Region an der Grenze zu Serbien und Bulgarien liegt? Siebenbürgen liegt doch mitten im Land und grenzt nicht an andere Länder. Außerdem hat Siebenbürgen eine rumänische Mehrheit. Die Unzufriedenheit mit dem Bukarester Monopol wäre Grund zum Nachdenken.


Erlauben Sie mir eine persönlich Frage: Welche Identität haben Sie?

Die Volkszählung ist für mich eine schwierige Angelegenheit, weil ich immer das Gefühl habe, meine Eltern zu verraten, wenn ich mich konsequent der Kategorie von Ethnie und Muttersprache unterwerfe. Am leichtesten ist es noch mit der Konfession, ich bin nämlich reformiert. Ich definiere meine Identität regional, weil sie die einzige ist, die meiner Herkunft gerecht wird und die gleichzeitig dem täglichen Plebiszit im Sinne Renans (Ernest Renan in seiner berühmten Rede „Was ist eine Nation?“ an der Sorbonne in Paris 1882, Anm. d. Red.), allerdings in einer uminterpretierten Fassung, entspricht. Ich bin eine dreisprachige Siebenbürgerin. Somit stelle ich mich außerhalb der modernen nationalstaatlichen Kategorien. Meine Identität kann von den Volkszählungen nicht erfasst werden, weshalb ich Ethnie und Muttersprache immer voneinan-der abweichend angebe.


Sie sind dreisprachig aufgewachsen: Ungarisch, Deutsch und Rumänisch. Welche Rolle spielt die Mehrsprachigkeit oder eine Minderheitensprache oder einfach ein Dialekt für die Herausbildung einer regionalen Identität?

Das hängt von der Region ab. Siebenbürgen hat eine mehrsprachige Tradition, wobei die Mehrsprachigkeit von den Staaten, zu denen Siebenbürgen im Laufe der letzten 150 Jahre gehörte, nicht gerne gesehen wurde. Die Mehrsprachigkeit ist heute nur ein Schatten ihrer selbst. Nicht nur quantitativ ist sie verarmt, sondern auch weil mehrsprachige Individuen eher die Ausnahme bilden. Ungarn, die Rumänisch können, gibt es, trotz des vorherrschenden Stereotyps sehr viele (eigentlich die Mehrheit), Rumänen, die Ungarisch können, sind Exoten. Die Roma pflegen noch eine unbekümmerte Mehrsprachigkeit, aber sie gelten nicht als soziale Vorbilder.

Sprache(n) oder Dialekt(e) spielen aber eine wesentliche Rolle in der Herausbildung und Bewahrung regionaler Identitäten und bilden oft das kennzeichnende Merkmal der Region, als deren, allerdings nicht einzige, sinnlich wahrnehmbare Äußerung. Aber gerade dieser Aspekt galt und gilt noch als Fossil einer vergangenen Zeit, als Vehikel der Isolierung, der Einigelung, des Separatismus, des Tribalismus. Es ist unschwer, hinter dieser scheinbar wohlwollenden Haltung des Zentrums ein Gemisch von Paternalismus und Kolonialismus zu entdecken.


Lassen Sie uns zum Abschluss nur kurz über Europa sprechen. Sie betonen immer wieder die Heterogenität und das nationalstaatliche Denken seit dem 19. Jahrhundert. Wie ist das historisch zu erklären? 

Europa ist ein Kontinent, der von großer Vielfalt auf kleinster Fläche gekennzeichnet wird. Migration gehörte schon immer (es ist nicht metaphorisch zu verstehen!) zur Normalität Europas, auch wenn sie sich nicht so spektakulär äußerte wie zur Zeit der Völkerwanderung oder nach dem Zweiten Weltkrieg. Es gab und gibt weiterhin das Ideal und die Illusion der Homogenität, die als Garantie des guten Funktionierens von Staat und Gesellschaft betrachtet wurde und immer noch betrachtet wird.
Im Gefolge der Französischen Revolution, die, wie das Historiker schon im 19. Jahrhundert festgestellt haben, den absolutistischen Staat vollendet hat, wurde Gleichheit mit Gleichförmigkeit gleichgesetzt. Homogenität galt nun als Zeichen des Fortschritts, Heterogenität als feudaler Rest.


Wie würden sie die Europäisierung aus soziologischer Sicht im historischen Kontext bewerten? Kann die Histografie das Funktionieren einer europäischen Gesellschaft belegen, oder bleibt es Utopie?

Aus soziologischer Sicht kann ich das nicht bewerten, weil es nicht mein Fachgebiet ist. Historiker schreiben oft von „europäischer Gesellschaft“, beschränken diese aber auf Westeuropa. Es gab immer wieder Gemeinsamkeiten der europäischen Gesellschaften, aber das bedeutet keine Einheitlichkeit. Eine einheitliche europäische Gesellschaft ist eine gefährliche Utopie.